KAPITEL 16

Zum ersten Mal betrat ich das Besprechungszimmer, das dem Team für die Suche nach dem Prostituiertenmörder zur Verfügung gestellt worden war. Die ein Dutzend SOKO-Mitglieder, die seit zwei Jahren zusammenarbeiteten – zuerst in Manhattan und nun in Brooklyn -, pflegten nach all der Zeit einen kameradschaftlichen Umgang. Sie hatten sich an dem langen, den Raum dominierenden Tisch und an den beiden Arbeitsplatten an der Wand ausgebreitet. Überall standen Laptops, Drucker, Kaffeebecher und sogar ein paar Fotos von lächelnden Familienangehörigen. Angesichts der zahllosen bestürzenden Tatortfotos an der Wand und der Tatsache, dass diese Ermittlung kein Ende zu nehmen schien, wirkte die Atmosphäre auf mich fast ein bisschen zu normal. Der Gedanke, wie viele Polizisten auf die Gewalt reagierten, mit der sie Tag für Tag konfrontiert waren, behagte mir gar nicht. Auf der anderen Seite wusste ich aus eigener Erfahrung, dass man ein dickes Fell brauchte, um in diesem Job zu überleben. Man musste sich einreden, dass die Brutalität an einem abperlte, dass die eigene Familie einem Rückhalt bot. Ein Blick auf die Fotos mit den lächelnden Gesichtern genügte, um für einen Moment aus der grausamen Realität zu flüchten, mit der man im Job permanent konfrontiert war. Obwohl ich ihnen am liebsten klargemacht hätte, dass sie sich etwas vormachten, dass sich – wie ich am eigenen Leib erfahren hatte – niemand in Sicherheit wähnen konnte, sah ich davon ab, ihnen ihre Illusionen zu nehmen. Billy hingegen war längst über diesen Punkt hinaus. Sein Glaube an die eigene Unbezwingbarkeit hatte sich in dem Moment als Trugschluss erwiesen, als die Frau, die er liebte, versucht hatte, ihn zu töten.

La-a saß am hinteren Tischende vor einem Schreibtischcomputer. Mit diesem vermeintlich »sicheren« Rechner wurde hauptsächlich in passwortgeschützten Datenbanken recherchiert. Allem Anschein nach war La-a beim Friseur gewesen, und plötzlich fiel mir ein, dass heute Freitag war und sie seit Jahr und Tag an diesem Wochentag abends mit Freunden oder ihrer Familie ins Restaurant oder Kino ging.

Sie schaute vom Bildschirm auf und sah, dass ich hinter Billy, der mich in der Lobby abgeholt hatte, durch das Besprechungszimmer ging.

»Hallo, Karin!« Zur Abwechslung schwang in ihrer Begrüßung kein sarkastischer Unterton mit. Entweder fühlte sie sich schuldig, weil sie sich im 72. Revier mit George gegen Billy verschworen hatte, oder sie hatte ausnahmsweise mal keine Lust, mir auf die Nerven zu gehen.

Billy und ich gingen zu ihr hinüber. Wie sich herausstellte, durchsuchte sie gerade das VICAP, das Violent Criminal Apprehension Program. In dieser Datenbank speicherte das FBI alle Informationen über Gewaltverbrechen, damit Ermittler im ganzen Land schnell darauf zugreifen konnten. Ich selbst hatte das VICAP stundenlang nach dem Domino-Killer durchforstet, ohne zu ahnen, dass er in meinem Heim sein Unwesen trieb. Als könnte sie meine Gedanken lesen, klickte La-a schnell eine andere Registerkarte an und öffnete die Website von Zappos, einem Online-Modeshop.

»Falls ihr jetzt Mittagspause macht, würde ich mich euch anschließen«, sagte sie.

»Dauert noch einen Moment.« Billy schnappte sich einen Stuhl und setzte sich neben sie. »Darf ich mal ran?«

»Nur zu.« La-a gähnte und riss dabei den Mund so weit auf, dass man eine Goldkrone sehen konnte. »Ich komme eh nicht weiter.«

Ich stellte mich so hin, dass ich den Monitor besser sehen konnte, ließ mich jedoch von ein paar Fotos ablenken, auf denen Fußabdrücke auf Kies, Schnee, harter Erde und im Morast abgelichtet waren.

Billy, dem mein neugieriger Blick nicht entging, sagte: »Pats Abdrücke ... an fast allen Tatorten.«

»Konntet ihr ihm eine Verbindung nachweisen?«

»Ich hätte den Mund halten sollen.« Während wir sprachen, loggte Billy sich in die Criminal Records Section-Datenbank ein – kurz CRS genannt -, wo jeder polizeiliche Vorgang, egal ob Leibesvisitation, Verhaftung oder die Punkte im zentralen Verkehrsregister, dokumentiert wurde. Man musste nur einen Namen eingeben und dann warten, was das System ausspuckte. »Wie unser Täter hat er Schuhgröße 10. Mehr wissen wir nicht.«

»MR 1123.« La-a verdrehte die Augen. Ein paar der anderen Ermittler begannen zu kichern.

»Zu dumm, dass Pat auf ein topaktuelles Modell von einem angesagten Turnschuhhersteller steht«, erklärte Billy. »New Balance MR 1123. Die hat unser Täter an fünf von elf Tatorten ebenfalls getragen ... und manchmal Stiefel von Clarke’s.«

»Die Patty Scott nicht besitzt«, merkte La-a leicht frustriert an. Würde sie jetzt Billys Schuhe in Augenschein nehmen? Wie es aussah, ließ sie sich in meiner Gegenwart nicht dazu hinreißen. Da sie seit Ewigkeiten mit Billy zusammenarbeitete, hätte sie eigentlich wissen müssen, dass jemand von seiner Statur größere Füße als Patty Scott hatte.

»Das muss noch gar nichts heißen«, fand ich. »Was, wenn er sie in einem Schließfach am Busbahnhof deponiert hat? Oder -«

»Immer mit der Ruhe.« Billy warf mir einen erbosten Blick zu.

»Tut mir leid.«

»Keine Entschuldigungen«, mahnte La-a und rang sich ein Lächeln ab, »und keine Erklärungen. Von wem stammt der Spruch noch gleich?«

»Vom Duke.« Wir alle richteten den Blick auf einen Typen mit halber Glatze, die er mit schwarzen, quer über den Schädel gekämmten Haarsträhnen zu vertuschen suchte. Er saß auf der anderen Seite und nahm einen Schluck aus einem Styroporbecher.

»Von wem?«, fragte La-a nach.

»John Wayne«, antwortete eine junge Frau, die einen geblümten Doc-Martens-Stiefel auf die Tischkante stellte und neu schnürte.

»He, Leute«, meckerte La-a, »ihr hört jetzt auf, euch im Netz Filme anzusehen, und macht euch wieder an die Arbeit.«

»Aber sicher, Dash«, erwiderte die junge Frau gutgelaunt. »Als würden wir je etwas anderes machen.«

Ich setzte mich neben Billy und widerstand dem Impuls, mir die Maus zu schnappen. Immerhin tat er mir einen Gefallen, und ich wollte ihn nicht verprellen, indem ich den Bogen überspannte.

»Jetzt spuck sie schon aus.« Billys Hände schwebten über der Tastatur.

»Marty Brilliant, Iggy Black, Jose R. Seraglio.«

»Wer soll das denn sein?« La-a rückte näher und spähte über Billys Schulter.

»Das sind Drogensüchtige aus meiner Nachbarschaft«, antwortete ich. »Und Freunde von Pater X.«

»Wieso interessierst du dich für sie?«, hakte sie nach.

»Hast du dich schon mal gefragt, ob du dich vielleicht auf die falschen Leute konzentrierst, Dash?«

Sie starrte mich irritiert an.

»Ich rede von Patrick Scott und diesem anderen Typen.«

»Antonio Neng«, sagte sie. »Ob es dir nun passt oder nicht: Bislang haben wir keine anderen Kandidaten.« Sie war eine begabte Schauspielerin, die in Gegenwart von Billy ihren Verdacht gegen ihn perfekt verbarg.

»Beide waren in der Nähe oder direkt am Tatort«, gab Billy zu bedenken. »Warum sollten wir sie nicht durchleuchten?«

»Ist schon klar«, meinte ich. »Ich verstehe das ja, aber ich dachte ...«

»Hört, hört!«

»Billy, begreifst du’s denn nicht? Derjenige, der sich Zugang zu Abbys Facebook-Account verschafft hat, weiß etwas. Er lehnt sich in aller Seelenruhe zurück und wartet einfach ab. Wenn ihr mich fragt, gibt es da eine Verbindung zu den Dekkers.«

»Scheiß-CCU, die haben sich immer noch nicht gemeldet.« Billy begann, mit den Zähnen zu mahlen.

Ich legte meine Hand auf seine. »Meiner Meinung nach hat das etwas mit ihrer Kirche zu tun, mit ihrer Verbindung zu Pater X. Und vielleicht mit einem von seinen ... ähm ... sozialen Projekten.«

»Oje.« La-a schüttelte den Kopf. »Jetzt sind Priester nicht mehr nur Kinderschänder, sondern auch Mörder. Puh! Du schaust zu oft Nachrichten.«

»Ich habe doch nicht behauptet, der Priester hätte jemanden getötet, oder?«

»Nein, aber -«

»Ich möchte diese drei Burschen nur überprüfen, um zu erfahren, was sie für Pater X machen und ob sie mal für die Dekkers gearbeitet haben.« Ich rückte näher an Billy heran. »Vergiss nicht: Menschenhandel in Brooklyn.«

»Billy!«, rief La-a mit ernster Miene. »Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, nicht aus dem Nähkästchen zu plaudern.«

»Hab ich auch nicht.«

»Und wieso -«

»Dann meinst du also auch, dass da was dran sein könnte.« Mein Herz machte einen Satz: Ich war ihnen auf die Schliche gekommen.

»Was wir meinen, geht dich nichts an, Karin«, wies La-a mich zurecht. »Du bist nicht in diese Ermittlung einbezogen, auch wenn du dir das einbildest.«

»Doch«, entgegnete ich. »Wegen Chali. Sie hat Reed Dekker erkannt, weißt du noch? An dem Abend, als der Prostituiertenmörder sie getötet hat, wollte sie mir etwas erzählen.«

»Wir wissen nicht, wer Chali ermordet hat«, stellte Billy klar.

»So ist es«, bekräftigte La-a. »Und noch mal, Karin:

Du bist hier nur eine unbeteiligte Zuschauerin. Genau genommen bist du keine Angehörige des Opfers, und du bist schon gar nicht Mitglied dieses Teams.«

»Chalis Tochter lebt jetzt bei mir. Ich muss ihr irgendwann sagen, warum ihre Mutter gestorben ist.«

Billy und La-a tauschten Blicke aus. Kurz darauf nickte sie, auch wenn es ihr schwerfiel.

»Na schön.« Billy begann zu tippen. »Kannst du die Namen noch mal wiederholen?«

»Marty Brilliant, Iggy Black, Jose R. Seraglio. Die drei Musketiere – so habe ich sie bis heute genannt. Sie besuchen die Methadon-Klinik in der Mary Immaculate; das ist eines der von den Dekkers unterstützten Projekten. Geleitet wird es von Pater X. Tag für Tag, Woche um Woche, gehen diese Typen von St. Paul’s zur Mary Immaculate in Prospect Heights und wieder zurück. Man kann die Uhr nach ihnen stellen. Worum ging es bei dem letzten Telefonat zwischen Reed und Pater X?«

»Er brauchte einen Gelegenheitsarbeiter.«

»Genau. Und wem gibt Pater X diese Jobs wohl?«

Billy schaute zu La-a hinüber. »Hast du die Liste?«

Sie durchsuchte einen Stapel Unterlagen, zog ein Blatt Papier heraus und überflog es. »Ja, sie sind alle drei drauf. Und noch viele andere.«

»Gut, Billy«, sagte ich. »Los, schau nach.«

Die drei Männer waren gleich wegen mehrerer Vergehen im CRS aufgeführt.

Martin Brilliant stammte aus Mill Basin, Brooklyn. Laut seiner Akte war er vierzehnmal festgenommen worden, unter anderem wegen Taschendiebstahl, Schwarzfahren und Besitz illegaler Substanzen. Für die Drogen hatte er ein Jahr Gefängnis bekommen, die anderen Anklagen hatte man fallengelassen. Als er später wegen ordnungswidrigem Verhalten angeklagt wurde, verfügte der zuständige Richter eine Entziehungskur. Vor einem Jahr hatte Brilliant das Übergangswohnheim in Brownsville, Brooklyn, verlassen und war bei den Sons of St. Paul’s in Red Hook untergekommen, die ehemaligen Drogensüchtigen, die den Herrn gefunden hatten, Obdach gewährten.

Ignatius Black jr. wuchs in der AmsterdamSiedlung auf, einem Wohnprojekt für Familien mit niedrigem Einkommen in Manhattans Upper West Side. Seine Eltern, ein Taxifahrer und eine Näherin, hatten sich scheiden lassen, als der Sohn zwei war. Er brach die High School ab, dealte mit Heroin und saß sechs Jahre im Gefängnis, wo er zum Glauben fand. Doch nach seiner Entlassung begann er, wieder Drogen zu nehmen, und lebte inzwischen seit achtzehn Monaten bei den Sons of St. Paul’s.

Jose R. Seraglio aus Boerum Hill gehörte einer großen Arbeiterfamilie mit Wurzeln in der Dominikanischen Republik an, die so lange in dem Viertel ausharrte, bis die einsetzende Sanierung die alteingesessenen Ladenpächter vertrieb und die unbarmherzigen Hauseigentümer, die nur nach dem Geld schielten, reich machte. Im Gegensatz zu seiner Familie, die nach New Jersey zog, blieb Jose im Viertel und wanderte wegen kleinerer Delikte mehrmals hinter Gitter. Wie seine beiden Freunde nahm er Drogen und landete irgendwann bei Pater X und seinen Schäfchen. Mit Marty und Iggy wohnte er nunmehr seit knapp einem Jahr zusammen.

»So sieht’s aus.« Billy lehnte sich nach hinten. »Jetzt wissen wir Bescheid. Nicht dass es uns groß weiterhilft.«

»Was ist mit diesem Typen?« Ich tippte auf einen anderen Namen auf der Liste der Bewohner von Sons of St. Paul’s, der mehrmals mit Jose verhaftet worden und vor ein paar Monaten ausgezogen war. »Edward Walczak ... Er und die drei Musketiere waren gemeinsam auf Entzug. Wieso hat er sich vom Acker gemacht?«

»Vielleicht wurde er entlassen.« La-a verfiel wieder in ihren Sarkasmus.

Billy überprüfte die letzten Verhaftungen und jüngsten Anklageerhebungen. »Seit seinem Abgang ist nichts mehr über ihn im System zu finden. Doch darüber würde ich mir keine Gedanken machen. Vielleicht hat er sich inzwischen im Griff. So was soll vorkommen.«

»Schau dir das an.« Ich nahm die Maus und klickte auf die Rubrik Zeugen. »Wie immer, wenn es um Jugendliche geht, steht die Akte unter Verschluss.«

Auf mein Drängen hin öffnete Billy sie. La-a und ich neigten uns vor und lasen die spärlichen Informationen: Vor fünf Jahren hatte Edward Walczak ein kurzes Intermezzo als Zeuge in einem Sexualdelikt gehabt, bei dem der Beschuldigte – man höre und staune – kein anderer als unser Ximens Dandalos gewesen war. Walczak war vorgeladen, dann aber aufgrund seiner Drogen- und Kleinganovenkarriere als unzuverlässig eingestuft worden.

»Sieh mal einer an«, meinte ich. »Hier steht es schwarz auf weiß.«

La-a verschränkte die Arme vor der Brust und presste die Lippen fest aufeinander, während Billy mit strengem Blick auf den Bildschirm starrte. War diese Information neu für die beiden, oder störte es sie, dass ich etwas herausgefunden hatte, das sie geheim halten wollten?

»Wo wohnt dieser Bursche?«, fragte ich und begann den Cursor zu bewegen.

Billy streckte die Hand aus und nahm mir die Maus weg. »Karin, hör mal, du gehst jetzt besser.«

»Da steht, Walczak ist im Viertel aufgewachsen. Wohnt er dort immer noch?«

»He!«, rief Billy und stand auf. »Das könnte ziemlich übel werden.«

»Ich weiß, wie man ermittelt«, beschwichtigte ich ihn. »Und ich achte schon darauf, dass die Beweise zu gebrauchen sind.«

»Was für Beweise?«, höhnte La-a. »Ist wirklich phänomenal, wie schnell du dir eine Meinung bildest.«

»Warum kriegt Pater X ausgerechnet dann, wenn Abby aufwacht, Herzprobleme?« Mein Blick huschte von Billys Gesicht zu La-as. Keiner der beiden zuckte mit der Wimper. »Fürchtete er, dass sie Bescheid weiß? Wovor hat sie Angst? Was verschweigt sie uns?«

Die beiden starrten einander wortlos an, ohne auf meine Worte einzugehen. Konnten sie meine Fragen nicht beantworten? Mussten oder wollten sie etwas vor mir verheimlichen? Mir war klar, dass ich sie durch meinen spontanen Besuch bei der Arbeit störte. Daher war La-a zu Recht sauer auf mich. Außerdem hatte Billy schon genug Stress, da musste ich ihm nicht auch die Hölle heißmachen. Ohne konkrete Anhaltspunkte hatte ich hier nichts zu suchen, keine Frage. Gleichwohl war da etwas, das alle anderen übersahen. Nur – falls ich richtiglag, wen kümmerte es dann, wer es zuerst bemerkt hatte?

Ich stand auf und betrachtete die schreckliche Fotomontage, die Variationen ein und desselben Verbrechens veranschaulichte: Mit Ausnahme von Chali waren es durch die Bank junge Prostituierte, erdrosselt und erstochen mit Jagdmessern, die im Jahr 1963 von einer Firma namens Stark hergestellt worden waren, die längst nicht mehr existierte. Jemand hatte Fotos von den Messern nebeneinander aufgehängt, sodass die feinen Unterschiede zwischen ihnen ins Auge sprangen: In Chalis Brust hatte eine neuere, an der Spitze leicht gebogene Klinge mit einem glänzenden Holzgriff gesteckt. Bei dem Anblick brach mir kalter Schweiß aus. Die Stark-Messer wichen nur minimal davon ab: Ihre Klingen wirkten nicht so glatt und glänzten nicht so stark. Da sie weder besondere Eigenschaften besessen hatten noch sonderlich beliebt gewesen waren, hatte man die Produktion eingestellt. Heutzutage erhielt man so ein Exemplar nicht einmal mehr auf eBay. Deshalb musste man davon ausgehen, dass der Mörder sich einen Vorrat angelegt hatte. Waren ihm die Stark-Messer ausgegangen, als er Chali tötete? Hatte er sich deshalb ein Messer besorgt, das so ähnlich aussah? Oder hatten wir es mit zwei unterschiedlichen Tätern zu tun?

Rechts von den beiden Messerfotos hingen Aufnahmen von Reed und Marta Dekker, die die Spurensicherung in ihrem Haus gemacht hatte. Das warf die nächste Frage auf: Hatten wir es mit einem, zwei oder – wenn man die vor langer Zeit verschwundenen Mädchen mit einbezog – gar mit drei Verbrechern zu tun?

»Ich muss mal für kleine Mädchen«, verkündete La-a. Zu meiner Verwunderung packte sie mich am Arm und führte mich in den Flur bis zum nächsten Ausgang. Dort beugte sie sich vor und flüsterte mir ins Ohr: »Nimm dich in Acht.« Und dann stand sie einfach nur da und wartete, bis ich das Gebäude verließ.

* * *

Mac und Ben beendeten gerade ihr Mittagessen, als ich heimkam. Ich setzte mich zu ihnen, und nachdem Ben aufgestanden war, brachte ich Mac auf den neuesten Stand. Mit einem leisen Lächeln hörte er mir zu. Gelegentlich schüttelte er den Kopf, verzichtete jedoch darauf, mich für mein spontanes Verhalten zu rügen.

»Meiner Meinung nach kannst du die Ermittlung jetzt Billy und La-a überlassen«, sagte er. »Immerhin ist das ihr Job, und du hast andere Dinge zu tun.«

»Kann sein, dass du recht hast.«

»Karin, du hast viel erreicht. Jetzt kannst du dich anderen Aufgaben widmen.«

Ich nickte zögernd.

»Mir ist es ernst, Karin. Keine Frage, Chali hat dir viel bedeutet. Mir auch. Nichtsdestotrotz müssen wir diesen Fall den Polizisten überlassen.«

Obwohl er recht sachlich sprach, schwang eine leichte Gereiztheit in seiner Stimme mit. Plötzlich fiel mir ein möglicher Grund dafür ein. »Bist du sauer, weil ich Mary angeheuert habe, ohne dich vorher zu fragen?«

»Machst du Witze? Ich habe Star bereits gefeuert.«

»Das ging aber schnell.«

»Ich konnte ihre Inkompetenz einfach nicht mehr ertragen. Hoffentlich hat diese Mary mehr drauf.«

»Na, schlimmer kann’ s kaum werden.«

Dabei beließen wir es. Mac willigte ein, Mary unter der Voraussetzung, dass sie bei dem morgigen Treffen einen guten Eindruck machte, eine Chance als Assistentin und Babysitterin zu geben.

Kurz dachte ich über meine heutige Ermittlungsarbeit nach. Ich hatte alles in meiner Macht Stehende getan – die drei Musketiere identifiziert, die SOKO gebeten, den Fall aus einer anderen Perspektive zu betrachten, und dafür gesorgt, dass Billy nicht länger im Schussfeld stand. Von nun an würde ich mich raushalten – oder es zumindest versuchen.

Es sei denn ... Ich schaffte es einfach nicht, mir den vierten Musketier aus dem Kopf zu schlagen. Im Geiste malte ich mir aus, was für ein Typ er war, wie er mit seinen Kumpanen abhing, wie sie zu viert die Smith Street hinuntergingen, in die Atlantic Avenue bogen und an der Bushaltestelle warteten.

Und ich musste auch ständig daran denken, welchen Eindruck Abby bei unserem letzten Zusammentreffen gemacht hatte, wie sehr ihr Zustand mich an Billys PTBS-Schübe erinnerte. Die Übereinstimmungen waren nicht von der Hand zu weisen: das Schweigen, dieser verschleierte, nach innen gerichtete Blick, die offenkundigen Reisen in die Vergangenheit, an einen furchtbaren Ort, den man besser vergaß, der Argwohn, der sie verstummen ließ. In Wahrheit war ihr Schweigen nur Ausdruck einer Leere, weil sie gar nicht mehr anwesend, sondern längst abgetaucht war.

Mac ging arbeiten, und ich beschäftigte mich mit Ben. Irgendwann jedoch konnte ich mich nicht mehr beherrschen, schnappte den Laptop und googelte nach Edward Walczak.

Im Online-Telefonbuch fand ich nur einen Eintrag unter diesem Namen. Sofern die Information noch aktuell war, wohnte er bis zum heutigen Tag in Boerum Hills. Ich speicherte seine Adresse in meinem BlackBerry – nur für den Fall.

Gegen halb vier hörte ich, wie jemand die Haustür öffnete. Ben und ich stürmten in den Flur, um Dathi zu begrüßen, die gerade ihre Schuhe auszog und ihren Rucksack abnahm.

»Wie war dein Schultag?«, fragte ich.

»Gut.«

Da sie einen ziemlich erschöpften Eindruck machte, kaufte ich ihr das nicht ab. Dieses Feuer, das sie aus der alten Heimat mitgebracht hatte, versiegte allmählich. Ich konnte nicht länger die Augen davor verschließen, wie anstrengend die kleinen und großen Veränderungen für sie sein mussten: die Heimkehr in ein neues Haus, die ungewohnten Kleider, das fremde Essen, die vermeintliche Coolness ihrer neuen Klassenkameraden. Nach außen hin gab sie sich tapfer, doch ich konnte sehen, wie schwer ihr die Umstellung fiel. Jedes Mal wenn ich daran zweifelte, ob ihre Übersiedlung in die Vereinigten Staaten richtig gewesen war, zwang ich mich, daran zu denken, dass ich sie vor einem furchtbaren Schicksal bewahrt hatte.

Sie ging mit uns in die Küche, wo wir uns an den Tisch setzten und die Kinder etwas aßen. Anschließend spülte Dathi ihr Geschirr, und Ben folgte ihrem Beispiel. Er stellte sich dabei auf einen Stuhl und beobachtete ganz genau, wie sie jeden Gegenstand sorgfältig abwusch und auf das Abtropfregal stellte.

»Lass uns Maretti spielen«, schlug er vor, als sie fertig war.

Ihr sehnsüchtiger Blick Richtung Laptop, der aufgeklappt auf dem Tisch stand, verriet mir, dass sie lieber ins Netz gehen wollte. Langsam gelang es mir, in ihr zu lesen wie in einem offenen Buch, und in dem Moment begriff ich, wie wichtig es war, auf ihre Bedürfnisse einzugehen, um ihr Vertrauen zu erringen.

»Möchtest du vor den Hausaufgaben noch sehen, was es Neues auf Facebook gibt?«

Sie lächelte, und plötzlich war da wieder dieses Feuer, das mir gleich bei ihrer Ankunft aufgefallen war.

»Ich will aber Maretti spielen!«, beharrte Ben.

»Ich spiele mit dir.« Ich stand auf und schob den Laptop zu Dathis Platz.

Noch ehe sie sich gesetzt hatte, flogen ihre Finger über die Tastatur. Während Ben und ich kleine Spielzeugautos quer durchs Wohnzimmer schossen, saß sie in der Küche und tippte wie von Sinnen. Nach einer Weile tauchte sie im Türrahmen auf.

»Jetzt habe ich dreiundachtzig Freunde.«

Ich hob den Blick. »Meinst du Facebook-Freunde?« Die Vorstellung, dass das echte Freunde waren, erschien mir immer noch abwegig.

Sie nickte.

»Super.«

»Einmal abgesehen von den Freunden daheim kenne ich nur sieben von meinen neuen Freunden persönlich. Die anderen sind Freunde von Freunden. Ziemlich aufregend, wie schnell das hier geht. Hier sind viel mehr Leute online als zu Hause. Die Sache ist nur ...«

»Was denn?« Ich lehnte mich auf dem Wohnzimmerboden nach hinten.

»Die eine Person, von der ich gern hören würde, meldet sich überhaupt nicht.«

Zuerst dachte ich, sie spräche von Chali. Meinte sie allen Ernstes, ausgerechnet über Facebook Kontakt mit ihrer Mutter aufnehmen zu können? Die Abwegigkeit dieses Gedankengangs ließ mich erkennen, dass ich vollkommen falschlag. Und so fragte ich: »Abby?«

»Ja, sie ist hier meine beste Freundin. Bitte erzähl Oja nicht, dass ich das gesagt habe.«

Ich verkniff mir ein Lächeln. »Du kannst dich auf mich verlassen.«

Dathi ging in den Flur und holte ihren Rucksack. Auf dem Weg in die Küche, wo sie nachmittags immer ihre Hausaufgaben machte, hielt sie inne, kramte in ihrem Tornister herum und zog ein Blatt Papier hervor, auf das sie etwas gemalt hatte. Sie reichte mir den Bogen und wartete gespannt, während ich die Skizze betrachtete.

Auf dem schweren weißen Papier hatte sie mit Kohle schwungvoll zwei Frauen festgehalten, oder – bei genauer Betrachtung – eine Frau und ein Mädchen, die einander umarmten. Mutter und Tochter. Mir stiegen Tränen in die Augen. Dathi vermisste Chali mehr, als ich mir vorstellen konnte. Ich kannte die Verzweiflung einer Mutter, die sich nach ihrem toten Kind sehnte, aber was wusste ich über die unvollständig entwickelte Trauer eines Kindes, das seine Mutter verloren hatte? Ihr Leid war meinem ähnlich und trotzdem ganz anders.

Ben, der merkte, dass etwas nicht stimmte, stellte sich hinter mich und spähte über meine Schulter auf die Zeichnung. Die Nähe, die ich spürte, als er sich an meinen Rücken schmiegte, und sein warmer Atem, der meinen Nacken streifte, erfüllten mich mit einer Liebe, die beinah schmerzte.

»Sehr schön«, wisperte ich.

»Das ist für sie.«

Für Chali, dachte ich und wurde erneut umgehend eines Besseren belehrt.

»Für Abby.« Dathi nahm die Zeichnung zurück. »Vor ein paar Minuten habe ich ihr eine Nachricht geschickt. Meinst du, die Zeichnung wird ihr gefallen? Soll ich sie ihr mailen?«

»Ich hätte da eine bessere Idee.« Ich stand auf und setzte Ben schwungvoll auf meine Hüfte. »Los, zieht eure Schuhe und Jacken an.«

»Ich muss Hausaufgaben machen!« Aber der beschwingte Tonfall, mit dem sie das sagte, zeigte an, dass ihr Einwand nicht ernst gemeint war. Sie ahnte, was ich vorhatte, und wusste genauso gut wie ich, dass ihre Hausaufgaben warten konnten.

Wir brachten Ben zu Mac, wo er im neuen Büro seines Vaters Chaos stiften konnte, kehrten in der einsetzenden Abenddämmerung um und marschierten durch die Kälte zur U-Bahn. Falls alles gutging und es keine Verzögerungen gab, würden wir eine halbe Stunde, bevor die Besuchszeit endete, im Krankenhaus eintreffen.