KAPITEL 4

»Wollen Sie zu den Dekkers?«

Ich drehte mich nach rechts und erblickte eine kleine Frau mit schwarz gelockten Haaren, die auf der Treppe nebenan stand und uns neugierig beäugte. Durch ihre offenstehende Haustür erhaschte ich einen Blick auf den auf Hochglanz gebohnerten Eichenboden, auf das untere Ende eines Geländers und auf einen prächtigen Kristalllüster. Im Wohnzimmer, das an den Flur angrenzte, stand eine kleine Staffelei mit einer plumpen Skizze von einem Baum. Eine orangefarbene Katze rieb ihren Kopf am Türrahmen, wagte sich jedoch nicht nach draußen in die Kälte.

»Richtig«, antwortete Billy.

»Und ... wer sind Sie?«

Ich spürte deutlich, wie bei Billy die Verärgerung aus allen Poren drang, und ergriff das Wort, um ein potenzielles Wortgefecht zu vereiteln.

»Es geht um Abby.«

Die Frau nickte. »Dann sind Sie also mit den Dekkers befreundet. Ich bin Gay.« Sie sagte das, ohne mit der Wimper zu zucken; offenbar war sie daran gewöhnt, falsch verstanden zu werden. Mir entging nicht, dass sie einen Ehering trug.

»Ich bin Karin und wohne ein paar Blocks die Straße hoch. Kennen wir uns vom Spielplatz?« Das war faustdick gelogen. Ich hatte sie noch nie zuvor gesehen, doch ich wollte ihr Vertrauen gewinnen. »Ben, mein Sohn, ist fast vier. Wir sind da ziemlich häufig.«

Gay lächelte. »Kann durchaus sein. Meine Tochter Sarah ist fünf. Was ist denn nun mit Abby?«

»Ich bin ja nicht gern die Überbringerin schlechter Nachrichten, aber Abby wurde gestern Nacht von einem Auto angefahren, und wir konnten ihre Eltern nicht erreichen.«

Entsetzen und Skepsis spiegelten sich in Gays Miene. Vermutlich fragte sie sich, woher wir Bescheid wussten, während ihr, der Nachbarin, noch nichts zu Ohren gekommen war. Billy, der instinktiv spürte, dass wir im Begriff waren, ihr Wohlwollen zu verlieren, griff in seine Tasche und zog seinen Ausweis heraus.

»Karin ist eine Freundin von mir und wohnt ein Stück die Straße hoch. Ich bin Kriminalbeamter und arbeite auf dem 84.«

»Was soll das denn sein?« Gay trat einen Schritt näher, um Billys Ausweis genauer in Augenschein zu nehmen.

»Das hiesige Polizeirevier.«

»Oh.«

Ich war einfach fassungslos, enthielt mich jedoch eines Kommentars. Wie konnte es sein, dass jemand weder das nächstgelegene Revier kannte noch wusste, wo es war oder wie man es im Notfall erreichte?

»Marta hat übers Wochenende unsere Katze Orangina versorgt. Ich habe mich gleich nach unserer Rückkehr gestern Abend per SMS bei ihr bedankt, aber dann nichts von ihr gehört. Ziemlich merkwürdig. Normalerweise hat sie ihr iPhone immer griffbereit und antwortet umgehend. Ich habe ihren Hausschlüssel. Soll ich ...?« Ohne auf eine Antwort zu warten, lief sie in ihr Haus und kam mit einem Schlüsselbund zurück.

Nun hatte es mir endgültig die Sprache verschlagen. Was, wenn Billys Marke gar nicht echt gewesen wäre? Immerhin gab es unzählige Kriminelle und Betrüger, die durchaus in der Lage waren, Ausweise zu fälschen. Es mochte ja sein, dass ich das als ehemalige Polizistin überbewertete, aber Gays Naivität haute mich um. Gleichwohl verzichteten Billy und ich darauf, die Frau davon abzuhalten, die Tür aufzuschließen. Zwar durfte er als Polizist ohne Durchsuchungsbeschluss keinen Fuß in das Haus setzen, doch mir, einer besorgten Nachbarin, war das durchaus erlaubt. Und Billy hatte mich ja tatsächlich als Mutter aus dem Viertel und nicht als Privatdetektivin vorgestellt. Darüber hinaus bearbeitete ich den Fall nicht, sondern begleitete Billy nur.

»Wenn einer von uns in den Urlaub fährt, sieht der andere nach dem Haus«, erläuterte Gay und drehte den Schlüssel um hundertachtzig Grad, bis ein leises Klicken ertönte. Mit einem zweiten Schlüssel versuchte sie das obere Schloss aufzusperren, aber da tat sich nichts. »Komisch. Das hat doch sonst immer funktioniert.«

»Könnte sein, dass da gar nicht abgeschlossen worden ist«, mutmaßte Billy.

Gay drehte den Knauf – und tatsächlich, die Tür öffnete sich. »Sehr eigenartig. Die Dekkers schließen immer beide ab. Hm, wenn ich es mir recht überlege.« Sie zog die Tür zu, schloss unten ab und sogleich wieder auf. »Bisher ist mir das noch nie aufgefallen, aber das untere schließt von allein. Das heißt doch, dass es gar nicht doppelt verriegelt ist, wenn man den Schlüssel nur halb drehen muss. Wie es aussieht, hat jemand das Haus verlassen und nur die Tür hinter sich zugezogen.«

Billy und ich tauschten vielsagende Blicke aus.

Mit hochgezogener Stirn öffnete Gay erneut die Tür und betrat das Haus.

»Marta? Ich bin’s, Gay! Bist du da? Marta?«

Ich ließ Billy vor der Tür stehen und folgte Gay in die Diele, die wie in vielen anderen Sandsteinhäusern im Viertel mit dem Wohnzimmer zusammengelegt worden war, um den Vorstellungen von großräumiger moderner Architektur gerecht zu werden. Dekorative Details aus vergangenen Tagen waren restauriert worden und verliehen dem Raum den Charme des neunzehnten Jahrhunderts, doch gleichzeitig wurde dem Betrachter die Weitläufigkeit eines Lofts vorgegaukelt. Es gab eine Menge geschnitztes Holz, modische Teppiche, hochmoderne Lampen, antike Möbel und eine High-End-Stereoanlage. Auf dem unteren Treppenabsatz stand neben einem riesigen Spiegel eine hohe Vase auf einem Podest, ein Gebilde aus orangefarbenem und rotem Glas, das nur eine einzelne Blume aufnahm und wirkte, als würde es beim leisesten Luftzug zerbrechen. In einer Ecke des Wohnzimmers gab es einen Stutzflügel, auf dem mehrere Bilderrahmen standen. Auf einer Aufnahme waren Reed, der breit grinste, und Marta gemeinsam abgelichtet. Sie trug hübsche Ohrringe, die teilweise von dem rotbraunen Haar verdeckt wurden, das bis zu den Schultern herabhing. Auf dem nächsten Bild, das sicherlich ein Berufsfotograf geschossen hatte, waren alle drei Familienmitglieder zu sehen. Dann gab es noch ein Foto von Reed und einem Mann auf einem Fischkutter und ein halbes Dutzend Bilder von Abby, die sie in unterschiedlichen Lebensaltern zeigte.

»Marta!« Die Selbstverständlichkeit, mit der Gay sich in diesem Haus bewegte, machte deutlich, wie gut sie sich hier auskannte. Sie ging durch eine Tür mit Rundbogen. Dahinter war eine Kücheninsel mit gesprenkelter Granitplatte, auf der eine Keramikschale mit Äpfeln stand. Während ich Gay folgte, schaute ich mich im Essbereich um. Plötzlich stieß sie einen Schrei aus.

In der Küche lag ein Mann mit dem Gesicht nach oben in einer Lache aus Blut, das langsam zu trocknen begann. Er hatte die gleiche Haarfarbe wie Reed Dekker auf dem Profilfoto; doch sein zerschossenes Gesicht – ein blutiger Brei aus Fleisch und Knochensplittern – war bis zur Unkenntlichkeit entstellt. An der Decke und der Wand klebten Blutspritzer. Es kostete mich große Überwindung, noch einen Moment länger hinzusehen, ehe ich mich abwandte. Da es keinerlei Anzeichen von Maden gab, konnte Reed Dekker nicht länger als einen Tag tot sein. Ich legte die Hand auf den Mund, um mich nicht zu übergeben.

Am ganzen Leib zitternd, rannte Gay an mir vorbei nach draußen zu Billy und brach in Tränen aus.

»Was?«, fragte er sie. »Bitte ... beruhigen Sie sich. Ich kann Sie sonst nicht verstehen.«

Nun hielt auch ich es nicht mehr in dem Haus aus. Im Vorgarten blickte Billy verdutzt zu Gay, die sich über einen Tontopf mit gefrorener Erde und bunten Bändern beugte und würgte. Orangina, ihre Katze, stand jetzt auf der Treppe des Nachbarhauses und ließ sie nicht aus den Augen.

Billy wandte sich an mich. »Was ist da drinnen los?«

»Reed Dekker ... ist tot.«

Ihm fiel die Kinnlade herab, als würden seine Kiefergelenke nicht mehr funktionieren. Innerlich wappnete ich mich schon, da ich befürchtete, die Nachricht könnte bei ihm erneut einen Flashback auslösen. Würde ich es mitkriegen, wenn das PTBS von seinem Verstand Besitz ergriff?

Glücklicherweise blieb er ganz der Alte und verwandelte sich nicht in Mr. Hyde. Mit einem leisen Seufzer holte er sein Handy heraus und sagte nur: »Ich muss das melden.«

Innerhalb von zehn Minuten tauchte die Verstärkung auf. Aus Zivilfahrzeugen, die vorfuhren und mitten auf der Straße parkten, stiegen Ermittler, die zusammen mit Billy das Haus betraten. Die Mitarbeiter der Spurensicherung kamen in einem ehemals weißen, jetzt von einer dicken grauen Staubschicht überzogenen Van und schleppten ihre Ausrüstung die Treppenstufen hoch. Streifenwagen blockierten beide Straßenenden. Die Namen aller Personen, die diesen Abschnitt verlassen oder betreten wollten, wurden notiert. Als die Medienvertreter auftauchten, verzog ich mich augenblicklich nach drinnen; um keinen Preis wollte ich Teil dieser Geschichte werden. Gay war längst in ihrem Sandsteinhaus verschwunden und hatte sich dort eingeschlossen.

Allem Anschein nach bewohnten die Dekker alle vier Etagen des Hauses, die nun von den Ermittlern akribisch durchsucht wurden. Über mir ertönten laute Schritte, die meine Aufmerksamkeit erregten, und instinktiv folgte ich diesem Geräusch. Dass mich niemand des Hauses verwies, kam mir sehr gelegen. Aus Erfahrung wusste ich, dass man Schaulustige an der ihnen eigentümlichen Mischung aus Angst, Fassungslosigkeit und Konfusion entlarven konnte. Da ich solche Situationen von früher zur Genüge kannte, fiel es mir leicht, in dem Chaos nicht weiter aufzufallen. Ein Detective kam die Treppe hinunter und nickte mir im Vorbeigehen zu. Ich folgte seinem Beispiel, ohne innezuhalten.

Im zweiten Stock des Hauses gab es drei Räume: ein Gästezimmer mit einem Doppelbett und einem Fenster, vor dem bunte Marimekko-Vorhänge angebracht waren; ein Büro mit einem schlichten Schreibtisch, zwei Flachbildmonitoren und einem teuren Bürostuhl; ein zweites Wohnzimmer, das wesentlich gemütlicher als das untere war, mit einem riesigen Flachbildfernseher und einer bequemen Couch. Die in diesem Wohnzimmer verstreuten Bücher, Puppen und Spielsachen legten den Schluss nahe, dass die Familie sich meistens hier aufgehalten hatte. Da nur ein einziger Kriminalbeamter diese Etage durchsuchte, musste der Krach, der meine Neugier geweckt hatte, von weiter oben kommen.

Je höher ich stieg, desto lauter wurde der Lärm. Auf dem oberen Treppenabsatz kam ich zunächst an einem Raum mit einem schmalen Bett vorbei, der nur Abby gehören konnte. Die Wände waren fliederfarben gestrichen, in den weißen Einbauregalen türmten sich Jugendbücher, und auf dem unaufgeräumten Schreibtisch standen ein weißer Laptop und ein Schmuckbaum mit mehreren Halsketten. Je weiter ich mich den Flur hinunterwagte, desto stärker wurde meine innere Unruhe. Ich kam an ein paar geschlossenen Türen vorbei, ehe ich das Zimmer am anderen Ende erreichte.

Im Elternschlafzimmer hatten sich Ermittlungsbeamte um das riesige Bett geschart. Der Raum war in einem Aprikosenton gestrichen und mit zwei Kommoden gleicher Bauart und einem Flachbildfernseher ausgestattet, der an der Wand gegenüber dem Bett hing. In der fahlen Wintersonne wirkte das Zimmer nahezu kärglich. Die Wand über dem Kopfende des Bettes wies kurioserweise ein apart anmutendes Muster aus Blutspritzern auf, das mich an die einzige Sternschnuppe erinnerte, die ich je gesehen hatte. Ich richtete den Blick auf das Bett und versuchte, trotz der anwesenden Ermittler etwas zu sehen.

Vom Türrahmen aus konnte ich nur ein Paar nackte, schmale und wächsern wirkende Füße erkennen. Die Fußnägel der Frau waren in demselben Blau wie Abbys Fingernägel lackiert. Sofern mich nicht alles täuschte, hatten sich Mutter und Tochter erst vor kurzem eine Maniküre und Pediküre gegönnt. Unwillkürlich musste ich an meine vor sechs Jahren ermordete Tochter denken, die ebenfalls im Bett zu Tode gekommen war. Bei der Erinnerung daran schnürte es mir den Magen zu. Als sich einer der Polizisten bewegte, erhaschte ich einen Blick auf Martas Gesicht – oder auf das, was von ihm übrig geblieben war – und rang nach Luft. Genau in dem Moment trennte sich ein Mitarbeiter der Spurensicherung von seinen Kollegen, drehte den Kopf und entdeckte mich. Er hatte am Kopfende des Bettes gestanden, seine Latexhandschuhe waren blutverschmiert.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Ich hatte meine Nüchternheit und professionelle Wesensart verloren, sodass er in mir eine Außenseiterin sah, die mit polizeilicher Ermittlungsarbeit nichts zu tun hatte.

Ich räusperte mich und bemühte mich um Haltung. »Wie lange ist sie schon tot?«

»Sind Sie Journalistin?«

Auf einmal wandten sich alle um und musterten mich mit schroffen Mienen.

»Nein«, versicherte ich. »Ich bin eine Nachbarin.«

»Schafft sie hier raus!«, befahl er, woraufhin mich ein uniformierter Beamter nach unten eskortierte.

Während ich zum Eingang gebracht wurde, kam Billy aus der Küchentür. Aus Sorge vor einem weiteren Flashback warf ich ihm einen warnenden Blick zu.

»Ich kümmere mich um sie«, sagte Billy vollkommen ruhig zu dem Polizisten, doch kaum war dieser verschwunden, schlug er einen anderen Ton an. »Warum bist du noch hier, Karin?«

»Geht’s dir gut?«

»Ja.«

»Warst du oben?«

»Bisher noch nicht.«

»Dann lass es lieber bleiben.« Es stand zu befürchten, dass Marta Dekkers Anblick ihn aus der Bahn werfen würde. Wie Billy war den beiden Dekkers ins Gesicht geschossen worden, nur dass sie es nicht überlebt hatten. Wie sollte sich Billy da nicht an damals erinnern?

In dem Augenblick verließ La-a die Küche und nahm von mir Notiz. »Bist du neuerdings ein TatortGroupie, Karin?«

»Bin nur zufällig mit Billy die Straße hinuntergegangen.«

»Muss ich deinem Mann jetzt stecken, dass du und Billy was am Laufen habt?« Sie stemmte die Hände in die Seiten und legte den Kopf schräg. Ich war mir nicht ganz sicher, aber ich meinte, sie zwinkern zu sehen.

»Wie war das Krippenspiel deiner Tochter?«

»Kurz und nett.«

Billy legte die Hand auf meinen Arm und dirigierte mich weg. »Karin wollte sich gerade verabschieden, Dash.«

»Schon? Wo die Party doch gerade erst anfängt!«

»Bis bald, Dash.« Ich musterte Billy, der ungeduldig am unteren Treppenabsatz wartete, schüttelte den Kopf und flüsterte eindringlich: »Lass es bleiben.«

Vor dem Haus lauerte eine Schar Nachbarn hinter wissbegierigen Journalisten und Pressefotografen, die von einer Handvoll Polizisten in Schach gehalten wurden. Kaum machte ich einen Schritt nach draußen, wurden Kameras gezückt. Verglichen mit dem gestrigen Mord an einer Prostituierten erregte das Abschlachten eines wohlhabenden Paares in einem Viertel mit vielen hochwertig sanierten Häusern deutlich mehr Medieninteresse, was kaum verwunderte. Ich hingegen musste immer wieder an die junge Frau denken, die man gestern Nacht tot auf dem vereisten Asphalt gefunden hatte. Ihren Namen kannte ich immer noch nicht. Kannte ihn überhaupt jemand? Und kümmerte es eigentlich irgendwen, dass sie tot war?

Hinter mir wurde die Haustür geschlossen und zugesperrt. Ich stieg die Stufen hinunter und wurde sofort mit Fragen bombardiert.

»Was ist da drinnen passiert?«, erkundigte sich ein Reporter.

»Wir hörten, zwei Menschen sind tot. Können Sie das bestätigen?«, wollte der Nächste wissen.

»Wie heißen Sie?«

»Stimmt es, dass in dem Haus zwei Personen ermordet wurden?«

»Gehört das Haus Reed Dekker? Ist er Banker? Ist Martha Dekker seine Frau?«

Marta, hätte ich am liebsten dem jungen Mann mit dem Schlangen-Tattoo, dessen unteres Ende sich um seine Hand wand, und den mit Augenmotiven tätowierten Ohrläppchen zugerufen. Sie heißt Marta und nicht Martha. Du weißt rein gar nichts über diese Menschen. Und ich auch nicht. Niemand weiß, was sich da drinnen abgespielt hat oder weshalb sie ermordet wurden. Doch ich hielt meinen Mund, trat auf den Bürgersteig und marschierte die Bergen Street entlang. Der Bursche von eben verfolgte mich und bedrängte mich unablässig mit Fragen, bis ich mich an der Absperrung vorbeizwängte.

Ich stieg gerade die Vordertreppe hoch, als ich Billy bemerkte. Im Schnellschritt und mit hochgestelltem Jackenkragen näherte er sich mir; die Hände hatte er in die Hosentaschen gesteckt.

»Wie bist du an den Journalisten vorbeigekommen?«, fragte ich, als er an meine Seite trat. Aufgrund seiner Größe, Hautfarbe, der Augenklappe und der Tatsache, dass man ihn im Zusammenhang mit dem berüchtigtsten Serienmörder der Stadt, der immer noch auf freiem Fuß war, wiederholt interviewt hatte, war Billy so bekannt wie ein bunter Hund. Dass er berühmt war, behagte ihm gar nicht.

»Habe den Kopf eingezogen und bin einfach losgerannt.«

»Hast du ... sie gesehen?«

Er nickte, getraute sich allerdings nicht, mich anzuschauen.

»Bist du in Ordnung?«

»Fühlte mich am Tatort ein bisschen mulmig und habe mich deswegen vom Acker gemacht. Dash habe ich erzählt, ich würde jetzt ins Krankenhaus gehen und nach Abby sehen.«

»Und ... Tust du das?«

»Kommst du mit?«

»Möchtest du das denn?«

»Nein«, erwiderte er und grinste.

»Lass mich kurz sehen, wie es Mac geht. Dann begleite ich dich.«

Billy folgte mir nach drinnen. Im Haus war es still; offenbar war Chali mit Ben auf den Spielplatz gegangen. Billy wartete im Wohnzimmer, während ich nach unten ging und nach Mac sah. Er schlief tief und fest. Ich marschierte wieder nach oben und hinterließ auf einem Notizzettel für Chali die Nachricht, dass ich mich verspäten würde. Ich hatte sie gebeten, am Abend auf Ben aufzupassen, damit Mac und ich zu dem Treffen um neunzehn Uhr gehen und Billy moralischen Beistand leisten konnten. Nun würde ich dort wohl ohne Begleitung erscheinen, es sei denn, Mac wurde auf wundersame Weise gesund.

Wir gingen bis zur Court Street hoch, einer Einkaufsstraße, die meiner Vorstellung von Deep Carroll Gardens entsprach und noch nicht hochwertig saniert worden war wie die meisten anderen Gebiete in diesem Viertel. Die Straße führte nach Brooklyn Heights; dort wollten wir in den Expresszug steigen. Auf dem Weg berichtete Billy, was er in Erfahrung gebracht hatte.

»Beiden wurde aus kurzer Entfernung einmal ins Gesicht geschossen.«

»Hat man die Tatwaffe gefunden?«

»Noch nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Da war ziemlich viel Wut im Spiel ... Jemand hat die beiden nicht sonderlich gemocht.«

»Reeds Gesicht ...« Ich wünschte, den Anblick vergessen zu können. »Glaubst du etwa, der Täter war irgendein Irrer, der zufällig dort reinschneite?«

»Es gibt keine Anzeichen, dass eingebrochen wurde.«

»Also haben sie den Täter hereingelassen.«

»Oder er war bereits dort. Hoffentlich kann Abby uns in dem Punkt weiterhelfen.«

»Könntest du dir vorstellen, dass sie ...« Den Gedanken führte ich nicht weiter aus. Das Mädchen im Schlafanzug mit Schäfchenmuster konnte einfach keine Mörderin sein.

»Ist doch egal, was ich denke, Karin. Ich mache nur meinen Job.«

»Wird man bei ihr einen Schmauchspurentest machen?« Nicht, dass solche Rückstände auf der Haut jetzt noch nachzuweisen wären, da man das Mädchen im Krankenhaus bestimmt gewaschen hatte.

»Ihre Kleidung ist im Labor.«

Wir bogen in die Joralemon Street und stiegen dann die steile U-Bahnhof-Treppe hinunter. Auf halbem Weg drehte ich mich zu Billy um.

»Könnte es deiner Meinung nach eine Verbindung zu der Frau von vergangener Nacht geben? Immerhin wurde Abby ganz in der Nähe des letzten Opfers vom -«

Er ließ mich nicht ausreden. »Das ist ziemlich weit hergeholt, Karin. Das Haus der Dekkers liegt gleich um die Ecke von der Nevins Street ... Etwas ist in dem Haus passiert, und Abby ist dann einfach weggelaufen. Die Stelle, wo wir sie gefunden haben, ist ja nicht weit von ihrem Haus entfernt. Unser Serienmörder bringt Prostituierte um, und wie wir alle wissen, bieten Nutten auf der Nevins ihre Dienste an. So ist das nun mal in einer Großstadt: Man geht einen Block weiter, und schon tut sich ein total anderes Universum auf. Ich würde also keine Verbindung suchen, die wahrscheinlich überhaupt nicht existiert.«

»Nur ... wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass innerhalb weniger Stunden all diese Dinge in solcher Nähe zueinander passieren, ohne dass es einen Zusammenhang gibt?«

»Das war einfach ein Scheißtag in Brooklyn.«

»Vielleicht ist demjenigen, der Abby angefahren hat, etwas aufgefallen.«

»Kann sein, kann auch nicht sein. Im Labor wird nicht nur nach Schmauchspuren, sondern auch nach Farb- und Metallpartikeln gesucht. Ob das etwas bringt – wer weiß? Aber falls doch, und wenn wir Glück haben und den Wagen und den Fahrer finden – wie groß ist da die Wahrscheinlichkeit, dass er die Deckers umgebracht und Abby entführt hat, sie ihm entkommen ist und er sie dann umgefahren hat, ehe er die nächste Hure abgeschlachtet hat?«

»Klingt ziemlich plemplem, Billy.«

»Genau.«

»Aber falls er oder sie etwas gesehen hat ...«

»Wäre prima.« Er bedachte mich mit einem höhnischen Grinsen, denn er arbeitete schon lange als Polizist und hatte gelernt, seine Hoffnungen nicht allzu hoch zu schrauben und sich ausschließlich auf Fakten zu konzentrieren.

»Ich hab’s kapiert. Wenn da nur nicht dieses Gefühl wäre ...«

»Keine Gefühle, Karin. Fakten. Vergiss deine Gefühle. Ich muss jetzt jedenfalls unbedingt mit Abby sprechen oder – falls sie nicht bei Bewusstsein ist – einen anderen Zeugen auftreiben, der etwas ...«

Ich wartete kurz und beendete dann den Satz für ihn. »Beobachtet hat.«

Billy hielt dem Fahrkartenverkäufer seine Marke vor die Nase, der ihn sogleich durchließ. Ich zog meine Monatskarte durch den Schlitz und zwängte mich durch das Drehkreuz. Eine weitere Treppe führte zum Bahnsteig, wo wir auf die U-Bahn warteten. Wie üblich roch es hier unten nach faulen Eiern, aber dafür war es auch beträchtlich wärmer. Die Schienen begannen zu vibrieren, und dann tauchte ein Zug der grün gekennzeichneten Linie 5 auf. Wir drängten uns in den Wagen und fuhren eine halbe Stunde, ohne ein Wort zu wechseln. Als wir an der Haltestelle Lexington Avenue ausstiegen und die Treppe hochstiegen, setzte in Manhattan schon die Dämmerung ein und färbte den Himmel grau.

Der Fußmarsch zum Fluss und zu dem an der 68th Street gelegenen Eingang vom New York Presbyterian Hospital, wo Abby auf der Komansky-Kinderstation lag, dauerte nur zehn Minuten. Kaum hatten wir die York Street überquert und hielten auf die halbrunde Auffahrt vor dem Eingang zu, bemerkten wir fünf Übertragungswagen mit hoch aufragenden Antennen. Die Reporter lauerten neben den Drehtüren und warteten, dass etwas passierte.

Erwartungsgemäß stürzten sie sich umgehend auf Billy, sobald sie ihn sahen.

»Kein Kommentar«, verkündete er mit fester Stimme.

Wir gingen durch den Haupteingang, wo es zuging wie in einem Bienenstock, und wurden umgehend zur pädiatrischen Intensivstation geschickt. Dass wir vor dem richtigen Fahrstuhl standen, schlossen wir aus den dort herumlungernden Reportern.

»Ein Kommentar zu den Morden, die in direkter Nachbarschaft verübt wurden«, fragte eine Frau mit riesiger Pelzmütze, »und zu dem Mädchen, das etwa zur selben Zeit angefahren wurde?«

Billy warf ihr einen bitterbösen Blick zu, ehe er den Lift betrat und mit mir in den fünften Stock fuhr.

Wir blieben im Flur vor Abbys Privatzimmer stehen. Man hatte Billy gebeten, auf jemanden zu warten, der uns über alles Wesentliche informieren würde, vor allem über die Grundregeln im Umgang mit Komapatienten im Allgemeinen und mit dieser Patientin im Besonderen. Ich verabscheute Krankenhäuser mit ihren Hochglanzböden, der schauerlichen, von einzelnen Schreien durchbrochenen Stille und dem grauenvollen antiseptischen Chaos. Das einzige nicht traumatische Ereignis in einem Hospital war die Geburt eines Kindes, und selbst da konnte einiges schiefgehen. Kurz dachte ich an den letzten Oktober – an Julie, Marisa oder Zoe – und kämpfte angesichts des emotionalen Aufruhrs, von dem ich in Augenblicken wie diesem heimgesucht wurde, gegen die Tränen an. Als ich mich wieder einigermaßen im Griff hatte, verspürte ich ein Hochgefühl, dem jedoch gleich schiere Verzweiflung folgte. Manchmal wünschte ich mir mein Prozac zurück, das bei mir nicht so richtig funktioniert oder wenigstens nicht das erwartete Resultat geliefert hatte. Ich schaute auf Billy, der mit geschlossenen Augen an einer Wand lehnte, und überlegte, ob ihm wohl Antidepressiva helfen könnten.

Schließlich näherte sich uns eine Frau mit ausgestreckter Hand. Billy hörte ihre Schritte, öffnete die Augen und ging auf sie zu.

»Ich bin Sasha Mendelsohn. Entschuldigen Sie, dass das so lange gedauert hat.« Sie war klein, hatte kurzes rotes Haar, Sommersprossen und trug einen weißen Kittel mit Namensschild, auf dem kein Doktortitel vermerkt war. »Ich weiß nicht, ob man Ihnen am Empfang erklärt hat, dass ich als Abbys medizinische Betreuerin fungiere. Falls Sie also Fragen oder Bedenken haben oder mit einem Arzt sprechen möchten, dann wenden Sie sich bitte an mich, und ich, ähm, kümmere mich darum.«

»Detective Staples, Brooklyn, 84. Polizeirevier.« Billy schüttelte ihre Hand. »Das hier ist Karin Schaeffer, die mich in diesem Fall berät. Wir waren beide gestern Nacht am Unfallort und gehen der Sache nun nach. Können wir sie sehen?«

»Wir sind uns darüber im Klaren, dass Sie die Kleine befragen möchten«, antwortete Sasha. »Aber Sie müssen sich leider gedulden, bis wir sie aus dem Koma holen. Momentan ist ihr Zustand noch sehr kritisch.«

»Haben Sie eine Ahnung, wie lange das dauern wird?«

»Ich wünschte, ich könnte Ihnen eine Antwort auf diese Frage geben.« Ihr Blick ruhte auf Billys Augenklappe. »Wie haben Sie das Auge verloren?«

»Was bringt Sie denn auf die Idee, ich hätte es verloren?«, entgegnete er schneidend. Ihre direkte, wenig feinfühlige Frage rechtfertigte seinen Tonfall.

»Die Augenklappe.«

»Was, wenn ich mit einem blinden Auge auf die Welt gekommen bin oder eine bakterielle Infektion habe?«

»In beiden Fällen tragen die Betroffenen nach meiner Erfahrung keine Augenklappe.«

»Ich will nicht darüber reden.«

»Tut mir leid, dass ich das Thema angesprochen habe ... Ehrlich. Es geht mich nichts an.«

»Wann können wir mit Abby sprechen?«

»Das kann Tage oder gar Wochen dauern.«

»Womöglich ist sie unsere einzige Zeugin. Sie ist noch jung und schwer verletzt, das ist uns bewusst. Doch die Zeit drängt.«

»Lassen Sie es mich Ihnen erklären«, begann sie, während ihr Blick zwischen uns beiden hin- und herwanderte. »Sie wurde in ein künstliches Koma versetzt, um eine potenzielle Schädigung des Gehirns zu verhindern. Das Koma hilft, die Schwellung zu verringern, die wiederum die Blutversorgung des Gehirns beeinträchtigen könnte, was lebensbedrohlicher wäre als alle anderen Verletzungen. Es handelt sich also um eine Vorsichtsmaßnahme, um den Gesamtorganismus zu entlasten. Leider hat sie noch weitere Traumata. Eines ihrer Beine ist gebrochen und wurde eingegipst. Zudem sind vier Rippen und das Schlüsselbein gebrochen, worum wir uns ebenfalls gekümmert haben. Damit die Brüche heilen, muss Abby ruhiggestellt werden. Das Koma stellt ihren Körper und ihr Gehirn ruhig. Derzeit ist dies die einzig probate Vorgehensweise.«

»Gut.« Billy bemühte sich zwar, Verständnis zu zeigen, doch sein grantiger Ton entlarvte ihn. »Können Sie den Zeitrahmen nicht etwas genauer benennen?«

»Billy«, ermahnte ich ihn, »sie müssen tun, was für Abby am besten ist.«

Sasha überlegte kurz. »Ich kann Sie ein paar Minuten zu ihr lassen«, bot sie uns an.

»Das wäre ganz wunderbar«, sagte ich.

»Warten Sie kurz.« Vorsichtig öffnete sie Abbys Tür, warf einen Blick in das Krankenzimmer und bedeutete uns dann, ihr zu folgen.

Vergangene Nacht hatte ich, überwältigt von dem Umstand, dass es sich um zwei Tatorte handelte, nicht sofort erkannt, dass es sich bei dem Unfallopfer um ein Kind handelte, doch hier stach es einem sofort ins Auge. In dem großen weißen Krankenhausbett wirkte ihr schmaler, zerbrechlicher Körper, gefangen in einem Wirrwarr aus Gipsverbänden, Bandagen und Schläuchen, beinahe verloren. Ihr linkes Bein, vom Fußgelenk bis zur Hüfte eingegipst, sodass nur die verschiedenfarbig lackierten Zehennägel zu sehen waren, ruhte auf der Decke. Ihre Arme lagen reglos neben dem Körper. Als mein Blick auf ihre blauen Fingernägel fiel, verspürte ich wieder ein merkwürdiges Gefühl. Ihre Rippen wurden von dem Krankenhausnachthemd verdeckt, während das linke Schlüsselbein, von blauen Flecken überzogen und gebrochen, unter dem durchsichtigen medizinischen Klebeverband deutlich zu erkennen waren. Man hatte ihr den Schädel kahl rasiert, und ein weißer Mullturban verbarg die Kopfverletzungen. Die Blutergüsse auf der linken Gesichtshälfte waren schwerer als die auf der rechten. Entweder hatte der Fahrer sie links erwischt, oder sie war nach dem Zusammenstoß auf diese Seite gefallen. Eine Mund- und Nasensonde mündete auf ihrer Brust in dickere Schläuche, die mit lebenserhaltenden Maschinen verbunden waren.

Sasha warf mir einen vielsagenden Blick zu, woraufhin ich mein Pokerface aufsetzte und in mein Alter Ego schlüpfte, in die knallharte Polizistin, die alles wegsteckte – oder sich das zumindest einbildete. Nun verstand ich, weshalb Sasha uns erlaubt hatte, Abbys Zimmer zu betreten: Der erbarmungswürdige Zustand der Kleinen überzeugte selbst den größten Skeptiker davon, dass ihr Leben an einem seidenen Faden hing. Am liebsten hätte ich das bemitleidenswerte, mutter- und vaterlose Mädchen in die Arme geschlossen, doch das war natürlich vollkommen unmöglich. Der Gedanke, dass man sie irgendwann aus dem künstlichen Koma holen und ihr erklären würde, dass ihre Eltern tot waren, stimmte mich unendlich traurig.

Oder wusste sie schon, was geschehen war?

Was wusste sie überhaupt?

Das war hier die große Frage.