KAPITEL 15
Wir achteten nicht auf die rote Ampel und überquerten die Bergen Street. Ben, der als Erster die Kreuzung erreichte, wäre fast mit den drei Musketieren zusammengestoßen.
»Wow!« Der Bursche mit den spitz zulaufenden Koteletten und den gelb-roten Turnschuhen hob die Hände, reckte das Kinn und lächelte verkniffen. »Du bist aber schnell!«
Anschließend liefen er und seine kichernden Freunde die Bergen Street Richtung Court Street hoch. Ich blieb stehen und schaute ihnen hinterher. Wohin gingen sie eigentlich Tag für Tag? Ständig legten sie zur selben Uhrzeit die gleiche Strecke zurück, sodass man die Uhr nach ihnen stellen konnte.
Von weitem erblickte ich an der Kreuzung Bergen und Court Street die große römisch-katholische Kirche St. Paul’s, an der ich schon zig Mal vorbeigelaufen war. Die Kirche von Pater X. Die Kirche, der die Dekkers angehört hatten. Ich sah, dass Ben schon an der nächsten Ecke wartete, und musste mich sputen.
Während ich ihm nachjagte, überlegte ich, ob die drei Musketiere, diese Vagabunden in den adretten Teenagerklamotten, womöglich die Männer waren, die Pater X mit Gelegenheitsjobs versorgte. Bei seinem letzten Anruf hatte Reed Dekker den Pater um eine Empfehlung gebeten. Die Vorstellung, dass einer dieser Männer im Haus der Dekkers gewesen war und die Heizkörper repariert hatte, jagte mir einen Schauer über den Rücken. Hatte dieser Mann dort Abby angetroffen? Und was dann? Unwillkürlich musste ich an den Fall Elizabeth Smart denken: Ihr Kidnapper – ein Obdachloser und Bibel schwenkender Pädophile – hatte sie entdeckt, als er das Dach ihres Elternhauses reparierte. Eine ganz Weile lang hatte er sie beobachtet, bevor er sie mitnahm und neun Monate lang als »Zweitfrau« gefangen hielt.
Gut möglich, dass ich während des Polizeidiensts zu viele richtig miese Typen kennengelernt hatte, aber die Resozialisierung kaputter Seelen war meines Erachtens ein sinnloses Unterfangen. Meine Devise lautete: Schütze deine Familie, und halte Fremde auf Distanz. Schließlich hatte ich auf die harte Tour lernen müssen, wie trügerisch der erste Eindruck oftmals war. Nicht jeder verdiente Nachsicht und Güte.
»Ben, komm her!«, rief ich. Er hatte schon die übernächste Kreuzung erreicht. Nun wandte er sich um, sah, wie ich ihn heranwinkte, und kam sogleich angerannt.
An der Ampel überquerten wir die Court Street. Ich erhaschte einen Blick auf den letzten der Musketiere, der gerade durch ein Tor auf der Congress Street ging und damit aus meinem Blickfeld verschwand. Ben und ich folgten ihm. Wir blieben vor dem schmiedeeisernen Tor stehen, hinter dem sich ein kleiner Hof mit einer Statue von einem betenden Mädchen und der Kircheneingang befanden. Auf einem Schild am Tor stand: Grabstätte von Cornelius Heeney, Gründer der Brooklyn Benevolent Society und Gönner der Pfarrgemeinde von St. Paul’s, 1836. Wir schlenderten zum Haupteingang auf der Court Street, wo ein weiteres Schild angebracht war: Römisch-katholische Kirche St. Paul’s und St. Agnes.
Die drei Musketiere gehörten also in der Tat zu den Schäfchen, um die Pater X sich kümmerte. Hatten sie womöglich die Dekkers gekannt?
»Lass uns nach Hause gehen, Ben.« Ich setzte mich in Bewegung und holte mein Handy heraus.
»Können wir Eiscreme besorgen?« Er reckte den Kopf und zeigte auf das Blue Marble.
»Später. Zuerst essen wir zu Mittag.«
Mürrisch eilte er davon. Während ich versuchte, mit meinem überaus flinken Sohn Schritt zu halten, rief ich Billy an.
»Genau das mag ich«, scherzte er. »Da ruft mich jemand an und keucht nur in den Hörer.«
»Hör mal, Billy, es gibt da drei unheimliche Typen, denen ich immer wieder begegne, und die sind gerade eben in die Kirche von Pater X gegangen.«
»Ja, und?«
»Hast du mir nicht gesagt, die Dekkers hätten im Rahmen der Kirche notleidende Menschen unterstützt?«
»Worauf willst du hinaus?«
»Von dir weiß ich, dass Reed Dekkers letzter Anruf Pater X galt. Brauchte er nicht jemanden, der seinen Heizkörper reparierte?«
»Das Ding sollte gestrichen werden.«
»Wie auch immer.«
»Für Polizisten macht das einen Unterschied, Karin.«
»Würde einer von diesen Typen einen Fuß in mein Haus setzen, wäre ich zutiefst beunruhigt. Kannst du da nicht mal nachhaken?«
Er schwieg. Seufzte. »Sicher. Warum nicht? Den Punkt setze ich sofort auf meine Liste, gleich unter Abbys vermeintliche Facebook-Aktivitäten.«
Sein Kommentar brachte mich auf den Boden der Tatsachen zurück. »Vermeintlich?«
»Der Zeitpunkt ist gerade ungünstig. Ich habe viel zu tun. Wir reden später.«
Dass er mich mit einer solchen faulen Ausrede abspeiste, wurmte mich.
Kurz vor dem Ziel verlangsamte ich das Tempo, während Ben auf unser Haus zupreschte. Ungeachtet der Tatsache, dass Billys herablassende Art mich ärgerte, konnte ich ihn auch verstehen: Hatte man es mit einem scheinbar unlösbaren Fall zu tun – oder wie in seinem Fall gleich mit Dreien, zwischen denen womöglich eine Verbindung existierte -, gaben alle anderen ihren Senf dazu und erteilten gute Ratschläge, wie man den Täter fassen würde. Ich konnte durchaus nachvollziehen, wie sehr es seine Geduld strapazierte, jedem ein Ohr zu leihen und kostbare Zeit zu verlieren, die man weitaus sinnvoller nutzen konnte. Nur hatte gerade ich ihn angerufen und nicht irgendein Wichtigtuer. Dass ich den Polizeidienst quittiert hatte, änderte doch nichts an meinen Fähigkeiten. Warum hatte Billy mich einfach so abgespeist? Verhinderte das PTBS oder die Furcht, von seinen Kollegen entlarvt zu werden, dass er sich voll und ganz auf seine Arbeit konzentrierte? Vielleicht, dachte ich, während ich für Ben die Haustür aufschloss, sollte ich mich das nächste Mal mit einem begründeten Verdacht lieber an La-a wenden. Damit würde ich zwar ihr Misstrauen ihm gegenüber weiter schüren, was ihr bestimmt zupasskäme, und Billy in den Rücken fallen. Andererseits war ich längst über den Punkt hinaus, falsche Rücksichten zu nehmen.
Mehr und mehr gelangte ich zu der Überzeugung, dass ein Zusammenhang zwischen Chalis Mord und den Ereignissen auf der Nevins Street existierte. Da gab es Überschneidungen, Gemeinsamkeiten: tote Prostituierte, die im Kindesalter von der Bildfläche verschwanden, die erst elfjährige Abby die unweit eines Tatortes halbtot aufgefunden wurde, die ermordete Chali, die Kinderbraut aus einem Land, in dem Menschenhandel an der Tagesordnung war, und jetzt Dathi, die nun unter meiner Obhut stand. All diese Puzzleteilchen ergaben zusammengesetzt ein neues und erschreckendes Bild. Mädchen verschwanden und tauchten Jahre später wieder auf, wobei das, was ihnen widerfahren war, sie grundlegend verändert hatte. Mit so etwas rechnete man in der Dritten Welt. Aber hier? An der kultivierten Ostküste Nordamerikas? In einem der wohlhabendsten Viertel New Yorks? Der Gedanke verwirrte mich.
Und dennoch ... Nachbarn, Freunde, Priester, Perverse – all die Menschen, die mit dem Tod in Berührung kamen – wandelten am Rand der Finsternis. Meine Aufgabe war es, Licht ins Dunkel zu bringen, ihnen ihre Geheimnisse zu entlocken, denn irgendwann würde Dathi bohrende Fragen stellen, und ich musste ihr dann Rede und Antwort stehen. Nun, da sie Teil meiner Familie – meines Lebens – war, hatte ich die Pflicht, den Mörder ihrer Mutter aufzuspüren. Dabei ging es nicht nur um Dathis Seelenheil. Nein, ich musste auch dem Ungeheuer Einhalt gebieten, das diese unschuldigen Mädchen auf dem Gewissen hatte.
* * *
Kaum hatte Dathi im Flur ihre Jacke aufgehängt und die Turnschuhe ausgezogen, bat ich sie, sich in ihren Facebook-Account einzuloggen.
»Ja, super!«, erwiderte sie – ein wenig zu unbefangen für meinen Geschmack. Irgendwie konnte ich mich nicht des Eindrucks erwehren, dass sie erschöpfter war, als sie zugab. Hatte sie einen harten Schultag hinter sich? Es betrübte mich, dass ich ihr das Leben nicht leichter machen konnte.
Sie setzte sich mit meinem Notebook an den Küchentisch und rief mich kurz darauf zu sich.
Auf dem Bildschirm war eine Nahaufnahme von Abby zu sehen, die mit den Fingern an ihren Wangen zog. Auf dem Bild wirkte ihr Haar noch heller als in der Realität.
»Witziges Foto«, meinte ich.
»Sie hat es wahrscheinlich selbst gemacht, mit ihrer Webcam.«
Ich schaute mir die winzigen Fotos ihrer unzähligen Freunde an, die gerade online waren. Die meisten Schnappschüsse waren so albern wie die von Abby; die Mienen der Erwachsenen, die sich locker gaben, wirkten allerdings einstudiert.
»Du liebe Zeit, sie kennt wirklich sehr viele unterschiedliche Leute.« Dass eine so große Zahl von ihren Freunden erwachsen war, befremdete mich. War das normal für ein Kind, das im Netz Kontakte pflegte? Mein Bauch verneinte diese Frage. Dass einige ihrer Freunde Lehrer oder Freunde ihrer Eltern waren, verwunderte kaum – doch welche Erklärung gab es für die vielen erwachsenen Männer?
»Siehst du, die letzte Statusmeldung stammt von dem Tag, an dem sich der Unfall ereignete.« Dathi tippte mit dem Finger auf den Bildschirm. Auf dem Fingernagel leuchtete ein purpurner Nagellackklecks, der heute Morgen noch nicht da gewesen war. Als sie mitbekam, dass ich davon Notiz genommen hatte, hob sie demonstrativ beide Hände: zehn Nägel, zehn rote Tupfer. Sie lächelte verschmitzt. »Die hat Tiffany in der Mittagspause gemacht.«
»Sieht gut aus«, log ich. Diese Tupfer waren weder schön noch unschön, sondern einfach nur albern. Unter was für einem Druck stand Dathi, und wie sehr machte ihr das zu schaffen?
Sie klickte ihr Profil an, wo sie ein Foto von sich und ihrer Mutter eingestellt hatte, das in Indien aufgenommen worden war. Wie Dathi, die auf dem Bild noch klein war, trug auch Chali einen orangefarbenen Sari und lachte vergnügt. Die Aufnahme stimmte mich traurig. Dann klickte Dathi das kleine Erde-Symbol in der Toolbar an, woraufhin eine Liste mit Nachrichten angezeigt wurde.
»Siehst du das? Gestern Abend hat sie meine Freundschaftsanfrage akzeptiert.«
Ich nickte. »Gut«, log ich. Meines Erachtens war es vollkommen unmöglich, dass Abby geantwortet hatte, es sei denn, sie versteckte irgendwo in ihrem Krankenhauszimmer einen Laptop, oder einer ihrer Besucher hatte ihr sein Notebook oder ein Smartphone geliehen.
Doch all das ergab keinen Sinn, denn im Moment erlaubte Abbys Zustand derlei Aktivitäten überhaupt nicht.
»Ich würde sie sehr gern kennenlernen«, verkündete Dathi.
Ein Blick auf sie verriet, wie einsam sie sich fühlte. Zweifellos sehnte sie sich nach einer Freundin, einer echten Freundin. Aber warum fiel ihre Wahl ausgerechnet auf Abby? Und wie sollte das funktionieren?
»Wir werden sehen. Hast du Hausaufgaben gekriegt?«
Sie zog einen dicken Stapel Bücher aus ihrem Rucksack und machte sich an die Arbeit.
Ich ging nach unten, sah nach Ben, schlich ins Schlafzimmer und wählte Billys Nummer.
»Die Facebook-Seite existiert«, berichtete ich. »Ich habe das überprüft. Jemand hat Dathis Anfrage gestern Abend tatsächlich beantwortet.«
»Karin, wegen vorhin ... Sorry, ich war einfach ... Du weißt schon ...«
»Ist okay.« Was ich in Wahrheit dachte, behielt ich für mich. »Hör mal, hältst du’s für möglich, dass derjenige, der in der Mordnacht bei den Dekkers eingebrochen ist, irgendwie an Abbys Passwort gekommen ist?«
»Ich setze die CCU da ran. Die sollen sich mal ihren Account vornehmen. Scheiße ... wieso sind sie nicht von allein darauf gekommen?«
»Sie haben nicht daran gedacht.«
»Ich mach denen jetzt Beine.«
»He, Billy, bevor du auflegst ... Ich wollte noch sagen, mir tut es auch leid.«
»Was denn?«
»Dass ich dich so unter Druck setze.«
»Ich weiß nicht, worauf du anspielst.«
Natürlich wusste er ganz genau, was ich meinte: Ich wollte, dass es ihm besserging, dass er sich Mühe gab, dass er sich seinen Dämonen stellte und – damit nicht genug – einen Serienmörder schnappte.
»Stürz dich wieder in die Arbeit, Billy.«
»Hör endlich auf, mir zu sagen, was ich tun soll.«
Wir lachten und legten auf.
* * *
Tags darauf ging Dathi allein zur Schule. Überhaupt verlief der Morgen gerade so, als wäre es nie anders gewesen: Wir frühstückten gemeinsam, um zehn nach acht machte Dathi sich auf den Weg zur Bushaltestelle, um zehn vor neun verließ ich mit Ben das Haus, und Mac ging kurz nach mir in sein neues Büro, sodass ich bei meiner Rückkehr um Viertel nach neun das Haus für mich allein haben würde.
Nur dass ich heute nicht nach Hause ging. Auf dem Rückweg keimte mein Interesse abermals auf – oder meine Obsession oder Paranoia -, als ich sah, wie die drei Musketiere die Smith Street hinunterschlenderten. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund nahm ich an diesem Morgen Anstoß an ihrer morgendlichen Routine. Wieso hatte ihr Alltag etwas von einem Schweizer Uhrwerk, wo man sie beim besten Willen nicht als ganz normale Durchschnittsbürger bezeichnen konnte? Darüber hinaus strahlten sie eine Selbstzufriedenheit aus, die sie, wie ich spürte, nicht verdienten.
Morgen für Morgen marschierten sie um neun Uhr die Smith Street hoch. Punkt zwölf Uhr mittags gingen sie die Smith Street hinunter in Richtung St. Paul’s.
Was machten sie in der Zwischenzeit?
Und was hatten sie eigentlich mit Pater X, seiner Kirche und den Dekkers zu schaffen?
So blieb ich kurz stehen, schaute den nach Nikotin riechenden Burschen hinterher und folgte ihnen.
Irgendetwas an ihnen störte mich gewaltig und brachte mich dazu, auch dem kleinsten Verdacht nachzugehen. Mir ging es nicht nur darum, die Mordfälle zu lösen, sondern auch um Billys Wohlergehen. Es reichte nicht, dass George und La-a seinen Namen auf mein Drängen hin von der Liste der Verdächtigen gestrichen hatten. Es würde erst Ruhe geben, wenn er über jeden Zweifel erhaben war.
Sie überquerten die Pacific Street, marschierten an einer Schülerlotsin in orangefarbener Weste vorbei und nickten ihr im Vorbeigehen zu.
»Hi, Jungs«, hörte ich sie sagen.
An der Atlantic Avenue bogen sie nach Osten ab. In diskretem Abstand folgte ich ihnen und erreichte ebenfalls die Atlantic. Genau diese Strecke fuhr Dathis Bus ab, der B63. Die Musketiere blieben vor der Haltestelle stehen und warteten. Nahmen sie morgens auch immer den B63? Was, wenn Dathi sich irgendwann mal verspätete und in denselben Bus wie sie stieg? Der Gedanke ließ mich schaudern. Ich musste erfahren, was sie taten.
Ganz beiläufig blieb ich ein paar Meter vor der Haltestelle stehen und tat so, als wäre dies das Normalste der Welt. Die drei jungen Männer redeten in einem fort. Es gelang mir, Bruchstücke ihrer bemerkenswert geistlosen Unterhaltung aufzuschnappen: Mit Hingabe diskutierten sie über Schnürsenkel und Doppelknoten, anschließend über Ketchup und darüber, wie oft man die Flasche schütteln musste, bis etwas herauskam. Gerade als ich anfing, sie gar nicht mehr so grässlich zu finden, entfernte sich der Größte von seinen Kameraden und stellte sich in den überdachten Eingang eines Copy-Shops, der noch nicht geöffnet hatte. Er trug gebügelte Jeans, schneeweiße Turnschuhe, eine schwarze Jacke und ein weißes Sweatshirt mit Kapuze, die er jedoch nicht über den Kopf gezogen hatte. Mit dem Rücken zum Verkehr öffnete er seinen Hosenstall, woraufhin ich mich schnell abwandte. Als er wieder bei seinen Freunden stand, warf ich einen Blick nach hinten und sah eine Urinlache auf dem schneebedeckten Bürgersteig. Das bisschen Sympathie, das ich ihnen eben noch entgegengebracht hatte, verflüchtigte sich schlagartig.
Der B63 kam und fuhr wieder weg, ohne dass die Musketiere einstiegen. An dieser Haltestelle hielt auch der B65. Da ich noch nie mit ihm gefahren war, kannte ich seine Strecke nicht, doch als er ein paar Minuten später auftauchte, traten die jungen Männer an die Bordsteinkante. Ich stellte mich hinter sie, zückte meine Monatskarte und wählte einen Platz, von dem aus ich sie belauschen konnte. Dabei achtete ich darauf, ihnen nicht zu nahe zu kommen, denn ich wollte vermeiden, dass sie mich bemerkten.
Sie ließen sich ganz hinten nieder und quatschten unablässig. Nicht zum ersten Mal fand ich, dass sie sich wie Schulmädchen aufführten, nur dass ich dies heute anders interpretierte. Seit meiner eigenen Teenagerzeit, die zugegebenermaßen schon eine Weile zurücklag, hatte ich keinen Kontakt zu Jugendlichen gepflegt. Aber seit Dathi in unser Leben getreten war, fand ich mich plötzlich in dieser Welt wieder und erinnerte mich an die einst auch für mich geltende Norm: Man musste sich total cool geben und durfte niemals Schwäche zeigen, sonst war man erledigt. Grausamkeit bestimmte das Miteinander; der soziale Druck war immens. Um zu überleben, musste man sich bis zum letzten Schultag den Regeln beugen, und dann war man frei – bis zur High School. Mehr denn je erinnerten die drei Musketiere mich an eine Teenagerclique. Doch was verband diese drei jungen Männer miteinander?
An der 3rd Avenue bog der Bus ab und fuhr die Dean Street hoch. Kurz vor der Haltestelle auf der Classon Avenue sprangen die Musketiere auf und stellten sich vor den Ausstieg. Erst in allerletzter Sekunde sprang ich aus dem Bus auf die heruntergekommene Straße, wo mein Blick auf verlassen wirkende Lagerhäuser, eine geschlossene Autowerkstatt und ein paar niedrige Backsteingebäude fiel. Hier wohnte man nur, wenn man keine Alternative hatte. Auf der anderen Straßenseite wartete eine große Schar Männer und Frauen, deren Verhalten dem der drei Musketiere ähnelte, vor der Tür eines Backsteingebäudes. Ich konnte nicht abschätzen, ob die Menschenmenge, die sich hier eingefunden hatte, für mich von Vorteil oder von Nachteil war. Mit stur nach vorn gerichtetem Blick ging ich im Schneckentempo entlang meiner Straßenseite, während die Tür des Backsteingebäudes geöffnet wurde und die Leute davor sich brav hintereinander anstellten.
Ich wartete, bis alle Einlass gefunden hatten. Dann überquerte ich die Straße und las, was auf dem kleinen Türschild stand: Behandlungszentrum St. Vincent de Paul, Mary Immaculate Hospital, Öffnungszeiten Mo-Fr. 9:30-16:00.
Das hier war also die Methadon-Klinik, welche die Dekkers finanziell unterstützt hatten. Anscheinend war niemand auf die Idee gekommen, mit einem größeren Schild Werbung für sie zu machen. Doch wenn man es recht überlegte, war dies sowieso egal, denn die Menschen fanden auch so hierher. Vermutlich blieb den meisten Besuchern gar keine andere Wahl; es war davon auszugehen, dass einige von ihnen von einem Richter zu dieser Ersatztherapie verdonnert worden waren.
Ich gab mir einen Ruck, öffnete die Tür und trat in einen niedrigen, aber riesigen Raum mit beigefarbenen Wänden, von denen die Farbe bröckelte. Ein Teil der Wartenden hatte auf den am Boden festgeschraubten Plastikstühlen Platz gefunden. Die anderen harrten vor einer kleinen Durchreiche aus, die zu einem Büro gehörte. Um nicht aufzufallen, stellte ich mich ebenfalls an. In der Durchreiche lag ein Klemmbrett mit einer Liste, wo die Leute sich eintrugen, ehe sie Platz nahmen. Während ich wartete, entwarf ich einen Schlachtplan. Wo ich schon mal hier war, konnte ich die Gelegenheit nutzen und rausfinden, wer die drei Musketiere waren.
Zwischen mir und dem letzten Musketier warteten fünf Leute. Glücklicherweise standen die drei jungen Männer gemeinsam an. Als ich an der Reihe war, musterte mich ein Mann in einem grünen Krankenhauskittel mit dunklen Augenringen. Ich verkniff mir ein Lächeln und senkte den Blick in der Hoffnung, dass er mir keine Fragen stellte. Vermutlich forderte man mich irgendwann auf, meinen Ausweis vorzuzeigen. Ohne gültige Papiere erhielt man kein Methadon. Da die Süchtigen sich hier nur anstellten und eintrugen, lag der Verdacht nahe, dass sie sich bei der Ausgabe der Tagesdosis ausweisen mussten. So weit würde ich das Spiel allerdings nicht treiben.
Ich nahm den Stift und trug mich ein. Nicht mit meinem echten Namen, sondern als Janice Doen. Ich schrieb in Zeitlupentempo, um mir die Namen der drei Musketiere einzuprägen.
Marty Brilliant.
Iggy Black.
Jose R. Seraglio.
Auf dem Weg nach draußen wiederholte ich stumm ihre Namen. Auf dem Bürgersteig nahm ich mein Smartphone zur Hand und schickte eine Mail mit den drei Namen an mich. Anschließend verstaute ich das Handy in meiner Tasche und marschierte die Classon Avenue hinunter bis zur überdachten Bushaltestelle, wo ich mich unterstellte. Dass weit und breit kein Mensch zu sehen war, behagte mir gar nicht. In dem Moment rief jemand meinen Namen.
»Karin! Was haben Sie denn hier zu suchen?«
Ich hob den Blick und brauchte einen Moment, bis ich die Frau wiedererkannte.
»Mary. Tai-Chi. Richtig?«
»Na, den Job habe ich wenigstens noch.«
Wir lächelten verlegen. Begleitet wurde Mary von einem großen dunkelhäutigen Teenager mit einem Anflug von Oberlippenbart und einer schräg sitzenden Wollmütze. Ein Schwall eisiger Luft veranlasste sie, sich ebenfalls unterzustellen. Obwohl wir uns kaum kannten, ließ uns die Kälte zusammenrücken.
»Sie haben Ihre anderen Jobs verloren?« Ich entsann mich, dass sie bei unserer ersten Begegnung von drei Stellen gesprochen hatte.
»Ja, zwei innerhalb von einer Woche. Und Fremont hier sucht eine Teilzeitstelle, aber für Teenager gibt’s nicht viel.« Während mein Blick von ihr zu ihm wanderte, packte sie die Gelegenheit beim Schopf und stellte ihn mir vor. »Mein Sohn, Fremont. Das ist ...«
»Karin.«
Wir nickten einander zu.
»Fremont hat heute schulfrei«, erklärte Mary. »Lehrersitzung oder so etwas ...«
Der Bus kam, und wir stiegen ein.
Auf der Fahrt zu meiner Haltestelle, die sich direkt vor dem CVJM befand, erfuhr ich, dass Mary alleinerziehende Mutter und Fremont ihr einziges Kind war. Ich war mir zwar nicht ganz sicher, aber ich hatte den Eindruck, dass sie nie verheiratet gewesen war, zumal Billy mir von ihrer sexuellen Neigung erzählt hatte. Aber auch wenn sie lesbisch war, hieß das noch lange nicht, dass es in ihrem Leben nie einen Mann gegeben hatte. Laut Mary hatten sie und Fremont schon vor der Sanierung in Prospect Heights gewohnt. Damals musste es in diesem Viertel wirklich schlimm gewesen sein, denn während meiner Stippvisite dort war mir nicht aufgefallen, dass man irgendein Gebäude verschönert hatte.
»Und ... was hat Sie zu uns rausgeführt?«, wollte Mary erfahren, nachdem wir ausgestiegen waren. Wir blieben auf dem Gehweg stehen, während der Bus sich wieder in den Verkehr einfädelte.
»So eine Art von informeller Ermittlung«, antwortete ich.
Meine kurze Erwiderung reichte, um Marys Interesse zu wecken. »Ich habe all diese Berichte in den Nachrichten verfolgt, weil ich ein echtes Faible für wahre Verbrechen habe. Ich verschlinge alle Artikel, die mir in die Hände kommen, und manchmal lese ich sogar Bücher zu diesem Thema.«
»Die sie versteckt, sobald wir Besuch kriegen«, fügte Fremont hinzu.
»Viele Leute finden es merkwürdig, wenn man sich für so etwas interessiert«, erklärte Mary. »Keine Ahnung, warum ich darauf stehe, aber ich kann es nicht ändern.«
»In dem Fall kennen Sie vielleicht auch meine Geschichte.« Ehe ich mich’s versah, erzählte ich ihr von meiner ersten Familie und was ihr zugestoßen war, obwohl ich darüber normalerweise nicht mehr sprach. Mary hakte sich bei Fremont unter, lauschte andächtig und zog ihn an sich heran, als ich endete. Tränen verschleierten ihren Blick, und sie schlang den anderen Arm um mich, als wären wir alte Freundinnen.
»Hören Sie«, sagte ich und rückte von ihr ab. »Es mag verrückt klingen, aber falls Sie gleich wieder loslegen möchten und es nicht unter Ihrer Würde ist, hätte ich vielleicht einen Job für Sie. Eigentlich handelt es sich um zwei Jobs: Jemand muss nachmittags auf meinen Sohn aufpassen, er ist fast vier, und Mac, mein Mann, braucht morgens jemanden fürs Büro. Er ist Privatdetektiv.«
Mary strahlte bis über beide Ohren. »Zwick mich mal!«, bat sie Fremont.
Er brach in schallendes Gelächter aus.
»Super, Karin!«, rief Mary aus. »Eben habe ich noch zu Fremont gesagt, wie gern ich früher mit ihm gespielt und herumgetollt habe. Und ich würde alles dafür tun, um für einen Privatdetektiv zu arbeiten. Wirklich alles.«
»Dann nehmen Sie mein Angebot an?«
»Ich habe schon überlegt, woher ich das Geld für die nächste Miete kriegen soll.«
Fremont warf ihr einen besorgten Blick zu. »Das wusste ich nicht, Mom.«
»Schon gut. Ich habe gerade zwei neue Stellen an Land gezogen! Was habe ich dir gesagt? Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich irgendwo eine andere.«
»Könnten Sie morgen Nachmittag vorbeikommen?
Dann können Sie Mac kennenlernen, und wir sprechen die Details durch.«
»Perfekt.«
Wir gingen in verschiedene Richtungen, drehten noch mal die Köpfe und winkten uns zu. Einer wildfremden Frau so ein Angebot zu machen barg ein gewisses Risiko, doch ich hielt es für eine ausgezeichnete Idee, zumal ich Mary für kompetenter als Star hielt. Und auch wenn es unter Umständen auf lange Sicht nicht funktionierte, war es kein Fehler, es mit ihr zu probieren. Möglicherweise war das der »wahre« Grund, weshalb ich die drei Musketiere heute Morgen bis zur Classon Avenue verfolgt hatte! Oder vielleicht war es Karma, dass Mary mir genau in dem Moment über den Weg lief, wo wir einander brauchten? Oder traf am Ende gar beides zu: Mein Wissensdurst hatte mich veranlasst, den Musketieren nachzugehen, und mein Karma hatte mich Mary treffen lassen?
Während ich die Atlantic Avenue überquerte und auf den Boerum Place zusteuerte, rief ich Mac an und erzählte ihm die Neuigkeiten. Er reagierte prompt und heftig.
»Du hast was gemacht?«
Ich begann noch mal von vorn mit meiner Schilderung der Ereignisse.
»Wir reden später«, sagte er und hängte auf, als im Hintergrund etwas scheppernd zu Boden fiel. Dem entnahm ich, dass Star zur Arbeit erschienen war. Mac würde mir schon noch dankbar sein für meine heutige Entscheidung, redete ich mir ein.
Als Nächstes rief ich Billy an und erzählte ihm von meinem zufälligen Zusammentreffen mit Mary. Dass ich den drei Musketieren zur Methadon-Klinik gefolgt war, behielt ich für mich. Aller Wahrscheinlichkeit nach hieß er es nicht gut, dass ich im Dekker-Fall auf eigene Faust ermittelte, und da ich nur mit seiner Hilfe herausfinden konnte, wer sie waren, musste ich den richtigen Zeitpunkt abpassen.
»Was bringt dich denn auf die Idee, eine Tai-Chi-Lehrerin anzuheuern?«
»Sie sucht Arbeit, und ich finde sie großartig.«
»Gut.« Bei ihm läutete ein Telefon, und jemand rief lautstark nach einem Kollegen. Dass er auf dem Revier war, beruhigte mich irgendwie.
»Wusstest du, dass ihr Sohn schwarz ist?«, fragte ich Billy.
»Halb schwarz. Sie hat mir die Geschichte erzählt. Damals lebte sie mit ihrer Freundin zusammen und hat sich künstlich befruchten lassen. Sie dachte, das wäre eine längerfristige Geschichte. Zu dumm, dass die Beziehung die Elternschaft nicht überlebt hat.«
»Nun, der Junge macht einen netten Eindruck. Mutter und Sohn stehen sich offenkundig sehr nahe.«
»Sie ist ganz verrückt nach ihm, so viel ist sicher.«
»Billy, kannst du mir einen Gefallen tun? Könnte ich kurz bei dir auf dem Revier vorbeischauen?«
»Wann?«
»Jetzt gleich?«
»Was, wenn ich dir sagen würde, dass ich gar nicht auf dem Revier bin.«
»Dann würde ich dir sagen, was für ein schlechter Lügner du bist.«
Nach dem Telefonat schickte ich Mac eine SMS, schrieb, dass ich noch etwas zu erledigen hatte, und fragte ihn, ob er Ben abholen könnte. Er antwortete sofort und sagte zu, für mich einzuspringen. Erleichtert steckte ich das Handy in meine Handtasche und machte mich auf den Weg zum 84. Polizeirevier.