KAPITEL 11

Ich kleidete Ben für den Kindergarten an, während Mac am Herd Haferflocken in die Milch rührte. Nichts an diesem Morgen war ungewöhnlich, und normalerweise hätte ich mich darüber gefreut, aber leider hatte ich in der vergangenen Nacht kein Auge zugetan. Die Tatsache, dass die andere SOKO, diese inoffizielle Phantomeinheit - diesen Ausdruck hatte ich mir ausgedacht – auf dem 72. Revier Billy unter die Lupe nahm, setzte mir ganz schön zu. Wohl wissend, dass die Nachricht Mac noch stärker unter die Haut gehen würde als mir, hatte ich ihn bisher nicht eingeweiht. Es galt, ein Deja-vu zu vermeiden: Vor achtzehn Monaten hatten wir erfahren müssen, dass ich mich in meiner guten Freundin Jasmine gewaltig getäuscht hatte. Der Gedanke, dass Billy meinen Mann hinters Licht führte, war vollkommen abwegig, denn Billy war nicht nur Macs bester Kumpel, sondern ein herzensguter Mensch, und niemand würde mich vom Gegenteil überzeugen können.

Wir frühstückten, ehe ich zusammen mit Ben das Haus verließ und wir uns auf den Weg zum Kindergarten machten.

Die Diskrepanz zwischen der vorweihnachtlich geschmückten Straße und Abby Dekkers Foto, das an jedem Zeitungskiosk auf der Smith Street aushing, erfüllte mich mit Entsetzen. WIRD DER ENGEL WEIHNACHTEN AUS DEM KOMA ERWACHEN?, lautete eine Schlagzeile über einem Schnappschuss, auf dem Abby in einem Elfenkostüm einen Zauberstab schwenkte. Wo hatten sie nur dieses Foto aufgetrieben? Wie gebannt blieb ich davor stehen: dass die Presse eine ältere Aufnahme veröffentlichte, auf der Abby höchstens sechs oder sieben Jahre alt war, um auf diese Weise die Leser zu Tränen zu rühren, empörte mich.

Als ich merkte, dass Ben bereits an der nächsten Kreuzung auf mich wartete, setzte ich mich sofort in Bewegung und eilte zu ihm.

Wir begegneten einer Nachbarin, die uns ein Lächeln schenkte.

Die drei Musketiere kamen um die Ecke und schlenderten die Smith Street hinunter.

Kaum zu fassen, aber das Leben ging irgendwie weiter.

Ich legte die Hand auf Bens Schulter, damit er nicht die Straße überquerte und ich den drei Obdachlosen hinterherschauen konnte, die ihrer Wege gingen. Warum ich sie für obdachlos hielt, obwohl sie immer saubere und neu aussehende Klamotten trugen, war mir selbst ein Rätsel. Ich fragte mich auch, wieso ich an ihnen Anstoß nahm. Konnte man überhaupt jemanden so sehen, wie er in Wahrheit war? Oder ließen wir uns alle von Trugbildern und Vorurteilen leiten? Erneut musste ich an George, La-a und Billy denken, doch ich bemühte mich sogleich, den unerquicklichen Vorfall schnell wieder zu vergessen.

Nachdem ich Ben im Kindergarten abgeliefert hatte, beschloss ich, zum Yogaunterricht im CVJM zu gehen, anstatt – wie geplant – die Koffer für unseren Trip nach Kalifornien zu packen. Ich musste irgendwie versuchen, auf andere Gedanken zu kommen.

Im hintersten Winkel des Raumes rollte ich meine Matte aus, legte die zusammengefaltete Decke, den Schaumstoffwürfel sowie den Gurt darauf und wartete auf die Lehrerin. Gerade als ich mich setzen wollte, warf ich einen Blick durch die Jalousie vor der Glaswand, die das Yogastudio von dem riesigen Basketballfeld einen Stock tiefer trennte, und meinte, Billy zu erkennen. Ich hob eine Lamelle und vergewisserte mich, dass ich mich nicht getäuscht hatte. Im selben Outfit wie gestern stand Billy vor einer jungen Frau mit langen rostbraunen Haaren, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Ihre ganze Erscheinung – schwarze Leggings, weites Baumwollhemd, kein Make-up und kein Schmuck – verliehen ihr genau jene Art von Einfachheit, die Billy momentan gut gebrauchen konnte. Die beiden standen einander barfuß gegenüber und schauten sich in die Augen, während er jede ihrer Bewegungen nachahmte. Allem Anschein nach versuchte er wirklich, sein PTBS in den Griff zu kriegen. Ich hatte also mit meinen Worten, die ich La-a und George am vergangenen Tag an den Kopf geworfen hatte, recht behalten: Billy stellte sich seinen Problemen – und damit war das Thema erledigt.

Ich setzte mich auf die Decke, schloss die Augen und spürte ganz deutlich, wie sich Erleichterung in mir breitmachte.

Eine gute Stunde später schlenderte ich locker und entspannt durch die sonnendurchflutete Lobby und lobte mich im Nachhinein für meine Entscheidung, zum Unterricht zu gehen.

»Karin!«

Ich drehte mich um und erblickte Billy und die Frau, die ihn unterrichtet hatte; beide trugen nun Mantel und Mütze. »Ich war im Yogastudio und habe euch gesehen.«

»Das hier ist Mary Salter, meine Tai-Chi-Lehrerin.«

»Ich bin Karin.« Ich reichte ihr die Hand. Ihre war weich und trocken; ich mochte die Frau sofort. Jetzt, wo wir uns direkt gegenüberstanden, wirkte sie größer als aus der Ferne, obwohl man sie nicht als Riesin bezeichnen konnte. Sie hatte ein angenehmes Lächeln, wirkte selbstsicher und geerdet. Dunkle Schatten rahmten ihre warmen braunen Augen ein und ließen sie älter erscheinen, als sie wahrscheinlich war. Ungeachtet dessen, dass sie weder jung noch besonders schön war, konnte man sie durchaus als attraktiv bezeichnen.

»Erste Stunde?«, fragte ich.

»Ja.«

»Wie ist es gelaufen?«

»Er hat sich gut gemacht«, antwortete Mary und lächelte Billy an.

»Frisch gewagt ist halb gewonnen«, meinte ich.

Billy verdrehte die Augen. »Stickst du das auf ein Kissen, oder soll ich das selbst tun?«

»Das übernehme ich!« Mary lachte und zog sich ihren grünen Strickschal bis ans Kinn, als wir hintereinander durch die Drehtür nach draußen in die Kälte traten. »War nett, Sie kennenzulernen. Ich muss jetzt weiter ... Ich habe drei Jobs und bin immer in Eile.« Sie winkte zum Abschied und bog in die Court Street ein. Billy und ich gingen in die entgegengesetzte Richtung zur Kreuzung Atlantic Avenue und Boerum Place, wo sich der Verkehr vor der Brooklyn Bridge staute.

»Ihr beide passt gut zusammen.« Insgeheim war ich der festen Überzeugung, Billy täte sich mit einer neuen Lebensgefährtin leichter. Beziehungsscheue Menschen erregten häufig Argwohn. Mary war großartig. Besser hätte Billy es gar nicht treffen können.

»Karin!«, empörte sich Billy kopfschüttelnd, aber er grinste auch.

»Sie ist toll. Bist du blind?«

»Um ehrlich zu sein – ja.«

»So habe ich es nicht gemeint, und außerdem kannst du mit einem Auge sehen.«

»Karin, sie ist alleinerziehend und ...«

»Und?«

»Lesbisch.«

»Woher willst du das wissen. Du kennst sie erst seit kurzem.«

»Sie hat es mir gesagt.«

»Oh.«

»Oh«, äffte er mich nach und kicherte. »Wir sehen uns, wenn ihr aus Kalifornien zurück seid.«

An der Ecke gab er mir einen Kuss auf die Wange und lief weiter, während ich wartete, bis die Ampel auf Grün schaltete. Ich drehte mich absichtlich nicht um, denn ich kam mir wie ein Idiot vor und musste mir zudem eingestehen, wie dumm es war, die beiden verkuppeln zu wollen. In Wahrheit ging es mir nur um mein persönliches Wohlbefinden: Ich wünschte mir einen normalen, glücklichen und unbeschwerten Billy. Und ich drehte mich auch nicht um, weil es mir unmöglich war, etwas anderes in ihm zu sehen als den guten, alten Billy.

* * *

Am ersten Weihnachtsfeiertag war das Wetter in Venice Beach wunderbar warm. Von Jons und Andreas Haus in der Appleby Street konnte man den Strand, wo unsere Kinder auf dem Spielplatz tollten oder sich im Wasser vergnügten, gut zu Fuß erreichen. Die achtjährige Susanna, der fünfjährige David und Ben, der bald vier wurde, schafften es nicht, auch nur eine Minute ruhig zu sitzen. Ich lag auf einem verwaschenen, gestreiften Handtuch neben meiner Mutter im Sand, die kerzengerade auf einem Stuhl saß und einen großen Strohhut trug. Der lange Flug hatte ihrem Rücken stark zugesetzt. Andrea lümmelte sich auf einem Liegestuhl und achtete darauf, dass sich ihr Oberkörper unter dem Schirm und die gut gebräunten Waden in der Sonne befanden. Sie war gerade zum dritten Mal schwanger und hatte ihren runden, zwischen dem Bikinioberteil und -unterteil herausragenden Bauch mit einem Sonnenöl mit hohem Lichtschutzfaktor eingerieben. So gelassen wie an diesem Tag erlebte man sie selten. Der Strand war gut besucht. Ich richtete mich auf und sah, wie Mac und Jon am Wasser entlangspazierten und immer kleiner wurden. In der flirrenden Hitze schien alles zu verschwimmen: der Ozean, der Sand, die Sonnenbadenden, die Promenade, die Palmen und die Häuschen an der Küste.

Susanna leitete die Jungs an, wie man aus nassem Sand Türme für die Burg baute. Neuerdings trug sie eine Brille, deren Gläser in der Hitze beschlugen, und der Wind zerzauste ihr blondes Haar. Doch sie ließ sich von all dem nicht davon abhalten, ihre kleine Mannschaft zu beaufsichtigen. Meine Nichte hatte sich in eines von diesen klugen, gebieterischen Mädchen verwandelt, die der ganze Stolz ihrer Mütter sind. Während Mom und Andrea sich darüber den Kopf zerbrachen, wie eine fünfköpfige Familie in einem Haus mit drei Schlafzimmern – eines davon war ein begehbarer Kleiderschrank, in dem David sich eingenistet hatte – zurechtkommen sollte, musste ich an Cece denken, die jetzt neun Jahre alt gewesen wäre.

Ich suchte den Strand nach einem Mädchen ab, das so aussah, wie ich mir meine Tochter in diesem Alter vorstellte. Im flachen Wasser entdeckte ich ein großgewachsenes braunhaariges Mädel, das hysterisch lachte und ihren jüngeren Bruder gnadenlos mit Wasser bespritzte. Für einen Sekundenbruchteil genoss ich ihren Anblick; dann verschwamm ihr Bild, und ich machte mir bewusst, dass ich eine Fremde anstarrte. Als mein Blick kurz über Andreas geschwollenen Bauch huschte, kostete es mich einige Überwindung, nicht an meine andere Tochter zu denken.

Schatten, überall Schatten – trotz des gleißenden Sonnenlichts.

»Zuerst stecke ich Susie und Davie in den größeren Raum«, erklärte Andrea, »und stelle die Wiege in das kleine Kabuff. Je nachdem ob es ein Junge oder ein Mädel ist, können wir später immer noch entscheiden, wer sich mit wem das Zimmer teilt.«

Ihre Zuversicht, dass das Baby gesund und zum vorausberechneten Datum auf die Welt kommen würde, verstörte mich. Da ich mein Kind gegen Ende der Schwangerschaft verloren hatte, war ich bei diesem Thema längst nicht mehr so optimistisch wie meine Schwägerin.

Ich zwang mich, auch diesen Gedankengang nicht weiterzuverfolgen.

Dazu war dieser Tag einfach viel zu schön.

Ben kam angerannt und sprang auf meinen Schoß. »Wir sind hungrig!« Sand, Salzwasser und Sonnenmilch bildeten auf seiner Haut einen glitschigen Film, der mich allerdings nicht davon abhielt, ihn fest in die Arme zu schließen.

»Ist schon Mittag?«, fragte Mom.

Andrea drehte das Handgelenk und sah auf ihre Uhr. »Es ist nach eins.«

»Höchste Zeit, nach Hause zu gehen«, meinte Mom.

»Nein!« Susanna hatte sich mit in die Seiten gestemmten Fäusten vor uns aufgebaut. »Die Sandburg ist noch nicht fertig. Wir haben noch viel zu tun.«

Dass sie das königliche Wir verwendete, amüsierte mich, zumal sie die anderen die meiste Zeit nur beaufsichtigte. Offenbar war sie eine knallharte Chefin ohne einen Funken Mitleid für ihre Untergebenen.

»Ich habe auch Hunger«, verkündete der neben ihr stehende David.

»Was haltet ihr davon?« Ich stand auf und bürstete den Sand von meinen Beinen. »Ich gehe nach Hause und mache ein paar Sandwiches. Lust auf ein Picknick?«

Die Kleinen jubelten zustimmend und flitzten zu ihrer Sandburg zurück.

Dort, wo der Strand an die Promenade grenzte, zog ich meine Flipflops an und marschierte die Rose Avenue hinunter. Ein dünner Mann in Nikolausmütze, Shorts und T-Shirt stand auf dem Bürgersteig, läutete eine Glocke und hielt jedem Passanten eine Sammelbüchse mit einem Heilsarmee-Aufkleber unter die Nase. Ich spendete einen Dollar und lief weiter.

Ein Stück weiter scharte sich eine Menschenmenge um eine Gruppe Trommler. Ich blieb stehen. Fünf Jungs im Teenageralter produzierten einen nervösen, vielschichtigen Rhythmus, der so ansteckend wirkte, dass man Lust bekam zu tanzen. Ehe ich mich’s versah, bewegte ich mich mit den anderen, schwenkte die Hüften nach links und rechts, bewegte den Kopf auf und ab. Und dann bemerkte ich ein kleines Mädchen, das ihre Mutter an der Hand hielt und ebenfalls zur Musik tanzte. Ich konnte den Blick nicht von ihr abwenden, ohne gleich sagen zu können, weshalb sie mich dermaßen faszinierte.

Meiner Schätzung nach war sie sechs oder sieben Jahre alt und hatte blondierte Haare, was mich als Erstes irritierte. Warum jemand einem Kind die Haare färbte, war mir schleierhaft. Sie trug weiße, sehr kurze Shorts, ein eng anliegendes pinkfarbenes Top ohne Träger und pinkfarbene Badelatschen mit Absätzen, die sie größer machten. Ihre Zehennägel waren grellrot lackiert, und die langen Haare sahen aus, als wären sie über eine große Bürste geföhnt worden. Große Kreolen schmückten ihre Ohren. Als mir auffiel, dass sie die Wimpern getuscht und einen Hauch pinkfarbenen Lippenstift aufgelegt hatte, wurde mir ganz flau im Magen: Unwillkürlich musste ich an Jonbenet Ramsey denken, die kleine Schönheitskönigin, die man 1996 im Keller ihres Elternhauses gefunden hatte: Die Sechsjährige war brutal vergewaltigt und ermordet worden. Der Täter war bis heute auf freiem Fuß.

Mit einem Mal hörte ich auf zu tanzen und lauschte auch nicht mehr der Musik, sondern ging weiter die Rose Avenue entlang. Auf der kurzen Strecke begegnete ich noch drei Mädchen, die ebenfalls wie erwachsene Frauen herausgeputzt waren – kindliche Vamps in Begleitung ihrer Mütter.

Was war der Grund für diese Aufmachung? Lag es an Los Angeles? An diesem Ort, wo Menschen entdeckt und zu Stars gemacht wurden? Oder stachen all diese frühreifen Mädchen nur ins Auge, weil es hier so viele Menschen gab? War das – statistisch gesehen – gar kein Einzelfall? Und falls ja, warum war mir dann dieses Phänomen nicht in New York aufgefallen? Krieg dich wieder ein, Hollywood zieht ehrgeizige Mütter an wie Motten das Licht, fuhr es mir durch den Sinn.

Ich öffnete die Haustür meines Bruders und trat in den kühlen Korridor. Aus der Sonne zu fliehen tat gut. Wann immer ich nach Kalifornien reiste, genoss ich die erste Woche sehr, aber dann sehnte ich mich nach der Ostküste, dem unbeständigen Wetter und einer Fröhlichkeit, die eher eine Ausnahmeerscheinung und nicht die Regel war. Diesmal packte mich das Heimweh allerdings schon nach zwei Tagen. Wenn es schon etwas später gewesen wäre, hätte ich mir einen Drink genehmigt, und kurz überlegte ich wirklich, ob ich nicht doch diesem Verlangen nachgeben sollte; aber es war wirklich zu früh dafür. Setzte mir jeder unschöne Gedanke derart zu, war es wahrscheinlich höchste Zeit, darüber mit meiner Therapeutin Joyce zu sprechen. Nach der Fehlgeburt hatte ich mich einmal an sie gewandt und am Ende der Sitzung versprochen, sie im Notfall anzurufen. Während der letzten Wochen war so vieles passiert, das ich noch nicht verarbeitet hatte, und manchmal fürchtete ich, wieder den Boden unter den Füßen zu verlieren, im Treibsand zu versinken. Wenn jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, mich bei Joyce zu melden, wann dann?

Ich griff in meine Hosentasche, zog das BlackBerry heraus und wollte gerade Joyce’ Nummer im Adressbuch suchen, als auf meinem Mobiltelefon eine Mail einging.

Sie stammte von Dathi und ließ mich auf der Stelle alles andere vergessen.