KAPITEL 7

Ich nahm eine U-Bahn der Linie R und stieg in Sunset Park an der Station 36th Street/4th Avenue aus. Oben empfing mich ein kräftiger Wind. Ich zog die Mütze tiefer in die Stirn, schob den Schal bis unters Kinn und stapfte die breite Avenue Richtung 33th Street hinunter. Es war ein trostloser Weg, der mich an einer Bodega, einer Kombination aus Waschsalon und Friseur, einem Beerdigungsinstitut, zwei Bars und kurz vor meinem Ziel an einer Tankstelle vorbeiführte. Das Viertel passte zu dem Leben der Menschen, die hier wohnten: ein Dasein, geprägt von Härten, dem Überlebenskampf, der Einsamkeit und der nicht enden wollenden Arbeit. Ein paar Fenster allerdings waren mit weihnachtlichen Lichterketten geschmückt und führten mir vor Augen, wie trügerisch der erste Eindruck manchmal sein konnte. So unterschiedlich die Menschen waren, so verschiedenartig ihre Geschichten. Ich dachte an Chali und all die Gründe, die sie veranlasst hatten, Indien den Rücken zu kehren – wie sie noch als Kind mit einem viel älteren Mann verheiratet worden war, wie sein Tod sie mittellos gemacht und ihr gleichzeitig die Freiheit geschenkt hatte. Wie sie ihre geliebte Tochter zurücklassen musste, um hier ein neues Leben zu beginnen, was sicherlich keine leichte Entscheidung gewesen war. Und wie sie sich nicht unterkriegen ließ, wie sie unermüdlich und zielstrebig auf eine bessere Zukunft für sich und ihre Tochter hinarbeitete. Jemanden wie sie musste man einfach bewundern. Als ich den heruntergekommenen Block zwischen der 4th und 5th Avenue entlangging, wo ihr Wohnhaus lag, spürte ich deutlich, wie sehr sie mir ans Herz gewachsen war, wie sehr ich ihr vertraute, wie wichtig sie mir war.

Ich blieb vor ihrem vierstöckigen Gebäude mit der Vortreppe und der grün-roten Schachbrettfassade stehen, holte ihre Schlüssel aus der Handtasche hervor und suchte ihren Namen auf den Klingelschildern. Drei waren mit anderen Namen versehen, auf dem vierten stand nichts. Ich läutete, wartete, läutete eine Minute später noch mal und schloss schließlich die Tür auf.

Der Eingangsbereich war schäbig, aber nicht dreckig. Jemand machte hier offenbar regelmäßig sauber und hatte versucht, mit einem Plastikblumenstrauß samt Vase und einem Poster von einem griechischen Dorf den engen Flur etwas schöner zu gestalten. Oben in der dritten Etage ließ der Ammoniakgeruch nach. Vor der Wohnungstür standen Chalis schwarze Stiefel, von denen einer umgefallen war. Obwohl ich mit keiner Reaktion rechnete, klopfte ich vorsichtig an. Nach ein paar Augenblicken steckte ich den Schlüssel ins Loch. Die Tür ging auf, ehe ich ihn ganz umgedreht hatte.

»Chali?« Ich setzte meinen Fuß in ein kleines Wohnzimmer. Vor den pinkfarbenen Wänden türmten sich Regale, die randvoll mit Büchern waren. »Ich bin’s, Karin. Bist du da?«

In der Wohnung herrschte eine beklemmende Stille. Die Vorahnung, die mich hierhergeführt hatte, dieses ungute Gefühl, das ich als unbegründet abgetan hatte, verstärkte sich. Während ich in Chalis Wohnzimmer zwischen ihren Habseligkeiten stand – den Büchern auf Englisch und Hindi, einer Art Manuskript, einem kleinen schwarzen Adressbüchlein und zahllosen Fotos von Dathi, die ich von den Bildern kannte, die Chali mir gezeigt hatte -, steigerte sich meine Furcht ins Unermessliche.

Schweren Herzens durchquerte ich das Wohnzimmer.

Die bunten Holzperlen des im Türrahmen befestigten Vorhanges klimperten leise, als ich in ihr winziges Schlafzimmer ging.

Auf der breiten Matratze auf dem Boden lag eine weiße Chenille-Tagesdecke, und am Kopfende lehnte ein halbes Dutzend bunter Kissen an der Wand. Über dem provisorischen Bett hing ein großes, rundes Bild von einer gelben Wasserlilie. An der gegenüberliegenden Wand stand eine alte Holzkommode, über der Chali ein Jesusbild angebracht hatte. Auf der Kommode stand ein gerahmtes Foto, das vom Bett aus gut zu sehen war. Darauf abgelichtet waren Dathi und eine ältere Frau, wahrscheinlich Chalis Mutter: Sie trug einen himmelblauen Sari, und ihre stahlgrauen Haare waren hinten zu einem Knoten gebunden. In dieser Wohnung spürte man sofort, dass sie Chali gehörte: Diese Mischung aus Tatendrang, Familiensinn und Frömmigkeit war ganz typisch für sie. Die Jeans und der Pullover, die sie am Montag getragen hatte, lagen auf der Matratze, ihre Socken daneben auf dem Boden. In der Ecke neben dem Fenster stand eine Tür einen Spaltbreit offen.

Langsam näherte ich mich ihr und spähte durch den Spalt. Mein Blick wanderte über weiße Badezimmerfliesen, die Toilette und einen grünen Badewannenvorleger.

»Chali?«, flüsterte ich. Nach einem anstrengenden Tag badete sie gern, weil es sie entspannte. Hatte sie am Montagabend, ehe sie sich verabschiedete, nicht davon gesprochen? Oder lag sie womöglich gerade in der Wanne und hatte deshalb nicht gehört, wie ich läutete und ihre Wohnung betrat?

»Chali?«

Ich stieß die Tür auf und zwängte mich in das beengte Badezimmer. Neben der Toilette gab es ein kleines Waschbecken, auf dem eine rote Plastikbürste mit schwarzen Haaren lag. Ich trat einen Schritt zur Seite, um die Tür zu schließen, damit ich die Wanne sehen konnte, als mir ein grauenvoller Geruch in die Nase stieg.

Dann entdeckte ich Chali. Sie war so weit nach unten gerutscht, dass nur noch ihre Knie aus dem dunkelrot gefärbten Wasser ragten.

Mein Blick fiel auf den Griff eines Messer, das in ihrer Brust steckte. Der Anblick kam mir vertraut vor. So ein Griff hatte auch in dem Leichnam der noch nicht identifizierten Toten in der Nevins Street gesteckt: Er gehörte zu jenen seltenen Jagdmessern, mit denen der Prostituiertenmörder seine Opfer abstach.

Ich taumelte rückwärts aus dem Bad und kämpfte gegen das Schwindelgefühl an. Da ich wie Espenlaub zitterte, ließ ich mich auf der Matratze nieder. Vergeblich versuchte ich, ruhig zu atmen. Meine Vorahnung hatte sich bewahrheitet: Chali war tatsächlich tot ... wie all die anderen jungen Frauen. Und ich war hierhergekommen, um mich davon zu überzeugen, dass meine Befürchtung unbegründet war, doch stattdessen ...

Wie ferngesteuert suchte ich in meiner Handtasche nach dem Handy. Ich staunte über die prosaischen Dinge, die sich in der Tasche befanden, und konnte mich auf einmal nicht mehr rühren.

Nach einer Weile ging ich zum Fenster, trat in den hereinfallenden Sonnenstrahl und holte mein Handy heraus. Ich drückte die Kurzwahltaste, unter der ich Mac abgespeichert hatte, und als ich den Ansagetext seiner Mailbox hörte, war ich so perplex, dass ich nur unzusammenhängend vor mich hinplapperte. Danach tippte ich auf die Taste für Billy. Ich hätte natürlich die Nummer des Notrufs wählen sollen, aber ich konnte einfach nicht mehr klar denken. Mehr noch: Mein Verstand funktionierte gerade nicht.

Nebenan lag Chali tot in der Wanne.

Im Badewasser, das ihr Blut rot gefärbt hatte. Wie lange lag sie schon dort? Seit Montagnacht? Falls das zutraf, hatte sie sechsunddreißig Stunden lang tot in ihrer Wohnung gelegen, und keiner hatte es bemerkt. O Gott! Hätte ich mich heute nicht aufgerafft, um nach ihr zu sehen – wie lange hätte es wohl gedauert, bis dieser grauenvolle Geruch in den Hausflur gedrungen wäre und ihre Nachbarn alarmiert hätte?

»Hallo, Karin«, meldete sich schließlich Billy.

»Er hat sie umgebracht«, sagte ich mit tonloser Stimme.

»Hä ... Was redest du da?«

»Er. Er war hier.«

»Wo steckst du?«

»In Chalis Wohnung. Ich wollte nach ihr sehen.«

Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen in der Leitung.

»Ich hätte den Notruf -«

»Ich kümmere mich darum. Verlass die Wohnung, Karin. Auf der Stelle.«

Wie in Trance bewegte ich mich durch Chalis Schlafzimmer. Das Gehen war äußerst mühselig, und gleichzeitig fühlte ich mich schwerelos. Die Vorhangperlen hinter mir machten ein Geräusch, das mich an Wellenbrecher erinnerte. Und dann stand ich wie gebannt in ihrem Wohnzimmer und glaubte, den Verstand zu verlieren. Chali. Der Prostituiertenmörder hatte seine ausgetretenen Pfade verlassen, sich über seine eigene Logik hinweggesetzt und einen Menschen ermordet, der gar nicht in sein Muster passte. Diesmal hatte er jemanden getötet, den ich schätzte und mochte ... hatte mich da mit reingezogen ... All das ergab überhaupt keinen Sinn.

Warum?

Weshalb Chali?

Und wieso gerade jetzt?

Ich hob den Blick und stellte fest, dass ich vor einem Foto von Dathi stand. Jetzt durfte ich es nicht anfassen, denn ich befand mich an einem Tatort. So beugte ich mich vor und studierte das Gesicht des Mädchens. Von der Mutter hatte Dathi die großen dunklen Augen, die schmale Nase und dieses verschmitzte Grinsen geerbt, als würde sie gerade einen Witz zum Besten geben. Doch ihr Gesicht war breiter als das von Chali und ähnelte vermutlich dem des Vaters, der – wie ich aus Erzählungen wusste – die Mutter während der Schwangerschaft wiederholt geschlagen hatte. Dathis sanfter Blick erinnerte mich an Chali, und ich hätte wetten können, dass auch sie eine gute Seele war. Ich neigte mich weiter vor. Ja, Chali hatte sich glücklich schätzen können. Immerhin war ihr eine Tochter vergönnt gewesen ... Aber das Schicksal hatte es mit ihrer Tochter nicht so gut gemeint, denn deren Mutter lag nun tot in der Wanne.

Wie würde sie die Nachricht aufnehmen, dass sie nun eine Waise war und in Zukunft bei einer gebrechlichen Großmutter leben musste, die ohne Chalis finanzielle Unterstützung nicht in der Lage war, ihre Enkelin großzuziehen? Dabei war das Geld noch das kleinste Problem, denn ich war durchaus in der Lage, ihr finanziell zu helfen. Aber alles andere? Wer würde Dathi und ihrer Oma beibringen, dass sie einen geliebten Menschen verloren hatten? Und wer nahm die Bürde auf sich, ihnen begreiflich zu machen, wie Chali gestorben war?

Das Läuten der Klingel riss mich aus meinen Überlegungen. Mein Blick löste sich von dem Foto und wanderte zu der offen stehenden Wohnungstür. Wieder läutete es, und ich hörte, wie unten jemand versuchte, die Haustür zu öffnen. Neben der Tür entdeckte ich eine alte Gegensprechanlage und drückte eine Taste.

»Hallo?«

»Polizei.«

Ich öffnete die Haustür und hörte im nächsten Moment, wie mehrere Personen die Treppe im Laufschritt nach oben stürmten.

Die Beamten würden den Tatort sichern, Chalis Leichnam in die Gerichtsmedizin schaffen, die Untersuchungsergebnisse abwarten, Berichte schreiben und die vergangenen Ereignisse interpretieren, um einen Blick in die Zukunft zu werfen.

Was bezweckte der Täter?

Warum tötete er?

Wer könnte das nächste Opfer sein?

Wie konnte man verhindern, dass er wieder zuschlug?

Als die Polizisten oben ankamen, informierte ich sie kurz darüber, weshalb ich hierhergekommen war und wie ich Chali entdeckt hatte. Anschließend stieg ich hektisch, beinahe verzweifelt die Stufen hinunter. Ich hielt es in Chalis Wohnung einfach nicht mehr aus. Außerdem musste doch Ben in einer Stunde abgeholt werden ... Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock hielt ich inne. War ich nicht noch am ehesten das, was man als Chalis nächste Angehörige in New York bezeichnen konnte? Nach meinem Wissen hatte sie keine Verwandten in den Vereinigten Staaten. Vor diesem Hintergrund blieb mir gar keine andere Wahl, als in der Nähe des Tatorts zu bleiben.

Dass ich vor zwölf Uhr von hier wegkam und Ben vom Kindergarten abholen konnte, war illusorisch. Doch weder Mac noch meine Mutter waren in der Verfassung, kurzfristig für mich einzuspringen.

Ich wartete draußen vor dem Wohnhaus in der Eiseskälte, während die Polizei oben ihrer Arbeit nachging und immer mehr Nachbarn auftauchten, die erfahren wollten, was passiert war. Ich stellte mich taub und beschäftigte mich mit meinem BlackBerry, sodass sie mich irgendwann für eine Journalistin hielten. Nach ein paar Telefonaten mit dem Kindergarten hatte ich zumindest das Problem gelöst, wer sich in den nächsten Stunden um Ben kümmern würde. Kinder, die bei Open House normalerweise nur halbtags betreut wurden, konnten im Ausnahmefall und gegen Bezahlung einer Gebühr länger bleiben. Ben, der mich seit Wochen anflehte, einmal den ganzen Tag im Kindergarten verbringen zu dürfen, würde sich über diese »Überraschung« garantiert freuen. Nun hatte ich bis fünf Uhr den Rücken frei, falls ich hier überhaupt so lange gebraucht wurde.

Kurz darauf meldete sich endlich Mac. »Deine Nachricht klang so, als ... ähm ... wärst du betrunken«, sagte er besorgt. Er ahnte, dass etwas nicht stimmte.

»Ich bin bei Chali.« Ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte.

»Was ist los?«

»Sie ist tot.« Ich brach in Tränen aus. »Er hat sie umgebracht.«

Es folgte ein entsetztes Schweigen. Als Mac schließlich wieder sprach, klang seine Stimme ganz rau. »Was ist passiert?«

Ich berichtete, was ich gesehen hatte, und erklärte, dass Billy unterwegs war und Polizisten bereits den Tatort sicherten.

»Wo steckt Ben?«

»Ich habe mich darum gekümmert, dass er länger im Kindergarten bleiben kann.«

»Okay, gut.« Mac hustete. »Wie lautet Chalis Adresse? Ich komme, so schnell ich kann. Halte durch.«

»Du bist krank, Mac, und dass du dir hier draußen in dieser Affenkälte den Tod holst, ist das Letzte, was ich jetzt brauchen kann.« Ich betonte dieses verhasste Wort absichtlich, damit meine Botschaft auch ankam: Tu bitte auf keinen Fall etwas, das deinen Zustand verschlimmert, denn wenn ich dich auch noch verliere, dann ...

»Es ist doch nur eine Grippe ...«

»An der Jahr für Jahr Menschen sterben.« Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie er schlotternd in der Kälte stand und immer blasser und schwächer wurde.

»Du übertreibst, Karin. Hol mal tief Luft und ...« Dem Vernehmen nach hatte er sich bewegt oder war kurzerhand aufgestanden, denn etwas polterte mit einem lauten Knall zu Boden. »Mist.«

»Mac, ich schwöre dir, wenn du hier auftauchst, bringe ich dich um«, drohte ich ihm. Ehe er etwas darauf erwidern konnte, beendete ich das Gespräch und legte das Handy in die Tasche zurück. Danach steckte ich die Hände in die Manteltaschen und wartete auf den Detective, dem der Fall übertragen worden war.

Zwanzig Minuten später kam eine blaue Limousine, die wie ein Zivilfahrzeug der Polizei aussah, und hielt direkt neben einem Lieferwagen mit der Aufschrift Trevello Bros. Wer so dreist seinen Wagen in der zweiten Reihe parkte, konnte nur ein Detective sein. Als der Fahrer ausstieg, glaubte ich zuerst, mich geirrt zu haben, doch dann erinnerte ich mich daran, dass Großstadtpolizisten sich anders kleideten als meine ehemaligen Kollegen in der Vorstadt. Hier in New York mussten sie in völlig anderen Milieus verkehren, und wer nicht sofort auffallen wollte, verzichtete lieber auf frisch gebügelte Chino- oder Stoffhosen. Dennoch wirkte dieser Typ aufgrund seines Äußeren – Röhrenjeans, Wildlederstiefel, kurze Lederjacke, schwarzer Kinnbart, rot getönte Brillengläser, Glatze und modisches Käppi – nicht wie ein Ermittler auf mich. Er griff in den Wagen und holte einen orangenen Becher mit dem Aufdruck Gorilla Coffee hervor. Als er den Deckel abnahm, stieg aus dem Behälter heißer Dampf auf. In aller Seelenruhe trank er erst einmal drei Schluck Kaffee, bevor er Chalis Haus auch nur eines Blickes würdigte. Seine offenkundige Gleichgültigkeit versetzte mir einen Stich, aber vielleicht zog ich voreilige Schlüsse. War er tatsächlich desinteressiert, oder sammelte er sich erst einmal? Gut möglich, dass er schon die wichtigsten Fakten kannte: illegale Immigrantin wurde in heruntergekommener Gegend ermordet. Eine Menge Polizisten, die ich kannte, reagierten darauf nach dem Motto: Häng dich da nur nicht allzu sehr rein. Auf der anderen Seite kannte ich diesen Mann nicht und durfte ihm so eine Haltung nicht unterstellen, noch bevor ich ein einziges Wort mit ihm gewechselt hatte.

Nachdem er die Straße überquert hatte, ging ich ihm entgegen. Kaum setzte ich mich in Bewegung, blieb er stehen und starrte mich an.

»Es war nicht meine Absicht, Sie so zu überfallen«, entschuldigte ich mich. »Ich wollte mich nur kurz vorstellen, ehe Sie in dem Haus verschwinden.«

»Sind Sie die Dame, die das Opfer gefunden hat?« Er hatte eine kratzige Stimme, als würde er rauchen oder hätte erst vor kurzem dem Nikotin abgeschworen.

»Karin Schaeffer. Sie hat für mich gearbeitet.«

»Was bringt Sie auf die Idee, dass ich mit Ihnen sprechen möchte?«

»Sind Sie nicht Polizist?«

»Dachte nicht, dass man mir das ansieht.«

»Ich war früher auch in dem Club ... allerdings nicht hier. In New Jersey.«

Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen. Er reichte mir die Hand. Diese Geste freute mich, obwohl der große Ring an seinem kleinen Finger in meine Handfläche schnitt. »Im Ruhestand?«

»Ja, darauf können Sie Gift nehmen.«

»Dann muss das hier ja ein Freudenfest für Sie sein.« Er zwinkerte, und dabei gelang es ihm, gleichzeitig warmherzig und sarkastisch zu wirken. Plötzlich mochte ich ihn. Er nahm einen Stapel Visitenkarten aus der Jackentasche, zog eine heraus und überreichte sie mir. Detective Jorge Vargas, 12. Polizeirevier.

»Höflichkeit, Professionalität, Respekt«, las ich von der Karte ab. »Klingt gut.«

»Das steht bei uns auf allen Karten.«

»Trotzdem.«

Er verstaute die restlichen Karten wieder in seiner Tasche. Als er die Hand wieder herausnahm, fiel etwas herunter und landete klimpernd auf dem Bürgersteig. Er bückte sich und hob es auf.

»Den habe ich von meiner Freundin, und er rutscht mir immer wieder runter.« Er steckte sich den Silberring an den kleinen Finger. »Sie hat ihn auf dem Flohmarkt in Brooklyn gefunden und mir das Versprechen abgenommen, ihn zu tragen, obwohl er zu groß ist.«

»Sie könnten ihn kleiner machen lassen.«

»Keine schlechte Idee.«

»Ungewöhnliches Schmuckstück«, bemerkte ich und musterte den Ring neugierig. Oben war ein dünner behauener Silberdraht aufgelötet, sodass es aussah, als hätte jemand am Fingeransatz eine Linie gezogen.

»Den hat ein Goldschmied von hier angefertigt«, sagte er mit einem Achselzucken.

»Ich verstehe, warum er Ihrer Freundin gefällt.« Was nicht der Wahrheit entsprach, denn der Ring war zwar cool, aber auch irgendwie hässlich. Das Design sprach mich überhaupt nicht an.

»Könnten Sie noch eine Weile bleiben?«, fragte er mich.

»Ja, kein Problem, aber später muss ich los.«

»Übrigens, alle nennen mich George. Geht einfacher von der Zunge, was?«

Ich nickte. Er ging weiter, traf in der Tür auf einen Mann mit blauen Plastikhandschuhen und einer blauen Jacke, auf der in großen weißen Buchstaben N. Y. C. Crime Scene Unit stand, und klatschte ihn ab.

»He, Georgie-Boy!«

»Hallo, Bud. Schlimm da drinnen?«

»Geht so.«

Ich erinnerte mich an die Parolen während meiner Ausbildung: Immer schön den Kopf hochhalten! Und keinen Fehler machen! Für die beiden war es ein ganz normaler Arbeitstag. Inzwischen waren sich alle darüber im Klaren, dass der Täter das Opfer abgeschlachtet hatte und ihnen nichts anderes übrig blieb, als hinter ihm aufzuräumen. In diesem Moment schwor ich mir, Chalis Mord persönlich zu nehmen.

Polizisten gingen von Tür zu Tür und befragten die Anwohner. Kurz plauderte ich mit einem jungen Reporter. Da er mich nicht nach meinem Namen fragte, glaubte ich, dass auch er mich für eine Journalistin hielt. Und dann kamen Billy und La-a herangebraust. Sie hielt hinter Georges Wagen und sprang aus dem Auto, ohne richtig einzuparken.

Billy kam im Laufschritt auf mich zu und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Wie steht’ s?«

»Detective George Vargas ist gerade nach oben gegangen.«

»Vom 72.?«

Revier, meinte er. »Ja.«

»Karin.« La-a stellte sich zu uns, schüttelte den Kopf und zog ungehalten die Mundwinkel nach unten. »Das tut mir wirklich sehr leid. Bin ich ihr mal begegnet?«

»Keine Ahnung. Wahrscheinlich nicht.«

Sie schüttelte ein weiteres Mal den Kopf und ging dann auf die Haustür zu. Billy und ich folgten ihr. Jemand hatte einen Backstein besorgt und zwischen Türblatt und Rahmen gelegt, damit sie nicht zufiel.

»War die zu?«, fragte La-a.

»Hier unten musste ich aufschließen«, antwortete ich, »aber Chalis Wohnungstür war offen.«

»Wurde eingebrochen?«

»Nein, glaube ich nicht.«

»Wie ist das Arschloch diesmal reingekommen?« La-a ging in den Flur und inspizierte die Tür von innen.

»Entweder hat ihm jemand aufgemacht, oder ein Bewohner hat aufgeschlossen, und der Täter ist ihm unbemerkt gefolgt«, mutmaßte Billy und ging ebenfalls hinein.

Ich folgte den beiden in den Flur und die Treppe hoch. Eine Etage höher sprach ein Polizist mit einem korpulenten Mann im weißen Unterhemd, der aussah, als hätte man ihn aus dem Schlaf gerissen.

»Sind Sie um diese Uhrzeit immer daheim?«, hörte ich den Polizisten fragen.

»Nein, erst seit kurzem.« Den starken Akzent des Mannes konnte ich nicht einordnen. »Habe letzten Monat meinen Job verloren.«

»Waren Sie Montagabend zu Hause?«

»Ja, abends bin ich meistens hier.«

»Ich habe nach Montagabend gefragt.«

»Ja, Sir.«

»Haben Sie etwas gehört?«

»Nein, nichts. Ich habe nichts gehört.«

Der Polizist gab ihm eine Visitenkarte und bat ihn, sich zu melden, falls ihm noch etwas einfallen sollte. Der Mann schloss hastig die Tür. Einen Augenblick später tauchte eine Frau in einem billigen Schürzenkleid und mit Lockenwicklern und Lippenstift auf. Sie weinte.

»Nicht Miss Chali!« Sie warf sich fast dem Polizisten an den Hals, der gerade kehrtgemacht hatte und nun am Treppenabsatz stand. »Bitte, sagen Sie mir, dass das nicht wahr ist?«

»Tut mir leid, Lady.« Er ließ sie einfach stehen.

La-a folgte ihm nach oben und verdrehte die Augen. Billy nickte der Frau zu, als er an ihr vorbeiging, und ich berührte im Vorbeigehen ihre Schulter.

»Wohin des Weges?«, fragte mich La-a, als sie sich umdrehte. Offenbar hatte sie jetzt erst bemerkt, dass ich ihnen nachlief.

»Sie war schon oben«, verteidigte Billy mich. »Also, was soll’s?«

Eigentlich widerstrebte es mir, in Chalis Apartment zurückzukehren. Aber ich machte mir wegen Billy Sorgen und wollte vermeiden, dass er am Tatort ohne moralische Unterstützung war.

La-a grinste höhnisch. »Na gut.«

Angesichts der vielen Ermittler und Mitarbeiter der Spurensicherung, die ihrer Arbeit nachgingen oder einfach nur dastanden und sich unterhielten, wirkte die kleine Wohnung völlig überfüllt. George Vargas’ Gestalt war hinter dem Perlenvorhang zu erkennen. Seinen orangefarbenen Pappbecher hatte er auf das Manuskript gestellt, das auf dem Tisch lag. Entsetzt lief ich hinüber, um den Becher wegzuräumen. Gerade als ich die Hand nach ihm ausstreckte – mein Blick fiel dabei auf die oberste Seite des Manuskripts, auf die Chali von Hand ein Gedicht geschrieben hatte -, blaffte La-a mich an.

»Was treibst du da, Mädchen?«

»Der Becher gehört dem Detective, und ich wollte bloß -«

»Nee!« Sie wedelte mit dem erhobenen Zeigefinger. »Du müsstest es eigentlich besser wissen.«

Ich trat von dem Gedicht und dem Becher zurück und verkniff es mir, Besitzansprüche auf Chalis Hinterlassenschaft zu erheben. Kleinlaut stellte ich mich hinter Billy.

Und da lag sie: in einem noch nicht geschlossenen schwarzen Leichensack auf einer Rollbahre. Nur dass dieser aufgedunsene Körper mit der aufgeschlitzten Brust nicht mehr Chali war. Jemand hatte das Messer entfernt und für die Spurensicherung eingepackt. Der Gestank war noch schlimmer als zuvor. Ich wandte mich jäh ab und drückte die Nase an Billys Schulter. Durch den Stoff seiner Jacke spürte ich deutlich, wie stark er zitterte. Ich hob den Blick. Seine Miene sprach Bände. Sein Gesicht war von Schweißperlen überzogen, seine linke Pupille auf die Größe eines Stecknadelkopfes geschrumpft. Entgeistert betrachtete er Chalis leblose Hülle.

»Billy«, flüsterte ich.

Er rührte sich nicht.

»Schau mich an.«

Keine Reaktion.

»Komm.« Vergeblich versuchte ich, ihn wegzuziehen: Er war zur Salzsäule erstarrt.

»Ich wollte das nicht.« Das Bedauern, das in seiner Stimme mitschwang, erschreckte mich. »Leider hast du mir keine Wahl gelassen.«

»Verdammt noch mal!«, schrie La-a, die durch den Perlenvorhang gestürmt kam. »Mann, du bist echt ’ne Nummer.« Ich riss den Kopf zu ihr herum. Ihr besorgter Blick sagte mir, dass ihre rüden Worte nicht ernst gemeint waren. »Würdest du unseren Freund an die frische Luft bringen? Sofern es die in Brooklyn überhaupt gibt.«

Sie wusste also Bescheid. Und wieso auch nicht? La-a verbrachte mehr Zeit mit ihm als ich, und die Symptome seines PTBS waren alles andere als unterschwellig.

»Was ist mit ihm?«, hörte ich Vargas La-a fragen, während ich Billy am Ellbogen nach draußen führte.

»Der Typ reagiert manchmal komisch«, erwiderte sie. »Sein gesundes Auge tränt ständig.«

»Wieso trägt er diese Augenklappe?«

Darauf antwortete sie nicht, sondern fragte: »Haben Sie hier das Sagen?«

»So ist es.«

»Ich bin Ladasha. La-a geschrieben. Und zwar mit Bindestrich.«

Er kicherte, und dann konnte ich nicht mehr hören, was sie redeten, weil ich mit Billy bereits auf dem Treppenabsatz stand. Er bebte am ganzen Körper, sein Blick war starr. Ich drängte ihn weiter, dirigierte ihn vorsichtig die Stufen hinunter. Ein paar Polizisten zwängten sich an uns vorbei und musterten uns mit seltsamen Blicken. Unten auf der Straße steuerten Billy und ich auf die 5th Avenue zu, weg von dem ganzen Tohuwabohu. An der nächsten Straßenkreuzung gelang es ihm endlich, sich aus den Klauen der Vergangenheit zu befreien.

»Es ist wieder passiert«, murmelte er.

»Erinnerst du dich?«

Er schüttelte den Kopf. »Hinterher fühle ich mich immer ganz mies. Dann weiß ich nicht, was sich abgespielt hat.«

»Weißt du noch, was du gesagt hast?«

»Was habe ich denn gesagt?«

Er hatte mit Chalis Leichnam gesprochen. Ich wollte das nicht. Leider hast du mir keine Wahl gelassen. Diese verstörenden Worte konnte ich nicht laut wiederholen, zumal ich nicht die geringste Ahnung hatte, wie ich diese Aussage interpretieren sollte. Sonntagnacht hatte ich ihn zum ersten Mal in diesem Zustand erlebt. Doch da hatte er buchstabengetreu jene Worte wiederholt, die ihm über die Lippen gekommen waren, bevor Jasmine die Waffe auf ihn gerichtet und abgedrückt hatte. Seine heutige Äußerung, die für mich keinen Sinn ergab, war für mich wie eine Erinnerung aus einer anderen Realität, denn ich konnte mich nicht entsinnen, dass er an jenem Abend auf dem Dach Jasmine gegenüber etwas in der Art geäußert hatte.

»Ich weiß nicht, was da abläuft«, gestand er. »Es fühlt sich an, als würde ich mich auflösen.«

»Gleich nachdem du den Raum betreten hast, ist es passiert. Wenn du mich fragst, sind der Auslöser ...« Tote Frauen. Ich brachte es nicht über mich, diese Worte laut auszusprechen.

»Ich kann mich nicht entsinnen, was ich gesehen habe. Wie schlimm war es?«

»Sehr schlimm.«

»Ausgerechnet Chali.« Er schüttelte den Kopf. »Sie entspricht doch gar nicht seinem Opferschema.«

»Bislang waren all sein Opfer Prostituierte.«

»Eventuell handelt es sich um einen Nachahmungstäter. Was, wenn da draußen noch ein anderer Verrückter rumläuft, der sich die gleichen Jagdmesser besorgt hat?«

»Hast du mir nicht erzählt, sie würden schon seit Jahrzehnten nicht mehr hergestellt?«

»Vielleicht über eBay?« Er rieb sein Auge. »Könnte doch sein, oder?«

»Zu gern wüsste ich, was Abby gesehen hat.«

Er warf mir einen Blick zu. Sein linkes Auge war von roten Äderchen durchzogen.

»Als ich Montagabend nach Hause gekommen bin, wollte Chali etwas mit mir besprechen. Es schien wichtig zu sein. Mist, ich war einfach zu müde und habe das Gespräch auf den nächsten Tag verschoben.«

»Hast du eine Idee, was ihr auf dem Herzen lag?«

»Nein.«

Gemeinsam schlenderten wir wieder zurück und standen in der Kälte ganz nah beieinander, als Chali aus dem Haus gebracht wurde. Detective Vargas kam zu uns und versuchte, mit seinem Atem die Hände zu wärmen. Zwei Männer schoben den Leichnam – der Reißverschluss des schwarzen Leichensacks war inzwischen geschlossen worden – in den Krankenwagen und verriegelten rasch die Türen, weil es eiskalt war und sie es eilig hatten.

»Kennen Sie jemanden aus ihrer Familie?«, fragte mich Vargas.

»Ihre Familie – Mutter, Tochter und Bruder – lebt in Indien.«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Na, auf das Gespräch freue ich mich schon. Sprechen die Englisch?«

»Ihre Tochter schon. Ob der Rest der Familie unsere Sprache beherrscht – keine Ahnung.«

Im Grunde wusste ich nur, dass der Besuch von Dathi bevorstand. Als ich an sie dachte, wurde mir ganz schwer ums Herz. Schon seit Wochen hatte Chali sich auf das Wiedersehen gefreut, und ihrer Tochter ging es gewiss nicht anders. Immerhin war es Ewigkeiten her, dass sie einander gesehen hatten. Was hätte ich darum gegeben, Dathi und der Großmutter die schlechte Nachricht zu verheimlichen, aber das kam selbstverständlich nicht in Frage. Und es ging auch nicht an, dass ein wildfremder Polizist aus New York ihnen am Telefon die Todesnachricht überbrachte.

»Ich werde sie verständigen«, bot ich an. »Nur brauche ich dazu die Telefonnummer der Großmutter. Oben auf dem Schreibtisch liegt Chalis Adressbuch. Mit Nachnamen heißt sie Das und ihre Tochter Dathi, eine Kurzform von Arundathi. Arundathi Das. Chalis vollständiger Name ist Panchali Das. Und die Großmutter heißt Edha ... Ihren Nachnamen kenne ich allerdings nicht, doch Das wird er gewiss nicht lauten.«

Billys warme Hand auf meiner Schulter ermahnte mich, dass ich mich beruhigen sollte. Ich redete viel zu schnell, plapperte das wenige, das mir bekannt war, einfach heraus, als könnte ich, wenn ich mich nur beeilte, das Geschehene rückgängig machen und Chali von den Toten auferstehen lassen. Mir kamen die Tränen, die ich mit einem kalten Lederhandschuh wegwischte.

Vargas nickte. »Gut. Danke. Ich schaue mal, ob ich die Nummer finde.«

* * *

Als ich später mit Ben nach Hause kam, lag Mac im Dunkeln auf der Couch und schlief fest. Bei jedem Atemzug meinte man, jemand würde Holz sägen. Er war angezogen und trug sogar seine Winterschuhe.

Meine Mutter saß im Sessel direkt neben ihm. Auf ihrem Schoß lag ein aufgeschlagenes Buch. Im kalten Licht der Leselampe wirkte ihr Gesicht aufgedunsen, die Augen vom Weinen stark gerötet. Also wusste sie Bescheid.

»Er war nicht imstande, das Haus zu verlassen«, flüsterte sie.

Dass er es dennoch versucht hatte, verriet seine Kleidung.

Ich beugte mich nach unten, drückte die eisigen Lippen auf Macs Stirn und spürte, wie meine Mutter ihre Hand auf meinen Rücken legte. In dem Moment begann ich zu weinen. Meine Mutter hielt den Atem an, wie sie das immer tat, wenn sie versuchte, standhaft zu sein.