KAPITEL 1
Als ich Macs Arbeitszimmer betrat, drehte er sich zu mir um und warf mir einen Blick zu, als hätte ich ihn dabei erwischt, wie er sich heimlich Pornos im Internet anschaute. »Sorry, dass du das gesehen hast«, meinte er und schaltete hastig sein Notebook aus.
Seine schnelle Reaktion änderte nichts daran, dass sich das Bild auf dem Bildschirm unwiderruflich in mein Gedächtnis eingebrannt hatte: Eine Frau bohrte ihre rot lackierten Fingernägel in einen behaarten Männerrücken, während sich auf ihrem Gesicht entweder Lust oder Ekel widerspiegelte – in der Kürze der Zeit konnte ich das nicht eindeutig erkennen.
»Neuer Fall?«
»Bin schon seit einer Woche dran. Die Ehefrau ging davon aus, dass ihr Göttergatte sie betrügt. Und sie hat richtiggelegen. Volltreffer. Damit wäre die Sache abgehakt.«
Ich durchquerte den kleinen Raum und legte die Hand auf seine Stirn. »Du glühst ja.«
»Im Bett halte ich es einfach nicht mehr aus.«
»Man kann sich gegen Grippe impfen lassen, damit es einen nicht -«
»Jetzt geht das schon wieder los!«
Erwischt.
Wie oft hatte ich ihn gebeten, die Schutzimpfung nicht auf die lange Bank zu schieben? Unser Sohn Ben, seine Babysitterin Chali und ich hatten uns bereits vor zwei Monaten impfen lassen. Nur Mac, das Arbeitstier, hatte dafür keine Zeit erübrigen können. Und nun würde er vermutlich eine Woche lang flachliegen, unter Fieber und Gliederschmerzen leiden und sich ganz grässlich fühlen.
»Leg dich wieder hin, Schatz.«
Er hustete und schüttelte den Kopf. »Ich habe noch zu tun.«
»Es ist Sonntagabend. Deine Auftraggeberin muss diese Fotos nicht unbedingt heute zu Gesicht kriegen ... ganz im Gegenteil. Du tust ihr sogar einen Gefallen, wenn du sie noch ein bisschen warten lässt.«
»Da hast du auch wieder recht.« Er klappte das Notebook zu und sah zu mir hinüber.
Es war erst acht Uhr abends, und ich hatte Ben gerade zu Bett gebracht, doch bei Macs erschöpftem Blick hatte man das Gefühl, es wäre bereits Mitternacht.
»Wieso mache ich das eigentlich?«, fragte er sich laut. »Ich dachte, ich hätte die Polizeiarbeit satt, und deswegen habe ich ja auch das Handtuch geworfen. Nur – jedes Mal, wenn ich mit Billy rede.«
»Der, wie du ganz genau weißt, total überfordert ist.«
»... denke ich, ich werde nie wieder einen Fall bearbeiten, der eine echte Herausforderung darstellt.«
»Möchtest du etwa mit Billy tauschen und einen Serienmörder jagen, der die Polizei seit nunmehr zwei Jahren in Atem hält? Hast du diese Quälerei nicht längst hinter dir? Meinst du nicht, du bist -«
»Gelangweilt.«
»Du bist krank und erschöpft, und wenn du jetzt behauptest, du würdest gern die Fälle bearbeiten, mit denen sich Billy herumschlagen muss, schreibe ich das mal dem Fieberwahn zu.«
»Vielleicht sollte ich versuchen, wieder als Sicherheitsberater bei einem Unternehmen anzuheuern?«
»Komm jetzt. Geh bitte ins Bett.« Ich reichte ihm meine Hand, die er bereitwillig ergriff, ehe er sich erhob und kurz innehielt, um Kraft zu schöpfen. Unter leisem Stöhnen ließ er sich von mir durch den Flur zum Schlafzimmer führen. Ohne das Licht einzuschalten, brachte ich ihn ins Bett. Die Luft roch abgestanden, was dem Zimmer etwas Klaustrophobisches verlieh, aber draußen war es viel zu kalt, um das Fenster zu öffnen.
»Schlaf jetzt.« Ich gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Ich bin oben.«
Er schnarchte, ehe ich die Tür schloss.
Da meine beiden Männer, von denen einer bald seinen vierten Geburtstag feiern würde, fest schliefen, herrschte im Haus eine ungewöhnliche Ruhe. Leise stieg ich die Stufen in das obere Geschoss unserer Maisonette-Wohnung. Diese Aufteilung – das Schlafzimmer im unteren Stockwerk und die Wohnräume in der darüberliegenden Etage mit den hohen Decken – war typisch für die rötlich braunen Sandsteinhäuser in Brooklyn, sofern man die untere Hälfte bewohnte. Während ich das Wohnzimmer durchquerte, knarzten die Dielen unter meinen nackten Füßen, und als ich versehentlich gegen einen von Bens Spielzeuglastern trat, der dann gegen die Wand geschleudert wurde, gab es einen lauten Knall. Ich hielt unvermittelt inne und wartete, ob Ben oder Mac sich rührten, doch anscheinend hatten sie nichts gehört. In der Küche schaltete ich das Licht ein, setzte mich an den Tisch und überlegte, was ich jetzt tun sollte. Eine wohltuende Stille breitete sich im Haus aus, und mit einem Mal nahm ich Geräusche wahr, die ich normalerweise nicht bemerkte: das Ticken der Wanduhr, das Summen des Kühlschranks, das dissonante Brummen des Heizkörpers.
Ich beschloss, zunächst Klarschiff zu machen. Vorhin hatte ich eine Hühnersuppe gekocht, und auf der Theke lagen noch Gemüseschalen und Brotkrumen von dem geschnittenen Baguette, das ich dazu serviert hatte. Als Erstes holte ich eine große Plastikfrischhaltedose aus dem Schrank und gab die restliche Suppe hinein.
Gerade als ich das Geschirr in der Spülmaschine verstaute, hörte ich den vertrauten Signalton, wenn eine SMS eintraf. Ich drehte mich um und hielt Ausschau nach Macs BlackBerry, denn meines – es steckte in der Gesäßtasche meiner Jeans – hatte sich definitiv nicht gemeldet. Er hatte sein Smartphone heute Morgen weggelegt, als er merkte, dass es ihm nicht gutging. Ich erblickte sein Handy auf einem der Küchenregale; es hatte den ganzen Tag über keinen Muckser von sich gegeben, und deshalb wunderte ich mich darüber, dass so spät, und dazu noch an einem Sonntag, eine Textnachricht einging. Da meine Hände vom Vorspülen nass waren, griff ich nicht nach Macs BlackBerry, sondern lud weiter das Geschirr in die Spülmaschine. Kurz darauf drehte ich den Wasserhahn zu, hob den Kopf – und erschrak, als ich in dem auf den Garten hinausgehenden Fenster mein Spiegelbild sah. Der Anblick, der sich mir bot, hatte etwas Gespenstisches. Eine großgewachsene, leicht irre wirkende Frau mit verstrubbelten, blond gefärbten Haaren starrte mich an. Unwillkürlich zuckte ich zusammen.
»Hau ab!« Ich winkte, und sie tat es mir gleich. Dann lachten wir einander zu, was nichts daran änderte, dass sie mich nervös machte.
Da Mac normalerweise abends die Küche aufräumte, war ich es nicht gewohnt, um diese Zeit hier zu stehen; und so stellten die undurchdringliche Dunkelheit dort draußen und mein verschwommenes Spiegelbild irritierende neue Erfahrungen dar. Falls er sich eine klassische Grippe zugezogen hatte, würde es noch einige Tage dauern, ehe er wieder auf dem Damm war.
Bis dahin musste ich wohl oder übel seine und meine Aufgaben erledigen.
Ich war noch nicht müde und hatte mir zudem fest vorgenommen, bis zum Wochenende meine innere Blockade abzulegen und zu entscheiden, welche Kurse ich im kommenden Frühjahr belegen würde. Vor einiger Zeit hatte ich mich durchgerungen, wieder aufs College zu gehen, obwohl mein Alltag schon ziemlich stressig war und meine zwanzigjährigen Kommilitonen mich mit meinen achtunddreißig Jahren unweigerlich als uralt empfinden mussten. Darüber hinaus war ich Mutter und bereits zum zweiten Mal verheiratet. In meinem bisherigen Leben war mir einerseits großes Glück vergönnt gewesen, andererseits hatte ich furchtbare Schicksalsschläge hinnehmen müssen. Nun sehnte ich mich danach, meinen Abschluss zu machen und einen neuen Beruf zu ergreifen. Im Gegensatz zu Mac hatte die Polizeiarbeit für mich jedwede Faszination verloren, obwohl ich in diesem Job gut gewesen war und inzwischen eine Lizenz als Privatdetektivin besaß, die es mir erlaubte, Mac gelegentlich zu unterstützen. Je mehr Aufträge er erhielt, desto mehr hatte auch ich zu tun, aber es war nicht mein Ziel, (wieder) in die Rolle seiner Kollegin zu schlüpfen. Ich wollte nicht mehr direkt involviert sein, sondern die Dinge aus einer gewissen Distanz analysieren. Daher hatte ich beschlossen, meinen Bachelor in forensischer Psychologie zu machen.
Nur ... ich wollte noch viel mehr.
Ich wollte sie zurück, und daran würde sich niemals etwas ändern.
Sie - Plural.
Cece, meine umwerfende kleine Tochter, die vor sechs Jahren zusammen mit Jackson, meinem ersten Ehemann, ermordet worden war.
Und Amelia, Sarah oder Dakota: meine andere Tochter, die nie das Licht der Welt erblickt hatte, die ich vor acht Wochen und drei Tagen im sechsten Monat der Schwangerschaft verloren hatte. Ein totes Kind zur Welt zu bringen, war... Ich gab mir einen Ruck und versuchte, nicht an diese niederschmetternde Erfahrung zu denken.
Ich öffnete eine Schrankschublade, in der wir allen möglichen Krimskrams aufbewahrten, und suchte in dem Durcheinander das Vorlesungsverzeichnis. Nachdem ich es gefunden hatte, konnte ich nicht widerstehen, noch etwas Ordnung zu schaffen und ein paar Dinge auszusortieren, wie etwa den kaputten kleinen Plastikfächer und die Bedienungsanleitung für einen Toaster, den wir längst entsorgt hatten. In der Schublade fand sich noch ein Taschenkalender, ein Werbegeschenk, das irgendwann mal als Postwurfsendung gekommen war. Ich wollte das Ding schon in den Mülleimer werfen, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne. Mac und ich nutzten ausschließlich die Kalenderfunktion unserer Handys, aber vielleicht benutzte ein anderer ja diesen Taschenkalender. Wie sich zeigte, war meine Vorsicht angebracht: Beim Durchblättern der Seiten stieß ich auf ein paar Einträge, die – nach der Handschrift zu urteilen – von Chali stammten. Erst da fiel mir wieder ein, dass ich ihrer Bitte entsprochen und ihr den kleinen Kalender überlassen hatte. Ich legte ihn in die Schublade zurück und setzte mich mit dem Vorlesungsverzeichnis an den Küchentisch.
Eigentlich hätte sie am 1. Januar das Licht der Welt erblicken sollen. An Neujahr. War der Wunsch, noch eine Tochter zu bekommen, zu gewagt gewesen? Vielleicht sogar vermessen? Es war eine gefährliche Hoffnung gewesen – als ob Cece ersetzt werden könnte. Natürlich war das absurd, und dennoch war es irgendwie ein verborgener Wunsch in mir gewesen, den ich niemals offen auszusprechen wagte. Während ich mit Leah, Elsa oder Caroline schwanger ging, überkam mich eine unsagbare Rastlosigkeit, als hätte dieses neue kleine Wesen die Macht, die nagende Leere in meinem Innern auszumerzen. Doch ihre Totgeburt verstärkte diesen Zustand nur noch. Als ich damals vor vier Jahren schwanger wurde, litt ich nicht unter solchen widerstreitenden Gefühlen. Vermutlich lag das daran, dass Ben ein Junge war, Mac und ich erst kurz davor geheiratet hatten und ich mich schlichtweg freute, noch am Leben zu sein.
Jede einzelne Stunde während der vergangenen acht Wochen und drei Tage hatte sich unglaublich zäh und bleiern angefühlt.
Nun standen gleich mehrere Familienfeiern vor der Tür: in zwei Wochen Weihnachten und in einem Monat Bens Geburtstag. Bislang war ich nicht dazu gekommen, Geschenke zu besorgen und die entsprechenden Vorbereitungen zu treffen.
Während ich die Kursinhalte überflog, fragte ich mich, woher ich die Energie nehmen sollte, mich um Ben zu kümmern, zu arbeiten und obendrein zwei Seminare zu belegen. Nach meiner Fehlgeburt war ich vorübergehend nicht mehr aufs College gegangen, doch einer der Kurse hatte mich so sehr fasziniert, dass ich nun versucht war, ihn abermals zu belegen: »Schuldunfähigkeit und die Simulation psychischer Störungen, eine Einführung«. Da mich bei der Beurteilung von Verbrechern die Grauzone zwischen vorgetäuschter und echter Geisteskrankheit besonders interessierte, holte ich meinen Laptop, stellte ihn auf den Küchentisch und fuhr ihn hoch. Danach loggte ich mich auf der College-Website ein und meldete mich für das Seminar an. Mit der Entscheidung, ob ich noch einen zweiten Kurs belegen sollte – und falls ja, welchen -, konnte ich mir noch Zeit lassen, denn das Semester begann erst Anfang Februar.
Während ich das Vorlesungsverzeichnis wieder in die Schublade legte, fiel mein Blick auf Macs Handy und das rot blinkende Licht. Wer schickte ihm wohl am Sonntagabend eine SMS? Ging es um etwas Wichtiges? Ich beschloss, gegen die unausgesprochene Regel, die Privatsphäre des anderen zu wahren, zu verstoßen, und las die Textnachricht.
Sie stammte von Detective Billy Staples, der seit unserer Hochzeit und unserem Umzug nach Brooklyn Macs bester Freund war und gleich bei uns um die Ecke auf dem 84. Polizeirevier arbeitete. Die Nachricht war kurz und – zumindest für mich – unverständlich.
Warren Nevins
Mit dem Handy machte ich mich auf den Weg in die untere Etage, schaltete im Vorbeigehen das Wohnzimmerlicht aus und hinterließ – so empfand ich es wenigstens – eine eisige und gespenstige Leere. Wir hatten das Heizungsthermostat so eingestellt, dass die Temperatur um elf Uhr nachts abgesenkt wurde. Nun verriet die zunehmende Kälte mir, dass es bereits spät geworden war. Ich war müde und hatte große Lust, neben Mac ins warme Bett zu kriechen, zumal Ben stets gegen sechs Uhr in der Früh aufwachte.
Kaum trat ich an Macs Bettseite, um das Smartphone auf seinen Nachttisch zu legen, spürte ich die Hitze, die sein Körper abstrahlte.
»Ich bin wach«, flüsterte er.
»Du hast eine SMS gekriegt.« Ich reichte ihm das Handy.
Das fahle Licht des kleinen quadratischen Displays fiel auf sein Gesicht. Die beiden Worte starrte er länger an, als es zum Lesen nötig war. Dann legte er das Handy neben ein paar zerknüllte Papiertaschentücher auf den Nachttisch, schloss die Augen und stieß einen Seufzer aus.
Zehn Minuten später kam ich im Nachthemd aus dem Badezimmer. Mein Atem roch nach Pfefferminze, mein Gesicht glänzte von der Nachtcreme, und meine Haare waren vom Bürsten statisch aufgeladen. Zu meiner Überraschung stand Mac angezogen im Flur. Seine Wangen waren vom Fieber gerötet.
»Hä?«, entfuhr es mir in meiner Verwirrung. Ungläubig starrte ich ihn an.
»Ich muss etwas erledigen.«
»Du musst ins Bett.«
»Ich treffe mich mit Billy.«
»Nein, kommt überhaupt nicht in Frage.« Ich nahm seine Hände und versuchte, ihn durch den Flur zurück ins Schlafzimmer zu lotsen, doch er sträubte sich.
»Du verstehst das nicht, Karin.«
»Mac, du hast die Grippe. Das ist doch vollkommen absurd. Du kannst nicht mitten in der Nacht bei null Grad rausgehen und dich mit Billy treffen. Was immer er von dir möchte, es kann bis morgen warten.«
»Nein, das hier nicht.« Er schritt auf die Treppe zu.
»Und warum nicht?«
Er hielt inne, drehte sich um und blickte mich an. »Ich bin schon ein großer Junge, Karin, und kann auch ohne deine Hilfe Entscheidungen treffen.«
»Du bringst mich gerade ganz schön auf die Palme.«
Sein Mund verzog sich zu einem schiefen Grinsen, bis ein Hustenanfall ihn zwang, sich nach vorn zu beugen, die Hände auf die Knie zu stützen und unkontrolliert nach Luft zu japsen.
Ich verschwand im Badezimmer und kam mit einer Schachtel Kosmetiktücher zurück. Als er sich wieder aufrichten konnte, zupfte er eins heraus und putzte sich die Nase. Ich berührte seine Stirn, die noch heißer als zuvor war.
»Wir müssen deine Temperatur messen.«
Er gab nach und legte sich angezogen aufs Bett. Ich schaltete eine Lampe ein und musterte ihn im gelben Lichtschein, während er mit dem Fieberthermometer im Mund zu atmen versuchte. Eine Minute später verkündete ein Piepton, dass die Messung abgeschlossen war: 40,1 Grad. Ich zeigte ihm das Ergebnis.
»Willst du immer noch los?«
»Ich muss.« Er machte jedoch keine Anstalten, sich zu erheben.
»Liebling, was ist los?« Ich setzte mich neben ihm aufs Bett, hielt das Thermometer in der einen Hand und berührte seine glühende Wange mit der anderen.
»Ich habe Billy versprochen, es niemandem zu erzählen. Nicht einmal dir.«
»Was darfst du mir nicht erzählen?«
Ich wartete und merkte, wie ich zunehmend nervöser wurde, was mich gar nicht freute. Schließlich holte er tief Luft, hustete und sah mich an.
»Er wird es verstehen.«
»Das wird er ganz bestimmt.«
»Ich würde gehen, wenn ich könnte.«
»Ich kann ihn anrufen und ihm ausrichten, dass du krank bist.«
»Nein, ruf ihn nicht an. Geh du an meiner Stelle.«
Es war kurz vor Mitternacht. Um den Gefrierpunkt. Und stockdunkel. »Wohin?«
»Kreuzung Warren und Nevins Street. Du kannst zu Fuß gehen; das ist ganz in der Nähe. Aber es wäre mir lieber, wenn du meine Waffe mitnimmst.«
Warren Street, Nevins Street – natürlich. Es war bis dorthin wirklich nur ein Katzensprung, doch normalerweise ging ich nie in diese Richtung. »Eine Waffe brauche ich nicht.«
»Eine Weiße, die mitten in der Nacht allein durch eine Sozialbausiedlung spaziert ...«
»Keine Waffe.« Je öfter ich gezwungen gewesen war, auf Menschen zu schießen, desto stärker wurde meine Abneigung gegen Schusswaffen. »Was treibt Billy dort?«
»Vermutlich ist er an einem Tatort. Es kommt manchmal vor, dass er an Tatorten Flashbacks kriegt und die Kontrolle verliert, was ihm eine Heidenangst einjagt.«
»Was passiert, wenn er die Kontrolle verliert?«
»Er halluziniert.«
»Gütiger Gott.«
»Ganz deiner Meinung.«
Vor anderthalb Jahren hatte Billy auf einem Dach während eines Schusswechsels mit der Frau, die er liebte, sein Auge verloren. Der Schock und der Vertrauensbruch waren in vielerlei Hinsicht traumatisch gewesen – physisch, emotional und beruflich. Doch nachdem er pflichtschuldig die vorgeschriebene Auszeit genommen hatte, war er wieder in den Polizeidienst zurückgekehrt. Manche Polizisten waren offenbar in der Lage, ein traumatisches Ereignis einfach abzuschütteln, andere brachen sofort zusammen, und dann gab es noch jene, die nach und nach aus dem Leim gingen. Mit welcher Sorte man es zu tun hatte, wusste man meistens erst, wenn eine gewisse Zeit verstrichen war. Wir hatten geglaubt, Billy wäre über den Berg, doch offenbar hatten wir uns getäuscht.
»Hat er jemanden, der ihm hilft?«
Mac schüttelte den Kopf. »Er hat Schiss, dass das ein schlechtes Licht auf ihn wirft und er am Ende seinen Job verliert.«
Zeigte ein Bulle das leiseste Anzeichen von Schwäche, stand für ihn viel auf dem Spiel: Arbeitsplatz, Pension, Ruf. Als ich noch Polizistin war und einen Zusammenbruch erlitt, taten die Kollegen zwar nett, gingen jedoch auf Distanz, als handelte es sich bei meinem Versagen um eine ansteckende Krankheit, vor der sie sich fürchteten.
»Wie lange geht das schon so?«
»Keine Ahnung. Er hat mich vor ein paar Wochen eingeweiht und vorgeschlagen, mir die Adresse zu simsen, wenn er merkt, dass es wieder losgeht. Wir haben vereinbart, dass ich dann dorthin komme, egal, wo und wann es passiert, und ihm helfe, die Sache in den Griff zu kriegen.«
»Du bist ein wahrer Freund.«
»Heute Abend offensichtlich nicht.«
Ich küsste ihn auf die Stirn. »Ich kümmere mich darum.« Dann verabreichte ich ihm eine Ibuprofen, schaltete das Licht aus und zog mich wieder an.