„Vermutlich nicht“, erklärte Mary, unbeeindruckt von Violas eisigem Ton. „Aber Sie müssen sowieso runterkommen. Es sind Gäste da, und die Witwe ist nicht gerade begeistert, weil nur vier Stücke Teegebäck vorbereitet sind.“
Violas Blick wanderte zum Fenster. Der Schnee war endlich geschmolzen, aber die Straßen waren vollständig von Matsch bedeckt. „Wer kommt denn an so einem Tag zu Besuch?“
„Ihre Tochter ist einer der Gäste. Einige ihrer Begleiter sehen für mich ein bisschen zwielichtig aus, obwohl einer von ihnen schön wie ein gefallener Engel ist! “ Beim Gedanken an den gut aussehenden Mann überlief Mary ein heftiger Schauer. „Er hat sogar eine Narbe quer übers Gesicht, wie der Teufel.“
„Gütiger Himmel!“ Viola sprang so unvermittelt vom Bett, dass die Zofe erschrocken zurückfuhr. „Bringen Sie mir meinen blauen Morgenmantel! Und beeilen Sie sich, Sie dummes Ding! Wir haben keine Zeit zu verlieren!“
Innerhalb bemerkenswert kurzer Zeit war Viola angezogen. Schon auf der Treppe nach unten hörte sie die schrille Stimme der Witwe, ebenso wie einige andere Stimmen. Was war ge-schehen, dass Venetia hierhergeschickt worden war? Und wer hatte sie begleitet? Im selben Moment, in dem sie den Salon betrat, erspähte sie ihre Tochter unter den Anwesenden. Venetia, normalerweise selbst unter den schwierigsten Umständen elegant und sorgfältig gekleidet, sah sehr zerknittert und müde aus. Die ganze,Gesellschaft erschien mitgenommen, schmutzig und zerzaust.
„Mama! “Venetia rannte auf sie zu und warf ihr die Arme um den Hals.
Schon immer war Venetia ein liebevolles Kind gewesen, doch an diesem Tag lag fast so etwas wie Verzweiflung in der Art, wie sie Viola umarmte. „Venetia! Was tust du hier? Nicht, dass du mir nicht willkommen wärest, aber, du lieber Himmel, was ist passiert?“
Über Venetias Schulter hinweg fing Viola Gregors Blick ein. Er sah ihr ruhig in die Augen, aber ihr schoss dennoch der Gedanke durch den Kopf, dass sich etwas geändert hatte und anders war als sonst.
Etwas Wichtiges.
Hoffnung regte sich in Viola. Sie tätschelte Venetias Schulter. „Ruhig, ruhig. Du musst mir alles erzählen.“
„Das werde ich tun. Es ist eine lange Geschichte. Vorher lass mich aber meine Reisegefährten vorstellen. Das hier ist Miss Platt.“
Eine dünne Frau mit mausbraunen Haaren senkte nervös den Kopf.
„Und das hier sind Miss Higganbotham und Sir Henry Loudan.“ Eine außergewöhnlich schöne junge Frau, die unglücklicherweise mit Matsch bedeckt war, errötete und nickte zur Begrüßung. Der vornehme Gentleman neben ihr, der sich bei Violas Erscheinen erhoben hatte, verbeugte sich.
„Ravenscroft kennst du ja.“
Der junge Lord stand abseits von der Gruppe neben dem Fenster und verbeugte sich dort in ihrer Richtung.
Viola musterte ihn interessiert. Lord Ravenscroft erschien ihr mürrisch, seine normalerweise kunstvoll zerzausten Locken waren zwar durchaus zerzaust, aber viel weniger kunstvoll als sonst. Er sah aus, als wäre er tagelang nicht aus seinen Kleidern gekommen, denn der Knoten seiner Krawatte war verrutscht, seine Jacke zerknittert, seine Haare standen in alle Richtungen ab, und eines seiner Hosenbeine starrte vor Dreck.
Die dünne, knochige Frau räusperte sich und sagte mit unangenehm hoher Stimme: „Das hier ist ein interessantes Haus. Von außen sieht es düster aus, und innen ist es auch ziemlich dunkel. Ich kann mir nicht helfen, aber ich komme mir vor, als wären wir in eine Art Schauerroman geraten. Es könnte sein, dass morgen früh einer von uns tot auf wacht.“
Die Witwe war nicht gerade erfreut über diese Worte. Wie üblich war sie in Schwarz und Lila gekleidet, auf dem Kopf trug sie eine riesige, leuchtend rote Perücke, die mit einer Unmenge juwelenbesetzter Haarnadeln befestigt war. Nun schnaubte sie laut und begann: „Miss Flat ...“
„Es heißt Miss Platt“, widersprach die Frau kichernd.
Die Witwe zog ihre schmalen Augenbrauen zusammen. „Miss Flat, mir gefällt nicht, was Sie da sagen. Wenn Sie mein Haus nicht mögen, steht es Ihnen frei zu gehen. Dort drüben ist die Tür.“ Sie deutete auf die gegenüberliegende Wand.
Die ganze Gesellschaft betrachtete die Wand. Dort war keine Tür zu sehen, sondern nur ein Fenster, das ein Stockwerk über dem Garten lag.
Viola unterdrückte ein Grinsen, während sie im Stillen Miss Platts Urteil über das Haus zustimmte. Sie hätte sich kein bisschen gewundert, wenn sie in einem der weniger benutzten Zimmer einen Toten gefunden hätte, und außerdem eine Menge Indizien, die auf die Besitzerin des Hauses als Mörderin hindeuteten.
„Mylady“, stieß Miss Platt nervös hervor und betrachtete das Fenster mit weit aufgerissenen Augen. „Da ist keine Tür. Es ist ein ...“
„Venetia!“ Die Witwe sah ihre Enkelin an. „Habe ich dich eingeladen?“
„Nein. Aber du hast mir oft gesagt, ich würde dich nicht häufig genug besuchen.“
„Ich meinte aber nicht, dass du unangemeldet hier auftauchen und eine Horde Halunken mitbringen solltest.“
„Großmutter!“, rief Venetia mit funkelnden Augen. „Sei bitte nicht unhöflich.“
„Es ist nicht unhöflich, sich klar auszudrücken.“ Venetias Großmutter schielte in Gregors Richtung. „Sie da! Sie sehen aus wie ein MacLean.“
Er verbeugte sich. „Ich bin Gregor MacLean.“
„Hm. Sind Sie der Taugenichts, der ständig mit meiner Venetia herumtändelt, aber nicht so anständig ist, sie zu heiraten, wie es ein rechtschaffener Mann täte?“
Venetia hielt sich entsetzt die Hände vor die Augen.
Zu Violas Überraschung zog ein leichtes Lächeln über Gregors Gesicht. Er ging zu der Witwe, nahm ihre gichtige Hand von der Armlehne des Stuhls und küsste sie galant. „Ich bin genau der MacLean, von dem Sie sprechen, und bin wohl auch ein Halunke und ein Schurke. Doch nicht, weil ich Ihre Enkelin nicht heiraten wollte. Ich habe sie gebeten, mich zu heiraten, aber sie lehnte ab.“
Viola schnappte nach Luft.
„Was?“, schrie Ravenscroft.
Miss Platt legte beide Hände auf ihr Herz. „Miss West! Davon haben Sie kein Wort erwähnt!“
Auch Miss Higganbotham und ihr Verehrer schienen verwirrt zu sein .
Während Viola sich fragte, wer Miss West sein mochte, ließ Venetia den Kopf hängen, bedeckte immer noch ihre Augen mit den Händen und stöhnte unterdrückt auf.
Die Witwe stampfte mit dem Fuß auf. „Warum will sie Sie nicht nehmen?“
„Weil ich mich bei meinem Antrag so ungeschickt angestellt habe, wie es nur möglich ist. Ich hoffe, ich kann Venetia überzeugen, mir noch eine Chance zu geben, denn ich weiß, dass wir hervorragend zusammenpassen.“
Violas Herz machte einen freudigen Sprung. Nie zuvor hatte sie gesehen, dass MacLean ihrer Tochter einen so begehrlichen Blick zuwarf. Irgendetwas hatte sich eindeutig verändert. Aber warum erwiderte Venetia seine Gefühle nicht?
Die Witwe musterte Gregor. „Ich bin höchst verwundert, dass Sie sich ein Nein von einem Mädchen bieten lassen.“ „Großmutter!“, rief Venetia und nahm die Hände von ihren Augen. „Bitte hör auf damit! Und beschimpfe Gregor nicht!“ „Wieso sollte ich nicht?“, erkundigte sich die Witwe spöttisch. „Jede Familie, die mit einem Wetterfluch belegt wurde, besteht meiner Meinung nach aus Halunken.“
„Und meiner Meinung nach ist jede Frau, die in der Lage war, meinen armen Urgroßvater fast in den Wahnsinn zu treiben, ein lockeres Ding“, erwiderte Gregor grinsend.
„Ha!“, stieß Venetias Großmutter fröhlich hervor, während sich ihre faltigen Wangen leicht röteten. „Er hat Ihnen also davon erzählt, bevor er ins Gras biss.“
„Sie sind in meiner Familie ein Mythos. Ihr Porträt hängt in der Eingangshalle immer noch gegenüber von seinem - sehr zum Ärger meiner seit Langem verstorbenen Urgroßmutter. Man erzählt sich, sie würde noch immer durch die Gänge spuken, mit den Zähnen knirschen und wehklagen, obwohl sie seit fünfzig Jahren tot ist.“
„So war Pauline nun mal. Sie weinte über dieses und klagte über jenes. Das erinnert mich an gewisse andere Leute, die ich kenne.“ Die Witwe schaute Viola geradewegs ins Gesicht.
Bevor Viola, die bereits den Mund geöffnet hatte, protestieren konnte, fuhr die Witwe schon fort: „Es mag sein, dass ich ab und zu die Beherrschung verliere, aber ich verschwende meine Zeit niemals mit Tränen. Wenn etwas nicht in Ordnung ist, muss man es in Ordnung bringen. Diese verweichlichte Generation packt ihre Probleme nicht an. Sie tanzen nur um sie herum und raufen sich die Haare.“ Sie betrachtete Gregor eine Weile aufmerksam und ließ ihren Blick dabei sekundenlang auf seinen Beinen ruhen. „Sie dürfen sich neben mich setzen.“ „Sobald alle Damen sich gesetzt haben, werde ich das gerne tun“, erklärte Gregor mit einer höflichen Verbeugung.
Es fiel Venetia sichtlich schwer, sich zusammenzunehmen. „Wir haben alle eine lange und anstrengende Reise hinter uns, Großmutter. Ich glaube, am besten wäre es, wenn wir uns alle zurückziehen, um zu baden und uns ein wenig auszuruhen.“ Die Witwe zuckte die Achseln. „Mach, was du willst. Ich pflege tagsüber nicht zu ruhen. Habe es nie gemacht und werde es nie tun.“ Sie warf Viola einen strengen Blick zu. „Zeig den Leuten die Gästezimmer. Es ist mir egal, wo die anderen schlafen, aber gibt MacLean das Rosa Zimmer, wo der hübsche Prinz Charlie einst gewohnt hat. Und Venetia bekommt das Blaue Zimmer.“
Um Violas Lippen spielte ein Lächeln, als ihr Blick den der Witwe traf. Das Blaue Zimmer und das Rosa Zimmer lagen nebeneinander. In diesem Augenblick hätte Viola ihre reizbare Schwiegermutter am liebsten umarmt. „Natürlich. Ich 'werde Ihnen also die Zimmer zeigen und ... “
„Nein, vielen Dank“, sagte Venetia mit fester Stimme. „Ich hätte lieber mein übliches Zimmer im Westflügel, wenn ihr erlaubt. “
Viola legte die Stirn in Falten. „Deine Großmutter hat dir freundlicherweise das Blaue Zimmer angeboten, das viel schöner ist, Venetia.“
„Ich habe mich bedankt und das Angebot abgelehnt, Mama. Und das meine ich ernst.“
Die Witwe sah sie finster an. „Immer noch dickköpfig, stimmt’s?“
Gleichmütig erwiderte Venetia den Blick ihrer Großmutter. „Ich bin eine Oglivie.“
Die dünnen Lippen der Witwe verzogen sich zu einem Lächeln. „Das bist du, bei Gott. Nun gut, dieses Mal werde ich dir deinen Eigensinn durchgehen lassen. Aber erwarte nicht, dass meine Geduld ewig währt. Bring diese Rabauken auf ihre Zimmer, Viola. Ich mache zwar tagsüber kein Nickerchen, aber ich will meine Ruhe haben.“
Viola nickte, obwohl sie enttäuscht war, dass die Witwe nachgegeben hatte. Die alte Schachtel hatte keine Hemmungen, Viola herumzukommandieren - warum konnte sie das nicht mit Venetia tun, ganz besonders, da es um etwas so Wichtiges wie Violas künftiges Enkelkind ging?
Nachdem die Gäste sich höflich (und ohne dass ihnen Beachtung zuteilgeworden wäre) von der Witwe verabschiedet hatten, führte Viola sie durch die labyrinthartigen, schwach beleuchteten Flure des düsteren Hauses.
Viola war sicher, dass sich alle Gäste nach einem heißen Bad und einem weichen Bett sehnten, sie wusste aber auch, dass sie nichts dergleichen bekommen würden. Die Dienstboten waren alt und die Zimmer so weit vom Hauptflügel des Hauses entfernt, dass das Badewasser lauwarm sein würde, wenn es die jeweilige Wanne erreichte, und die Betten waren allesamt hart wie Stein, da sie niemals aufgeschüttelt und gewendet wurden. Weil sie vor lauter Neugier wegen Gregors Antrag fast platzte, brachte Viola ihre Tochter und Gregor ganz zum Schluss zu ihren Zimmern. Zunächst erreichten sie das Sonnenzimmer, jenen Raum, den Venetia üblicherweise bewohnte, wenn sie ihre Großmutter besuchte. Dieses Zimmer war so weit wie nur irgend möglich von Gregors Zimmer entfernt.
Venetia umarmte ihre Mutter. „Vielen Dank, Mama.“
„Ich werde Gregor zu seinem Zimmer begleiten und dann zu dir zurückkommen, sodass wir noch einen langen, gemütlichen Schwatz halten können.“
In Venetias Augen trat ein wachsamer Ausdruck. „Nicht jetzt, Mama. Ich bin zu müde. Ich denke, ich werde bis zum Abendessen schlafen.“
„Möchtest du keinen Tee? Oder vielleicht etwas Lavendelwasser, um dich ...“
„Nein danke. Ich möchte einfach nur schlafen.“ Sie machte einen kleinen, spöttischen Knicks vor Gregor, der sich seinerseits tief verbeugte und ihr zuzwinkerte.
Venetias Wangen nahmen ein zartes Rosa an, und sie verschwand so hastig in ihrem Zimmer, dass Viola sprachlos im Flur zurückblieb.
Nachdenklich betrachtete Gregor für einen langen Augenblick die fest geschlossene Tür. Dann wandte er sich wieder Viola zu. „Mrs. Oglivie, ich werde Ihre Tochter heiraten.“
„Das wäre schön“, erwiderte Viola in ermutigendem Ton, obwohl sie den Gedanken an den traurigen, entschlossenen Zug um Venetias Mund nicht abschütteln konnte. Sie tätschelte Gregors Arm. „Ich wünsche Ihnen viel Glück.“
Er presste die Lippen aufeinander, und es dämmerte Viola, dass Gregor MacLean womöglich ebenso stur war wie Venetia. Dieser Gedanke machte ihr Hoffnung.
„Kommen Sie, Sie müssen völlig erschöpft sein. Ich werde Sie jetzt zum Rosa Zimmer führen. Es liegt ein wenig abseits der anderen Gästezimmer im Hauptteil des Hauses, und die Witwe möchte normalerweise niemanden dort haben. Es ist also eine ziemliche Ehre für Sie.“
Gregor bot Viola seinen Arm an und lächelte auf eine Art, die ihr Herz zum Flattern brachte. „Zeigen Sie mir den Weg, Madam. Ich versichere Ihnen, ich bin auf das Schlimmste gefasst.“
Venetia beauftragte das Hausmädchen, ihr warmes Wasser zu bringen, wusch und kämmte sich das Haar und ließ es vor dem Kamin trocknen. Anschließend zog sie ihr Nachthemd an, warf ihr Kleid über einen Stuhl und sandte ihrer Großmutter die Nachricht, sie habe Kopfschmerzen und werde der Gesellschaft beim Abendessen fernbleiben. Diese Frechheit brachte ihr eine schroff formulierte Erwiderung ein, die Venetia jedoch ignorierte. Daraufhin kam ihre Mutter und brachte ihr Laudanum, eine Tasse Kräutertee, ein mit kühler duftender Lotion getränktes Tuch für ihre Stirn und einen heißen Ziegelstein für ihr Bett.
Sehr bald wurde klar, warum ihre Mutter gekommen war; jede ihrer Fragen bezog sich auf Gregors Antrag. Venetia weigerte sich, über dieses Thema zu sprechen und brachte das Gespräch auf ihre Abenteuer, darauf, wie Ravenscroft sie hinterhältig dazu gebracht hatte, mit ihm gemeinsam London zu verlassen, und aus welchem Grund die anderen im Gasthof gelandet waren. Dabei erwähnte sie Gregors Namen so gut wie gar nicht.
Als die Glocke zum Abendessen läutete, nahm ihre Mutter die leere Tasse, küsste Venetia auf die Stirn, half ihr ins Bett, legte den heißen Stein an ihre Füße und ging.
Erstaunt über den Takt, den ihre Mutter entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit gezeigt hatte, kuschelte Venetia sich unter die Decke und hoffte, sie würde bald einschlafen.
Diese Hoffnung erwies sich als vergeblich. Nachdem sie sich eine gute halbe Stunde im Bett hin und her geworfen hatte, stand Venetia schließlich auf und setzte sich vor das Feuer.
Es war ein verführerischer Gedanke, dass eine Heirat mit Gregor nicht nur ihren Ruf retten, sondern sie einander auch näherbringen würde. Vielleicht würde zwischen ihnen Liebe entstehen.
Was aber, wenn das nicht geschah? Wollte sie wirklich auf so einer unsicheren Grundlage eine Ehe beginnen? Was, wenn Gregor eines Tages auf ihre Ehe zurückblickte und sich um sein Lebensglück betrogen fühlte? Was, wenn es ihr so ging?
Sie konnte es nicht tun. Sie konnte die Chance nicht wahrnehmen, dass doch noch alles gut wurde ...
Energisch wurde die Tür aufgerissen.
Venetia fuhr herum, zur Hälfte überzeugt, sie würde direkt in ein Paar dunkelgrüne Augen sehen. Tatsächlich sah sie aber ihre Großmutter, die ein lilafarbenes, mit schwarzen Bändern verziertes Abendkleid trug. Auf ihrem Kopf thronte eine riesige rote Perücke, die sie erstaunlich winzig wirken ließ, und ihre Nadeln und Broschen, Halsketten und Armbänder blitzten vor Diamanten.
Gefolgt von ihrem hoheitsvoll dahinschreitenden Butler, hinkte die alte Frau ins Zimmer. Mit ihrem Krückstock wies sie auf den kleinen Tisch vor dem Feuer. „Stellen Sie das Tablett dorthin, Raffley.“
„Ja, Madam.“ Der Butler tat, wie ihm geheißen worden war. „Sonst noch etwas, Madam?“
„Nein, das ist alles.“ Mit einer Handbewegung schickte sie ihn hinaus.
Verwirrt betrachtete Venetia das Tablett, auf dem neben zwei gestärkten Leinenservietten eine Teekanne, zwei Tassen und ein kleiner Teller mit Obsttörtchen standen. „Das ist sehr nett von dir, Großmama, aber ich bin nicht hungrig.“
„Das ist auch nicht für dich. Es ist für mich.“ Großmutter hinkte zum Tablett und nahm sich eines der Törtchen. Sie biss herzhaft hinein und sagte mit vollem Mund: „Beim Abendessen ist mir der Appetit vergangen, weil dieses Miss-Platt-Wesen schwadroniert hat wie ein betrunkener Matrose.“
Venetia musste lächeln. „Ich verstehe.“ Sie ging zum Tisch und ließ sich auf einem der Stühle davor nieder. „Komm und setz dich. Ich werde den Tee einschenken.“
„Ich kann nicht sitzen, meine Hüfte bringt mich um. Aber ich werde ein wenig Tee trinken. Mit besonders viel Sahne, bitte.“ Sie nahm die Tasse entgegen, die Venetia ihr reichte, und sah ihrer Enkeltochter aufmerksam ins Gesicht. „Nun, Miss West? Was hast du zu deiner Verteidigung vorzubringen?“
„Ich sehe, du weißt schon alles“, stellte Venetia seufzend fest. „Das meiste jedenfalls. Nach dem, was deine Mutter mir sagen konnte - wie üblich war es nicht gerade leicht zu verstehen, so undeutlich, wie sie immer vor sich hinredet - und nach den Bemerkungen zu urteilen, die deine seltsamen, abgerissenen Mitreisenden während des Essens fallen ließen, habe ich mir einiges zusammengereimt.“
„Oh?“ Venetia bezweifelte, dass die alte Frau wirklich alles wusste.
Die Brauen über den klugen Augen schossen nach oben. „Dieser Dummkopf Ravenscroft ist übers Ziel hinausgeschossen, und MacLean ist bereit, die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Unter diesen Bedingungen willst du ihn aber nicht haben, und deshalb hast du seinen Antrag abgelehnt. Ist das eine Kurzfassung der Geschichte?“
Mit einem Kloß in der Kehle nickte Venetia. „Ich kann natürlich nicht zulassen, dass Gregor sich opfert.“
„Warum nicht? Er ist ein Mann. Es ist seine Aufgabe,Verantwortung zu übernehmen.“
„Für die Fehler eines anderen? Nein. Es wäre etwas anderes, wenn ...“
„Wenn was?“
Wenn er sie liebte. Was er nicht tat. Der Kloß in ihrer Kehle wurde größer. Sie nippte an ihrem Tee und hoffte, dass sie sich nicht daran verschlucken würde.
Ihre Großmutter sah sie unverwandt an. „Du bist dumm, meine Liebe. Wenn deine Mutter die Frau wäre, die sie sein sollte, hättest du die Zeit des Schmachtens längst hinter dich gebracht und wärest auf dem Weg zum Traualtar.“
„Ich will aber nicht mit Lord MacLean zum Traualtar gehen!“
„Natürlich willst du das! Er ist ein verdammt gut aussehendes Exemplar. Die Sorte Mann, hinter der ich in meiner Jugend selbst her war. Man muss sich nicht dafür schämen, etwas haben zu wollen, Venetia. Man muss sich nur schämen, wenn man es nicht bekommt.“
Mit einem lauten Klirren stellte Venetia ihre Tasse zurück auf die Untertasse. „Jede Frau in London hat sich Gregor schon an den Hals geworfen, Großmama. Ich will nicht eine von ihnen sein.“
„Vergiss seinen Hals. Das ist nicht der Teil an ihm, der in diesem Fall am interessantesten ist.“ Venetias Großmutter kicherte vor sich hin, als sie sah, dass Venetias Wangen anfingen zu glühen. „Und spiel mir nicht die prüde Jungfrau vor, junge Dame. Ich habe beobachtet, wie du ihn ansiehst und er dich. Zwischen euch knistert die Luft. Das ist es, was Ehen haltbar macht und der Familie kräftige, gesunde Jungen beschert.“
Fast hätte Venetia laut aufgelacht. „Es ist ein Wunder, dass Mama sich nicht mit ihrer Migräne ins Bett gelegt hat, so wie du redest.“
„Sie hat sich jeden zweiten Tag ins Bett gelegt, aber ich weiß, wie ich sie da wieder herausbekomme.“ In einer Hand ihre Teetasse, in der anderen ihren Stock, humpelte Großmama zum Fenster.
„Komm und setz dich ans Feuer“, sagte Venetia, während sie aufstand und ihrer Großmutter folgte. „Du wirst deinen Tee verschütten.“
„Ich bin durchaus in der Lage, meine eigene Tasse zu halten, vielen Dank“, erklärte Großmama gereizt. „Es ist heiß hier drinnen. Mach ein Fenster auf.“
Seufzend öffnete Venetia das Fenster. Ein eisiger Windstoß fegte ins Zimmer und ließ den Fensterladen gegen die Wand krachen.
„So ist es viel besser!“, stellte Großmama zufrieden fest, während Venetia vor Kälte zitterte. Die alte Frau humpelte zum Bett. „Was meinte MacLean, als er sagte, er hätte den Antrag verpatzt?“
„Das spielt keine Rolle“, behauptete Venetia und rieb ihre kalten Arme. „Ich werde unter solchen Umständen nicht heiraten. Wenn er ... wenn es wirklich sein Wunsch wäre, mich zu heiraten, dann vielleicht. Aber so liegen die Dinge nun einmal nicht.“
Großmama spielte mit der Quaste des Bettvorhangs herum, während sie mit der anderen Hand die Teetasse gefährlich schief über die Matratze hielt. „Ich mochte diese Farbe noch nie. Eigentlich wollte ich an den Ecken grüne Quasten haben, aber diese verdammte Näherin hat es mir ausgeredet. Hat behauptet, Grün würde nicht zu Gelb passen.“
Warum um alles in der Welt sprach Großmama plötzlich über Bettquasten? „Großmama, warum ...“
„Hoppla!“ Der Tee schwappte auf das Bett und bildete einen braunen Fleck auf den Kissen und der Decke. „Verdammt noch mal! Sieht so aus, als hätte ich dein Bett ruiniert.“ In ihrer Stimme lag eine leise Andeutung von Zufriedenheit.
Plötzlich war Venetia zu müde, um an irgendetwas anderes zu denken, als daran, dass sie sich danach sehnte, allein zu sein. „Mach dir keine Sorgen darüber. Ich werde einem der Hausmädchen auftragen, das Bett so gut zu reinigen und zu trocknen, wie es geht. Und ich werde einfach auf der anderen Seite schlafen.“ Das Bett war so groß, dass vier Personen darin hätten nebeneinanderliegen können, ohne sich zu berühren.
Großmama humpelte zum Glockenstrang. „Meine Enkelin wird auf keinen Fall in einem feuchten Bett schlafen. Du würdest dir dabei den Tod holen, ganz besonders, da das Fenster auch noch offen steht.“
„Wirklich, Großmama, das ist gar kein Problem. Ich kann ... “ Nach einem leisen Klopfen trat Raffley ein.
„Da sind Sie ja.“ Venetias Großmutter war bereits auf dem Weg zur Tür. „Ich habe Tee auf das Bett geschüttet. Meine Enkelin braucht ein anderes Zimmer.“
„Das ist nicht nötig ...“, begann Venetia erneut.
„Zieh dein Kleid an, Kind. In diesem Aufzug kannst du nicht durch die Halle gehen.“ Großmama blieb in der offenen Tür stehen. „Raffley weiß, in welches Zimmer er dich bringen soll. Ich würde dich selbst dorthin begleiten, aber ich bin zu müde.“ „Großmama ..."
„Gute Nacht, meine Liebe. Wir sehen uns beim Frühstück.“ Venetia seufzte. Wenn Großmama etwas wollte, hatte es keinen Zweck, sich ihr zu widersetzen. Sie wusste nicht, warum sie es überhaupt probiert hatte. Ein Hausmädchen erschien, packte flink Venetia Reisetasche wieder und trug sie in die Halle zu einem wartenden Diener. Venetia schlüpfte in ihr Kleid und folgte dem Butler die Flure entlang. Sie gingen an zahlreichen anderen Schlafzimmern vorbei, am Ende auch an dem Rosa Zimmer, in dem Großmama Gregor untergebracht hatte.
Gegen ihren Willen dachte Venetia darüber nach, was er wohl gerade tat. Hatte er sich bereits schlafen gelegt? Vor ihrem inneren Auge sah sie deutlich vor sich, wie er zwischen die Laken glitt, und sie hätte ihr letztes Geld darauf gewettet, dass er ohne einen Faden am Leib schlief. Bei diesem Gedanken durchlief sie ein köstlicher Schauer.
Vor einer mehrflügeligen Tür ein paar Schritte neben dem Eingang zum Rosa Zimmer blieb Raffley stehen. Der Butler öffnete die Tür zu einem Zimmer, welches doppelt so groß war wie das, in dem sie in diesem Haus gewöhnlich schlief. Und da beide Kamine brannten, war es gemütlich warm. Das Bett war bereits aufgedeckt, auf der Brokatdecke prangten unzählige mit blauem Garn gestickte Blumen, ein Berg weicher Kissen mit blauen und goldfarbenen Bezügen zog sie wie magisch an, und Venetia spürte wieder, wie müde sie war. Auf beiden Seiten des Bettes brannten Kerzen, die die frisch gestärkten Laken in verführerisches Licht tauchten.
Vor einem der Kamine standen mehrere Stühle und ein Kanapee, überall waren weiche Teppiche verteilt. Eine große zweiflügelige Tür führte hinaus auf den Balkon, von dem aus man bei Tageslicht wohl einen weiten Blick auf den Garten hinter dem Haus hatte. Die dicken Vorhänge aus blauer Seide reichten bis zum Fußboden, und überall im Zimmer waren Kissen mit goldfarbenen Bezügen arrangiert.
Raffley packte Venetias Sachen aus, während ein Diener ein neues Teetablett mit frischen Erdbeeren, Himbeeren, Sahne, Zimtgebäck und einer Karaffe mit gekühltem Sherry ins Zimmer brachte. Venetia dachte, ihre Großmutter wollte sich auf diese Weise dafür entschuldigen, dass sie Tee auf ihr Bett geschüttet hatte.
Schließlich ließ Raffley seinen prüfenden Blick durchs Zimmer wandern, nickte zufrieden, wünschte ihr eine gute Nacht und zog die schweren Türen hinter sich ins Schloss.
Venetia zog ihr Kleid aus und warf es über einen Stuhl, dann ging sie zu dem Tablett und schenkte sich ein Glas Sherry ein. Das würde ihr beim Einschlafen helfen. Nachdem sie das Glas mit kleinen Schlucken geleert hatte, beschloss sie, ein zweites zu trinken.
Sie streckte ihre Füße in Richtung Feuer und wackelte in der behaglichen Wärme mit den Zehen. Morgen früh, wenn sie ausgeschlafen war, würde sie herausfinden, wie sie ihren Mitreisenden helfen konnte. Sir Henry war auf jeden Fall eine passende Partie für Miss Higganbotham, die von all ihren romantischen Vorstellungen schon ganz wirr zu sein schien. Er war zuverlässig und ausgeglichen und hatte Venetia mit seiner Rücksichtnahme und Aufmerksamkeit beeindruckt.
Miss Platt war ein anderer Fall. Für sie würde Venetia so bald wie möglich eine neue Stellung finden müssen; vielleicht hat Großmama eine Bekannte, die eine Gesellschafterin suchte.
Und Ravenscroft musste nach London zurückkehren und sich bei Lord Ulster entschuldigen. Dabei könnte ihre Mutter vielleicht behilflich sein, weil sie Ulsters Großmutter ziemlich gut kannte. Die alte Dame kontrollierte die Finanzen ihres Enkels, und so war es durchaus möglich, dass sie ihn dazu bringen konnte, Ravenscrofts reichlich verspätete Entschuldigung anzunehmen. Ja, dieser Plan konnte funktionieren.
Venetia legte die Stirn in Falten und nippte an ihrem Sherry. Blieben eigentlich nur noch ihre eigenen Probleme zu lösen. Ihre Mitreisenden wussten wahrscheinlich mittlerweile, dass sie nicht Ravenscrofts Schwester war, dass sie und er allein gereist waren und dass Gregor nicht ihr Vormund war.
Seufzend fragte sich Venetia, was sie tun sollte. Sie liebte das Leben in London und konnte sich nicht vorstellen, eine Einsiedlerin zu werden, aber genau das war es, was ihr bevorstand, denn alle ihre Londoner Bekannten würden sie schneiden. Sie konnte diesem Schicksal entgehen, indem sie Ravenscroft heiratete, aber nichts konnte sie dazu bewegen, diesen Schritt zu tun. Das kam ebenso wenig infrage wie eine Ehe mit Gregor.
Als sie das Sherryglas an den Mund hob, stellte sie erstaunt fest, dass es leer war. Nachdem sie es erneut gefüllt hatte, streckte sie sich behaglich. Das Licht der Flammen spielte auf ihrer Haut und tauchte sie in goldenes Licht, sodass sie den gleichen Farbton hatte wie die seidenen Bettvorhänge.
Venetia gestattete sich für einen Moment daran zu denken, wie Gregor sie am Abend angesehen hatte. Wenn sie nur glauben könnte, dass er mehr als bloße Verantwortung für sie fühlte. Dass er etwas ... Entscheidendes für sie fühlte.
Sie war so tief in Gedanken, dass sie nicht hörte, wie der Knauf der Balkontür umgedreht wurde.
Sie bemerkte auch nicht den Schatten der Gestalt, die sich ihr über die dicken Teppiche näherte.
Spürte nicht, dass jemand nur wenige Schritte von ihr entfernt stand und sie ansah, bis der schwache Duft seines Rasierwassers dafür sorgte, dass sich ihre Brustspitzen unter dem dünnen Stoff ihres Nachthemds aufrichteten.
Sie schloss die Augen und flüsterte: „Gregor?“