11. Kapitel
Die MacLeans sind sehr, sehr leidenschaftliche Männer, und das kann ein Segen und ein Fluch sein ...
...so sprach die alte Heilerin Nora von Loch Lomond in einer kalten Nacht zu ihren drei jungen Enkelinnen.
Gregor schlenderte auf die Scheune zu. Verdammt noch mal, was erwartete sie von ihm? Sollte er etwa die Leidenschaft ignorieren, die zwischen ihnen brannte? Das wäre die dümmste Art gewesen, mit der Situation umzugehen. Sie mussten ihre Leidenschaft leben, mussten sie erforschen und mussten herausfinden, was sie schürte. Nur dann konnten sie auch anfangen, diese Gefühle zu kontrollieren. Die einzige Alternative war, ihre Freundschaft aufzugeben und sich niemals wiederzusehen ... und er war absolut nicht bereit, sich auf diese Lösung einzulassen.
Vor der Scheune blieb Gregor stehen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Es war immer noch so kalt, dass der Schnee nicht vollständig wegschmolz, und er schauderte kurz und wünschte sich, er wäre noch einmal in sein Zimmer gegangen und hätte seinen Mantel geholt.
Laute Geräusche aus dem Stall erregten seine Aufmerksamkeit, und er sah das warme Licht, das durch die Ritzen der Tür nach draußen fiel. Dort drinnen würde es wärmer sein, als wenn er hier draußen auf dem Hof herumstand.
Während er auf den Stall zuging, knirschten die Sohlen seiner Stiefel im frisch gefallenen Schnee, als wollten sie sich über ihn lustig machen. Was für eine scheußliche Situation!
Gregors Atem bildete weiße Wölkchen in der Luft, als er die Stalltür erreichte. Er blieb stehen und drehte sich zu dem großen Fenster des Gastraumes im Erdgeschoss, konnte aber zwischen den Vorhängen kein Gesicht sehen.
Entsetzt über seine eigene Enttäuschung, wandte er sich ab. Was hatte er erwartet? Dass Venetia reumütig durchs Fenster nach ihm Ausschau hielt? Er schnaubte verächtlich, griff nach der Stalltür, stieß sie auf, trat ein und schloss die Tür ebenso rasch wieder hinter sich. Auf den ersten Blick wirkte der Stall leer, aber Stimmengemurmel und der Schein einer Laterne aus dem hinteren Teil des großen Raumes zeigten Gregor, dass jemand da war.
Natürlich war Ravenscroft hier. Der junge Mann hatte das Gasthaus nach dem Frühstück verlassen, wahrscheinlich um der weiblichen Übermacht aus dem Wege zu gehen - ganz besonders Miss Platt, die ihm praktisch an den Lippen hing.
Gregor ging auf den Lichtschein am anderen Ende des Stalls zu und blieb dabei ab und zu stehen, um den Pferden, die ihm aus den Boxen ihre Köpfe entgegenstreckten, die Nüstern zu streicheln. Ein großer, kräftiger Brauner schnaubte, als Gregor sich näherte. Er rieb die Nase des Tiers und erhielt als Belohnung einen spielerischen Stoß gegen den Arm. „Na, sticht dich der Hafer?“
Hinter einer Ecke ganz hinten im Stall tauchte Ravenscrofts Kopf auf. „Hallo, MacLean! Komm’n Sie un’ leisten Sie uns Gesellschaft! Ihr Reitknecht Chambers und ich trinken grad ’nen köstlichen Grog.“ Ravenscrofts lallender Stimme war der Rum deutlich anzuhören.
„Ist es nicht noch ein bisschen früh für Grog?“, wunderte sich Gregor, während er auf Ravenscroft zuging.
In der hintersten Ecke des Stalls standen einige Fässer um einen kleinen Ofen herum, in den Chambers gerade Holz nachlegte. Auf dem Ofen dampfte ein Topf, und der köstliche Duft des Grogs waberte durch die Luft.
Chambers schloss die Ofentür und stellte das Schüreisen in einen Ascheimer aus Metall. „Es geht nichts über einen guten Grog, um die Kälte aus den Knochen zu vertreiben.“ Listig schaute der Reitknecht ihn an. „Ravenscroft hier hat gesagt, für seinen Geschmack gibt es zu viele Frauenzimmer drinnen im Gasthaus.“
Gregor brummte zustimmend.
„Ich dachte mir, Sie kommen früher oder später auch hierher“, stellte Chambers nickend fest.
„So is’ es“, lallte Ravenscroft. „Er hat uns all’n gesagt, Sie würd’n kommen un’ hat dafür gesorgt, dass wir das beste Fass für Sie freihalt’n.“ Ravenscroft torkelte zurück zu seinem eigenen Fass und machte Gregor per Handzeichen klar, dass das Fass neben seinem das für ihn freigehaltene war. ,,Is’ das hier nich’ der beste Salon im ganzen Gasthaus?“, fragte er mit leuchtenden Augen. „Hat Miss Oglivie mich schon vermisst?“ „Nein.“ Gregor machte es sich auf dem Fass bequem. „Warum soll denn dieses Fass besser sein als Ihres?“
Ravenscroft stand auf, drehte sich um und beugte sich vor, um Gregor sein Hinterteil zu zeigen. „Holzsplitter.“
Mühsam unterdrückte Chambers ein Lachen. „Lord Ravenscroft, es ist nicht nötig, dass Lord MacLean Ihren, äh, Allerwertesten begutachtet.“
Ravenscroft ließ sich wieder auf sein Fass fallen und zuckte zusammen. „Das tut teuflisch weh. Das tut’s.“
„Warum sitzen Sie denn dann immer noch auf dem Ding?“ „Weil dieses Fass gleich neb’n dem Grogtopf steht.“ Ravenscroft suchte und fand seinen Becher, der auf den Boden gefallen war. Er hob ihn auf, starrte hinein, ließ seinen Finger um den Rand laufen und leckte ihn ab. Dann seufzte er. „Es is’ alles futsch.“
„Genau wie Sie“, stellte Gregor fest.
Der Reitknecht warf Gregor einen aufmerksamen Blick zu. „Sieht so aus, als hätte sich das Wetter beruhigt.“
„Schnee!“, schnaubte Ravenscroft. „Im April! Wer hat’n so was schon mal gehört?“
„Ja, wer wohl“, murmelte Chambers vor sich hin. Er griff nach einem leeren Becher, füllte ihn mithilfe einer kleinen Zinnkelle und reicht ihn Gregor. „Hier, Mylord. Damit Sie sich ein bisschen aufwärmen können.“
Gregor nahm den Becher, und durch die Berührung des warmen Metalls kehrte das Gefühl in seine vor Kälte tauben Fingerspitzen zurück.
„Wo ham Sie Ihren Mantel gelass’n?“, lallte Ravenscroft und setzte sich aufrechter auf seine Tonne.
„Im Haus“, erwiderte Gregor knapp.
Chambers zog eine Braue hoch. „Sie sind auf der Flucht, nicht wahr?“
„Was?“, rief Ravenscroft mit zorniger Stimme. „Häm diese ... diese Xanthippen Sie auch rausgeworf’n?“
„Niemand hat mich rausgeworfen. Ich bin aus meinem eigenen, freien Willen herausgekommen.“ Nach dem ersten Schluck von dem Grog breitete sich sofort Wärme in Gregors Körper aus.
„Sie versuch’n nur, sich Ihr’n Stolz zu bewahr’n. Isch verstehe“, stieß Ravenscroft mit schwerer Stimme hervor.
„Nein, so ist es nicht. Ich bin hierhergekommen, weil ich es so wollte ..."
„Ha!“ Ravenscroft ballte seine Hand zur Faust und bedrohte damit die Wand. „Verdammt seid ihr alle, ihr ... ihr ... ihr Frauen!“
Chambers schenkte auch sich selbst einen Grog ein und betrachtete den jüngeren Lord mit gutmütiger Neugier. „Das Gasthaus liegt nicht in der Richtung.“
Mit zusammengekniffenen Augen starrte Ravenscroft die Wand an. „Tut es nich’?“
„Nein. In der Richtung liegt die Straße.“
„Oh.“ Indem er sich an den Rändern seines Fasses festhielt, drehte sich Ravenscroft anders herum. Dann stand er langsam auf, stand eine Weile schwankend da und hob schließlich erneut seine Faust. „Da! Diese ... diese ... was ich eben schon gesagt hab!“
„Gut gemacht“, lobte ihn Chambers. „Vielleicht sollten Sie sich besser wieder setzen.“
„Ja“, stimmte ihm Gregor zu, der ebenfalls bemerkte, wie sehr Ravenscroft schwankte. „Sonst fallen Sie noch mit dem Kopf gegen den Ofen, und ich möchte nicht hören, wie Sie dann jammern werden.“
Ravenscroft setzte sich und umklammerte sein leeres Trinkgefäß.
Während Gregor Schluck für Schluck seinen Becher leerte, entspannte er sich zusehends und fühlte sich wieder mehr wie er selbst. Einen Anteil daran hatte der Grog, aber zum Teil half ihm auch die Entfernung, die nun zwischen ihm und Venetia lag.
Er seufzte. Die Unterhaltung mit Venetia hatte er mit dem diplomatischen Geschick eines Fischhändlers geführt. Sie hatte Verlangen und Sehnsucht noch nicht kennengelemt und wusste nicht damit umzugehen. Wie sollte sie denn auch? In vielerlei Hinsicht war sie unschuldiger als die schrecklich naive Tochter des Squires.
Das war ein weiterer Grund für sein Erstaunen angesichts von Venetias Leidenschaft. Gregor nahm einen weiteren stärkenden Schluck und wünschte sich dabei, Venetia wäre wenigstens bereit gewesen, mit ihm über die Sache zu reden. Aber sie hatte ihn abgewiesen, bevor er Gelegenheit gehabt hatte, ihr zu erklären, worum es ihm ging. Sein Leben lang hatte er noch keine Frau erlebt, die sich ihm gegenüber derart unerbittlich gezeigt hatte.
Einige Minuten lang grübelte er darüber nach und kam zu dem Ergebnis, dass er sich mit jedem Weg, den Venetia zu gehen wünschte, hätte einverstanden erklären sollen. Denn dann hätte er wenigstens noch den freien und freundschaftlichen Umgang mit ihr, den er immer so genossen hatte. Nun aber würde sie ihn misstrauisch beobachten, ganz gleich, was er tat. Wenn er sie links liegen ließ, würde sie denken, dass er wütend auf sie war, und wenn er sich um sie bemühte, würde sie glauben, er wolle sie verführen.
Großer Gott, was für ein Durcheinander! Vielleicht ... vielleicht, wenn er versuchte, sich völlig normal zu verhalten, könnte es gelingen, den alten Zustand zwischen Venetia und ihm wiederherzustellen. Und nachdem sie nach London zurückgekehrt waren, würde vielleicht der übliche Schwarm von Schönheiten, der ihn dort umgab, die Anziehung, die zwischen ihm und Venetia so plötzlich entstanden war, zum Abflauen bringen, und schließlich würde sie verschwinden.
Langsam trank er den Grog. Möglicherweise war es genau das: Es gab hier keine Konkurrenz für Venetia. Ganz gleich, mit welcher Frau er bei einem Unwetter hier gelandet wäre, er hätte wohl plötzlich jede mit anderen Augen gesehen.
Ravenscroft fand ein weiteres Mal seinen Becher, den er schon wieder auf den Boden hatte fallen lassen, und hielt ihn Chambers hin. Der teilte ihm jedoch mit, der Topf sei leer.
Daraufhin wurde der junge Lord höchst verdrießlich und schimpfte über das böse Schicksal, dreiste Diener und launenhafte Frauen.
Seufzend streckte Gregor seine Beine in Richtung Ofen. Im Stall war es warm und gemütlich, das Feuer brannte fröhlich vor sich hin, das Holz knackte und krachte, der süße Geruch nach Gewürznelken und Rum wirkte beruhigend auf ihn.
Plötzlich hob Ravenscroft den Kopf. „Wissen Sie, was ich denke?“
Weder Chambers noch Gregor antwortete.
„Ich glaube, hier drinnen is’ es warm genug, um einen der großen Eiszapfen zu sch-schmelzen, die über der Stalltür hängen.“
Chambers, der begonnen hatte, neuen Grog anzurühren, reagierte gelangweilt. „Natürlich ist es warm genug. Wir haben ein Feuer.“
„Das weiß ich“, erwiderte Ravenscroft entrüstet. „Ich glaub nur, dass er sehr schnell sch-schmelzen würde.“
Chambers zog seine dicken Brauen hoch. „Oh? Wie schnell?“
„Sehr schnell.“
„Hm. Wie wäre es, wenn ich einen dieser Eiszapfen hereinhole und wir eine Wette abschließen?“ Rasch schickte Chambers einen wachsamen Blick in Gregors Richtung und fuhr dann fort: „Natürlich nur eine kleine Wette.“
„Wetten Sie, um was auch immer Sie wetten wollen“, sagte Gregor achselzuckend. „Ravenscroft mag sich wie ein Kind anhören, er ist aber keines mehr.“
Ravenscroft schaute sich suchend um. „Wer is’ kein Kind mehr?“
„Sie! “, antwortete Gregor. „ Wenn Sie den Wunsch haben, Ihr Geld zum Fenster hinauszuwerfen, gibt es niemanden außer Ihnen selber, dem Sie daran die Schuld geben können.“
„Wunderbar!“, rief Chambers, während er sich die Hände rieb. Dann eilte er nach draußen, um einen Eiszapfen zu holen.
Gleich darauf war der Reitknecht wieder da, zog ein leeres Fass neben den Ofen und stellte einen großen Eiszapfen hinein. „Nun, Lord Ravenscroft? Was glauben Sie, wie lange er zum Schmelzen brauchen wird?“
Schwankend beugte sich der junge Lord vor, um schielend den Eiszapfen zu begutachten. Schließlich erklärte er in triumphierendemTon: „Ich geb ihm zweiundzwanzig Minuten!“ „Zweiundzwanzig Minuten sagen Sie also. Ich dagegen denke, es wird nicht so lange dauern.“ Chambers setzte sich wieder und füllte seinen und Gregors Becher ein weiteres Mal.
„Sie haben sich selbst übertroffen, Chambers“, stellte Gregor fest, nachdem er einen Schluck von dem Getränk genommen hatte. „Dies ist der beste Grog, den ich jemals ...“
„Pst! “, machte Ravenscroft und starrte den Eiszapfen in dem Fass unverwandt an. Ein paar Wassertropfen liefen an dem langen Eisstück herunter. „Wenn Sie reden, erwärmen Sie die Luft, und dann sch-schmilzt er schneller“, wisperte er in dramatischem Ton.
„Ich habe nicht vor, nur wegen einer dummen Wette schweigend hier herumzusitzen“, teilte Gregor ihm energisch mit.
„Die Wette is’ nich’ dumm“, widersprach Ravenscroft würdevoll, ruinierte aber sofort die Wirkung seiner ernsthaft vorgetragenen Worte, indem er von seinem Fass fiel.
Chambers stellte seinen Becher beiseite und half dem jungen Mann wieder auf seinen Sitz. „Hören Sie auf, so herumzuzappeln, sonst fallen Sie das nächste Mal noch mit dem Kopf gegen den Ofen.“
Ravenscroft klammerte sich mit den Händen an den Rand des Fasses und fuhr fort, den Eiszapfen verbissen anzustarren.
„Sie haben Ihren Einsatz nicht festgelegt“, wandte sich Gregor an Chambers. „Was gewinnen Sie, wenn Sie recht hatten?“ „Den Mantel des Lords.“
Ravenscroft erstarrte und riss seinen Blick von dem Eiszapfen los. „Dies’n Mantel?“
„Haben Sie noch ’nen anderen?“
„Nich’ hier.“
„Dann begnüge ich mich mit dem hier.“
„Aber ... was is’, wenn ich gewinne?“
Der Reitknecht kratzte sich am Kinn. „Dann gebe ich Ihnen mein Rezept für den Grog.“
Ravenscroft runzelte die Stirn. „Das is’ nich’ gerade ein Hauptgewinn.“
„Sie können all Ihre Freunde beeindrucken, wenn Sie den Grog für alle in Ihrer Wohnung machen“, erklärte ihm Chambers mit einem leichten Grinsen. „Sie werden von nah und fern kommen, um zu probieren.“
Ravenscrofts Mund verzog sich zu einem glückseligen Lächeln. „Ich werd sehr gefragt sein.“
„Alle werden sich um Ihre Einladungen reißen“, versicherte ihm Chambers. Mit begehrlichen Blicken betrachtete er den schweren Wollmantel, der Ravenscrofts schmale Schultern schmückte.
„Er wird Ihnen nicht passen“, gab Gregor zu bedenken.
„Ich habe nicht vor, ihn selber anzuziehen. Bei diesem Wetter wird es mir nicht schwerfallen, ihn dem Knaben für ein nettes Sümmchen zurückzuverkaufen“, erklärte der Reitknecht grinsend. „Der Eiszapfen wird’s nicht schaffen. Er ist jetzt schon halb geschmolzen.“
„Das kommt davon, dass Sie beide angefangen ham zu reden“, beklagte sich Ravenscroft in weinerlichem Ton.
Gregor stellte seinen Becher weg und streckte seine Hände dem Feuer entgegen. „Sie würden gut daran tun, niemals mit Chambers zu wetten.“
Misstrauisch beäugte Ravenscroft den Reitknecht. „Schummelt er?“
„Gott bewahre!“, widersprach Gregor grinsend. „Aber er wettet nie, wenn es nicht eine absolut sichere Sache ist.“
„Es gibt keine sicheren Sachen auf der Welt“, erklärte Ravenscroft weinerlich.
An dieser Stelle der Unterhaltung mischte sich Chambers ein. „Doch, es gibt welche, und eine davon ist ein guter, heißer Grog. “ Sehnsüchtig schaute Ravenscroft in seinen leeren Becher. „Das war einfach großartig. Aber außer ’nem heißen Grog gibt es nix Sicheres auf der Welt.“
„Oh, mir fallen schon noch ein paar andere sichere Dinge ein“, behauptete Chambers. „Die Sonne geht jeden Morgen auf, nicht wahr?“
„Im Moment is’ sie nicht da.“
„Doch, das ist sie. Sie hat sich nur hinter den Wolken versteckt.“
„Oh.“ Ravenscroft stützte den Arm auf sein Knie und das Kinn in seine Hand. „Vielleicht.“
„Und dann sind da noch die Frauen“, fügte Chambers in nachdenklichem Ton hinzu. „Die ändern sich nie, das ist schon einmal sicher.“
Ravenscrofts kurzes Auflachen klang bitter. „Man kann nie Vorhersagen, was eine Frau tun wird! Seh’n Sie sich zum Beispiel Miss Venetia an. Vor noch nich’ mal zwei Wochen hat sie wie verrückt mit mir geflirtet... “
„Geflirtet?“, wiederholte Gregor in zweifelndem Ton und schaute von den Spitzen seiner Stiefel auf, die er nachdenklich betrachtet hatte. „Venetia flirtet niemals.“
„Sie hat mir gesagt, dass ich wunderbare Gedichte schreibe. Schönere als dieser Byron.“
„Was soll das mit Flirten zu tun haben? Selbst ich könnte bessere Gedichte als dieser Knabe Byron schreiben. Wahrscheinlich hatte Venetia Mitleid mit Ihnen und hat Sie zu einem ihrer Projekte gemacht.“
Voll Entsetzen riss Ravenscroft die Augen auf. „So wie Miss Platt!“
„Genau so. Ich bin mir nicht sicher, warum Venetia dieses kleine Theaterspiel angezettelt hat, aber sie verfolgt wohl irgendeinen Plan damit.“
„Ich sag Ihnen, worum’s geht“, erklärte Ravenscroft in kläglichem Ton. „Venetia bat mich, nett zu der alten Sch-schachtel zu sein, weil sie dachte, das würd Miss Platts Selbstbewusstsein stärken, und sie würd dann mehr Mut ham, sich gegen Mrs. Bloom durchzusetzen.“
„Darum geht es also! stellte Gregor fest, zufrieden, endlich den Hintergrund für all das Getue herausgefunden zu haben. „Miss Platt scheint es jedenfalls sehr zu genießen, Sie um sich zu haben.“
„Das genau ist das Problem“, erklärte Ravenscroft trübsinnig. „Heute Nachmittag hat Venetia mich gewarnt, weil Miss Hicks, weil Miss Higganbotham in Miss Platts Gegenwart erklärt hat, dass ein Mann den Wunsch hat, ’ne Frau zu heiraten, wenn er sie auf ’ne bestimmte Weise ansieht.“
„Ansieht?“, wiederholte Gregor verblüfft.
„Ja. Könn’n Sie sich vorstell’n, wie schrecklich es sein muss, wenn Ihr Blick beim Abendessen zufällig auf ’ne Frau fällt, und sie läuft am nächsten Tag in der ganzen Stadt herum und erzählt überall, dass Sie verrückt nach ihr sind, obwohl Sie sich nur nach dem Salzstreuer umgeschaut ham?“
„Wie schauderhaft“, sagte Gregor mitleidlos. „Aber so etwas kommt eben dabei heraus, wenn Sie sich auf Venetias Pläne einlassen.“
„Aber ... sie hat mich gebeten, es zu tun. Wie könnt’ ich ihr das abschlagen?“
„Etwa so: ,Nein, ich habe nicht die Absicht, mich in Ihre verrückten Pläne hineinziehen zu lassen.“ Vielleicht möchten Sie das üben, bevor Sie das nächste Mal mit ihr reden.“
„Ich würd es nich’ über mich bringen, ihr einen Wunsch abzuschlagen!“
„Wie um alles in der Welt haben Sie es denn dann über sich gebracht, sie zu entführen? Was Sie sagen, ergibt keinen Sinn.“ „Ich habe es nich’ als Entführung gesehen; ich d-dachte, sie liebt mich.“
„Wären Sie wirklich davon überzeugt gewesen, dass sie Interesse an Ihnen hat, hätten Sie sie nicht anlügen müssen, um sie in die Kutsche zu bekommen.“
„Glauben Sie, wenn ich ihr unter romantischeschen, äh, unter romantischeren Umständen einen Heiratsantrag gemacht hätte, hätt’ sie Ja gesagt?“, fragte Ravenscroft nach kurzer Überlegung. „Vielleicht wenn ich ihr Blumen geschenkt hätte und vor ihr niedergekniet wäre? Frauen mögen das, wie Sie wissen. Ganz besonders Frauen wie Venetia.“
„Humbug!“
Chambers hörte für einen Moment auf, im Grog herumzurühren und warf Gregor einen prüfenden Blick zu.
„Ich brauche noch etwas zu trinken“, verkündete Gregor, nachdem er vergeblich versucht hatte, den Kloß hinunterzuschlucken, den er im Hals spürte.
Sofort füllte Chambers seinen Becher neu.
Die heiße Flüssigkeit verbrannte Gregors Mund, aber der Alkohol half ihm, seine Gedanken zu sammeln. „Sie sind ein Dummkopf, wenn Sie glauben, Venetia ließe sich von romantischem Getue beeindrucken. Sie ist nicht wie andere Frauen. Sie war noch nie so.“
„Sie is’ anders, das weiß ich sehr wohl. Aber das heißt nich’, dass sie keine hübschen Dinge mag. Frauen sind sehr empfänglich für Dinge wie Blumen und Gedichte und ..."
„Nicht jede Frau nimmt solche Sachen so furchtbar wichtig.“
„Das tun sie sehr wohl“, beharrte Ravenscroft. „Fragen Sie Chambers.“
Als Gregor sich seinem Reitknecht zuwandte, nickte dieser.
„Es tut mir leid, Mylord, aber in diesem Punkt hat der Mann recht. Frauen finden solchen Sachen unglaublich wichtig - viel wichtiger, als Sie sich vorstellen können.“
„Manche Frauen. Aber nicht Venetia“, verkündete Gregor mit finsterem Blick.
Ravenscroft legte den Kopf auf die Seite und hielt sich dabei krampfhaft an seinem Fass fest, als hätte er Angst, es könnte ihn im nächsten Moment abwerfen. „Warum sollt’ sie so etwas nich’ mögen, wenn andere Frauen es doch mögen? Was unterscheidet sie so sehr von den anderen?“
„Sie ist eben anders“, behauptete Gregor. „Sie kennen Venetia nicht so gut, wie ich sie kenne.“
Ganz hinten in Gregors Kopf meldete sich ein leises Stimmchen, welches ihm zuflüsterte, dass auch er Venetia längst nicht so gut kannte, wie er es sich eingebildet hatte. Ihre Reaktion heute Morgen war Beweis genug.
Bei der Erinnerung an die Szene zwischen Venetia und ihm hatte er plötzlich das Gefühl, einen Stein in seiner Brust mit sich herumzutragen, und er stürzte den Rest seines Grogs mit einem einzigen Zug hinunter, um den bitteren Nachgeschmack fortzuspülen.
Aber in Ravenscrofts Augen war eine verdammte Sicherheit. Was, wenn ... was, wenn Ravenscroft recht hatte? Was, wenn Venetia solche Kinkerlitzchen wie Gedichte und Blumen mochte? War es möglich, dass er sie so falsch einschätzte?
Das war unvorstellbar.
Chambers kratzte sich an der Nase. „Ich nehme an, es ist möglich, dass Miss Oglivie ein bisschen anders ist als andere Frauen. Sie ist eine unerschrockene Reiterin, und ich habe noch nie erlebt, dass sie einen Weinkrampf bekam oder sich so schrecklich aufgeregt hat, wie andere Frauen das tun. Obwohl ihre Mutter ...“ Chambers erschauderte.
„Genau“, stimmte Gregor ihm zu. „Venetia hat oft genug miterlebt, was die Folgen eines so dummen Verhaltens sind, und deshalb ist sie immun dagegen.“ Er griff nach dem Schürhaken, öffnete damit die Ofentür und warf ein großes Holzscheit ins Feuer.
Als er sich wieder umdrehte, stellte er fest, dass Ravenscroft ihn mit zorniger Miene anstarrte. „Was tun Sie da, verdammt noch mal?“, erkundigte sich der junge Lord mit gepresster Stimme.
„Ich habe Holz nachgelegt. Das Feuer war schon fast ausgegangen.“
„Sie sorgen dafür, dass es hier wärmer wird.“ Ravenscroft wandte sich Chambers zu. „Das is’ ungerecht. Ich verlange eine neue Wette! Er hat gerade dafür gesorgt, dass es hier drinnen wärmer wird.“
Chambers warf einige Gewürznelken in den vor sich hin siedenden Grogtopf. „Genau. Das hat er getan. Und es war eine gute Idee, denn mir wurde langsam kalt.“
„Aber nun wird der Eiszapfen schneller schmelzen! “ „Vielleicht.“
„Deshalb verlange ich ’ne neue Wette!“
„Nein.“
„Warum nich’?“
„Als Lord MacLean hier hereingekommen ist, musste er die Tür öffnen, und dadurch ist es kühler geworden. Also gleicht es die Sache nur aus, wenn es jetzt wieder ein bisschen wärmer wird.“
„Oh.“ Vor lauter Anstrengung, sich vorzustellen, was Chambers ihm soeben erklärte hatte, schielte Ravenscroft. „Ich verstehe, was Sie meinen“, erklärte er schließlich. Als sein Blick sich mit Gregors kreuzte, fügte er hinzu: „Ich glaub, ich bin Ihnen nich’ böse. Außer natürlich für die Dinge, die Sie über Venetia gesagt haben.“
„Alles, was ich gesagt habe, ist, dass sie anders ist.“
„Früher habe ich das auch geglaubt, aber jetzt ...“ Ravenscroft runzelte die Stirn. „In letzter Zeit dämmerte es mir, dass sie vielleicht nur den Anschein erweckt, anders zu sein, weil sie nich’ weiß, dass sie wie alle anderen Frauen is’.“
Verblüfft starrte Gregor den jüngeren Mann an. „Was zur Hölle soll denn das bedeuten?“
Ravenscroft errötete. „Es bedeutet, dass sie, wie jede andere
Frau auch, von ’nem Mann einfach nur erobert werden will. Sie weiß es nur einfach nich’.“
„Wie kommen Sie denn auf so einen Blödsinn?“
„Das ist kein Blödsinn! Keine Frau is’ immun gegen einen Mann, der ihr Blumen schenkt, ihr Komplimente ins Ohr flüstert und ihr sagt, dass sie wunderschön is’.“
Nachdenklich rieb Chambers sein Kinn. „Wissen Sie, Mylord, was der Bursche da sagt, hat was für sich.“
Gregor wusste nicht, was ihn mehr irritierte: dass ihm sein eigener Diener widersprach oder dass Ravenscroft meinte, Venetia besser zu kennen als er. Wie sollte er Ravenscroft seinen Denkfehler klarmachen?
Als Gregors Blick auf das offene Fass fiel, in dem der schmelzende Eiszapfen lag, konnte er bei dem Gedanken, der ihm plötzlich kam, ein Lachen nicht unterdrücken. „Hören Sie, Ravenscroft, ich wette hundert Pfund, dass sich Venetia nicht von solchen Kinkerlitzchen wie Blumen und Geschenken beeindrucken lässt.“
Schlagartig setzte sich Ravenscroft kerzengerade hin. „Ham Sie eben gesagt, hundert Pfund?“
„Ja.“
„Seien Sie vorsichtig“, murmelte Chambers. „Der Bursche nimmt jede Wette an.“
Gregor ignorierte seinen Reitknecht. „Nun? Schlagen Sie ein?“
„Natürlich“, erklärte Ravenscroft nickend. „Es ist nur ... wo wollen Sie hier Blumen und Gedichte und solche Sachen herbekommen?“
Das war tatsächlich ein Problem. „Wahrscheinlich werde ich keine Blumen auftreiben können, aber ein Geschenk für sie sollte sich finden lassen.“
„Und an was denken Sie da?“
Gütiger Himmel, musste er sich denn um alles selber kümmern? „Ich könnte ihr meine Taschenuhr schenken.“
„Daran is’ aber nun auch überhaupt nix romantisch“, spottete Ravenscroft.
Chambers räusperte sich. „Zufällig habe ich eine goldene Halskette dabei, die ich meiner Liebsten mitbringen wollte. Ich könnte sie Ihnen überlassen, Mylord. Natürlich nur gegen einen angemessenen Preis.“
„Abgemacht“, erwiderte Gregor.
Unverzüglich stand Chambers auf, zog aus einer seiner Taschen ein kleines Paket und überreichte Gregor im Tausch gegen einige Münzen ein Samtsäckchen.
„Was könnte ich noch tun?“, erkundigte sich Gregor, nachdem er die Kette eingesteckt hatte.
„Gedichte“, riet ihm Ravenscroft. „Ich hab ein Buch bei mir.“ Er wühlte in seinen Taschen herum und fand schließlich ein kleines, in Leder gebundenes Büchlein. „Hier.“
Gregor zuckte zusammen. „Das ist von diesem Shelley, der ganz furchtbaren Blödsinn schreibt.“
„Frauen lieben diesen furchtbaren Blödsinn, das verspreche ich Ihnen.“
„Haben Sie noch etwas anderes?“
„Nein. Nur Shelley oder gar nichts. Ich hab einige Stellen angestrichen. Wenn Sie ihr eine davon vortragen, wird sie vor Entzücken in Ohnmacht fall’n.“
„Na gut.“ Gregor ließ das Büchlein in seine Tasche gleiten. „Jetzt bin ich mit Poesie und mit einem Geschenk bewaffnet. Ich werde nun also losziehen und mit dieser albernen Sache beginnen, und später werde ich Ihnen Bericht erstatten ... “ „Warten Sie einen Moment“, rief Ravenscroft und musterte ihn mit misstrauisch zusammengekniffenen Augen. „Sie können nich’einfach behaupten, Sie würden Miss Oglivie Gedichte vorlesen und ihr das Geschenk geben. Wir müssen sehen, dass Sie es tun.“
„Ich denke nicht daran, in Ihrer Gegenwart Gedichte vorzutragen“, erklärte Gregor in entschiedenem Ton.
„Natürlich nich’“, stimmte ihm Ravenscroft verständnisvoll zu. „Wir werden von draußen zusehen, durch das Fenster. “ Grimmig blickte Gregor ihn an. Vielleicht wäre es einfacher, den Kerl zum Duell herauszufordern und die Sache auf diese Weise rasch hinter sich zu bringen. „Ich werde mir wie ein kompletter Idiot Vorkommen.“
„Sie werden auch wie einer aussehen“, stimmte ihm Chambers zu. Als ihn Gregors finsterer Blick traf, fügte der Reitknecht eilig hinzu: „Aber Sie werden hinterher um hundert Pfund reicher sein. Das macht die Sache ein bisschen einfacher. “
Wenn er mit seiner Meinung über Venetia recht behielt, würde vieles sehr viel einfacher für ihn sein.
„Nun?“, erkundigte sich Ravenscroft. „Sind wir uns einig?“ „Zur Hölle, ja“, brummte Gregor, dann rückte er sein Halstuch gerade und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Ich werde Ihnen beiden beweisen, dass Venetia Oglivie nicht wie andere Frauen ist. Und wenn ich das getan habe, halten Sie Ihren Geldbeutel bereit, Ravenscroft.“