2. Kapitel

Stolze Männer glauben oft, es sei eine Sünde, einen Fehler zuzugeben, und stolze Frauen denken nicht selten ebenso. Daran könnt ihr sehen, ihr Mädchen, dass Stolz die Geschlechter ebenso leicht vereint, wie er sie entzweit...

... so sprach die alte Heilerin Nora von Loch Lomond in einer kalten Nacht zu ihren drei jungen Enkelinnen.

Acht Meilen nördlich von London musste Lord Ravenscroft sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass sein Leben zerstört war. Vor knapp zwei Jahren war er in dem sicheren Glauben nach London gekommen, er würde schon bald sein Glück machen. Er war gut aussehend, ziemlich wohlhabend und stammte aus gutem Hause.

Es stellte sich jedoch heraus, dass ihm keiner seiner offensichtlichen Vorzüge zu den Einladungen und der Aufmerksamkeit verhalf, von denen er dachte, sie stünden ihm zu. Er hatte Empfehlungsschreiben von seiner lieben Mama, die einige Erfolge in der Londoner Gesellschaft gefeiert hatte, bevor sie seinen Vater zum Mann nahm. Allerdings entdeckte er rasch, dass man sie zwar damals als Schönheit angesehen haben mochte, sie nach ihrer Heirat jedoch aus London und damit von der Bildfläche verschwunden war, sodass seither niemand auch nur einen Gedanken an sie verschwendet hatte. Ihre Briefe halfen ihm daher nicht weiter.

Außerdem hatte er einen Freund - jedenfalls hatte er ihn für einen Freund gehalten - namens Mr. Philcourt, der angeboten hatte, ihn bei White’s einzuführen. Unglücklicherweise wurde dieses Angebot, einst so großzügig neben einem bis zum Rand gefüllten Punschgefäß bei einer Abendgesellschaft in York ge-macht, niemals in die Tat umgesetzt. Vielmehr schien Mr. Philcourt vollständig vergessen zu haben, dass er jemals in seinem Leben Lord Ravenscroft begegnet war, und mied ihn, wo er nur konnte.

Ein wenig entmutigt, aber ungebrochen, weigerte sich Ravenscroft, seine gesellschaftlichen Ambitionen und seinen Wunsch, jemand zu sein, aufzugeben. Dennoch wendeten sich die Dinge nicht zum Besseren. Er wurde durchaus zu einigen Gesellschaften eingeladen, aber keine von ihnen war so wichtig und vornehm, dass er sich endlich am Ziel seiner Wünsche hätte fühlen können.

All das ließ ihn mürrisch und missgelaunt werden, und einige der Leute, die zuvor freundlich zu ihm gewesen waren, wandte sich von ihm ab und verschwanden aus seiner Nähe, sobald er irgendwo auftauchte. Lord Ravenscroft war umso entschlossener, in der Gesellschaft erfolgreich zu sein, doch nach dem unglücklichen Beginn seiner Bemühungen wurde alles nur von Tag zu Tag schlimmer. Bald erschien es ihm, als müsste er mit jedem Tag, den er sich länger in London aufhielt, mehr Kränkungen erdulden.

Irgendjemand hatte das Gerücht in die Welt gesetzt, er sei ein unbedeutender Mann mit wenig Verstand und bar jeder Gewandtheit auf dem gesellschaftlichen Parkett. Eine absolut lächerliche Unterstellung. Er verfügte über mehr Geist als die meisten anderen Männer, das hatte ihm seine Mutter mehr als einmal gesagt. Außerdem war er sich seines charmanten Auftretens sehr sicher, denn schließlich war er der Liebling der Yorker Gesellschaft gewesen. Was seine Bedeutung betraf, so stammte seine Familie von Bloody Jack Ravenscroft ab, dem ersten Wegelagerer, der einen Adelstitel besessen hatte. Eine solche Herkunft war schließlich nicht zu verachten, und es gab keinen Grund, darüber zu spotten!

Unglücklicherweise war es jedoch schwierig, einen Ruf, den man einmal hatte, wieder loszuwerden; und nur ein beträchtliches Vermögen würde dafür sorgen, dass die vornehme Gesellschaft ihn doch noch anerkannte. Deshalb hatte Ravenscroft, der verzweifelt war und nichts zu verlieren hatte, angefangen zu spielen. Leider erlaubten ihm seine beschränkten Geldmittel kaum Verluste, und so kam es, dass es ihm innerhalb einer Woche, in der er immer verzweifeltere Wetten abschloss, gelang, fast das gesamte Geld, das ihm noch zur Verfügung stand, zu verlieren.

Selbst wenn er nicht gerade über den allerschärfsten Verstand verfügte, brauchte Ravenscroft nicht lange, um zu begreifen, dass er einen Fehler begangen hatte, der nicht wieder rückgängig zu machen war. Ihm war rasch klar geworden, dass ihm nur noch ein Weg aus der Misere blieb: Er musste eine reiche Erbin heiraten.

Da er in der Londoner Gesellschaft jedoch nicht akzeptiert war, kannte Ravenscroft keine Erbinnen. Die einzige hochgestellte Dame, mit der er näher bekannt war, war Miss Venetia Oglivie, die Tochter von Ravenscrofts einzigem Fürsprecher in der Gesellschaft. Einer Bemerkung von Venetias Vater hatte er entnommen, dass dieser, obwohl nicht ausgesprochen wohlhabend, die Absicht hatte, einiges Geld in die Mitgift seiner Tochter zu investieren. Daran hatte Ravenscroft sich vor Kurzem erinnert. Denn eine bedeutende Mitgift, in Verbindung mit einer Ehefrau, die bereits einen Platz in der besten Gesellschaft Londons hatte, würde Ravenscroft genau dorthin bringen, wo er hinwollte.

Fast konnte er schon den Stapel Einladungskarten vor sich sehen, den er jeden Morgen auf seinem Frühstückstablett vorfinden würde - während Venetia ihn über den Tisch hinweg liebevoll anstrahlte, bevor sie gemeinsam planten, an welchen Vergnügungen der besseren Gesellschaft sie teilnehmen wollten.

Und es war die wahre Liebe, dachte Ravenscroft, während er seine Liebste ansah, die ihm in der Kutsche gegenübersaß. Sie war vom Hals bis zu den Zehen in einen pelzgefütterten Umhang gewickelt, eine gefütterte Haube bedeckte ihre Locken, und eine dicke Decke wärmte ihre Beine.

Aber nicht einmal Ravenscroft, der bis über beide Ohren in sie verliebt war (neben der Tatsache, dass er ihr Vermögen brauchte), konnte sich einreden, in ihren grauen Augen etwas anderes als Irritation zu sehen, wenn sie ihn anschaute.

„Ravenscroft, wann halten wir endlich an? Sie müssen nur einfach dem Kutscher sagen, er soll langsamer fahren und nach einem Gasthof Ausschau halten.“

„Wir machen bald eine Pause. Ich verspreche es.“

„Das haben Sie vor dreißig Minuten schon gesagt.“ Ravenscroft hatte bereits den Mund geöffnet, um ihr zu antworten, als das Glitzern ihrer Brosche ihm ins Auge stach. Hinterhältig blitzte ihn das Schmuckstück vom Kragen ihres Umhangs her an. Er rieb nachdenklich seine Hände und erwiderte: „Ich würde dem Kutscher befehlen, langsamer zu fahren, aber ich fürchte, wir werden nach einer Pause in diesem Schneetreiben nicht mehr weiterkommen.“

Misstrauisch sah sie ihn an. Er hatte sich vorgestellt, sie würden diese Reise damit verbringen, gemeinsam zu lachen, miteinander zu plaudern und sich gegenseitig Geschichten aus ihrer Jugend zu erzählen. Nicht einen Gedanken hatte er daran verschwendet, dass sie so argwöhnisch sein könnte.

Die Kutsche fuhr über eine tiefe Furche, und Ravenscroft musste sich an seinem Sitz festklammern, um nicht quer durch die Kutsche in Venetias Schoß zu fallen.

„Wir fahren zu schnell“, erklärte sie ihm mit einem strengen Blick. „Wenn Sie nicht endlich etwas dagegen unternehmen, werde ich es tun.“

„Aber wir sollten versuchen, so weit wie möglich zu kommen, bevor der Schnee zu tief wird. Es würde Ihnen nicht gefallen, in einem Gasthof übernachten zu müssen. Was ist, wenn sich der Zustand Ihrer Mutter über Nacht verschlechtert und sie stirbt? Ich könnte wetten, dann werden Sie wünschen, wir wären so schnell wie möglich gefahren und hätten keine Rast gemacht.“

„Es ist das dritte Mal, dass Sie andeuten, meine Mutter könnte todkrank sein.“

Verdammt, warum hatte er ihr nicht von vornherein gesagt, dass ihre Mutter im Sterben lag, anstatt nur zu behaupten, sie sei krank? Dann wäre Venetia jetzt viel gefügiger - andererseits aber wahrscheinlich nicht in der Stimmung, einen Heiratsantrag anzunehmen. „Ihre Mutter ist eine sehr zarte Person, natürlich mache ich mir Sorgen um sie.“

„Zart? Meine Mutter?“ Sie starrte ihn verblüfft an. Ravenscroft war sich nicht sicher, aber für ihn hatte es sich angehört, als hätte seine Liebste ihre Bemerkung mit einem verächtlichen Schnauben beendet.

„Mutter ist so zäh wie Rindsleder. Außerdem geht es im Moment gar nicht darum. Klopfen Sie und befehlen Sie dem Kutscher, langsamer zu fahren.“

Ravenscroft betrachtete sie verdrießlich.

Sie tastete nach ihrer Brosche.

„Na gut“, stieß er hastig hervor. „Ich muss aber betonen, dass Sie meiner Meinung nach ein wenig zu heftig reagieren.“

Er klopfte von innen an das Kutschendach, um den Kutscher darauf aufmerksam zu machen, dass er einen Wunsch hatte. Dann lehnte er sich aus dem Fenster und redete mit dem Mann auf dem Bock, wobei der Wind seine Worte fortwehte.

Venetia schauderte, als die kalte Luft in den Wagen drang. Sie konnte sich nur an einen einzigen April in ihrem ganzen Leben erinnern, in dem geschneit hatte, und der Grund dafür war Gregor gewesen.

Erneut runzelte Venetia die Stirn und fragte sich, ob Gregor auch dieses Mal das Unwetter ausgelöst hatte. Es war möglich, allerdings nur, wenn er die Beherrschung verloren hatte - ein recht seltenes Ereignis. Gregor war derjenige von den MacLeans, der seine Stimmungen am besten kontrollieren konnte.

Sicher war es ein Zufall, dass es ausgerechnet heute stürmte und schneite. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Ravenscroft zu, der eine Auseinandersetzung mit dem Kutscher zu haben schien. Schließlich zog sich der junge Lord wieder ins Innere der Kutsche zurück und schloss die Haken und Ösen der Ledervorhänge. Sein Gesicht war vom eisigen Wind gerötet.

„Ich habe getan, was Sie verlangt haben.“

Von draußen war ein lautes „Hü!“ zu hören, dann raste die Kutsche noch schneller als zuvor dahin und schwankte dabei wild hin und her.

„Sie haben dem Kutscher beileibe nicht befohlen, langsamer zu fahren! Sie haben ihm gesagt, er soll die Pferde noch mehr antreiben“, beschuldigte Venetia ihren Reisebegleiter.

Ravenscroft war so sehr damit beschäftigt, sich auf seinem Sitz zu halten, dass er ihr nicht antworten konnte.

Nachdem sie einen lauten, verärgerten Ton ausgestoßen hatte, richtete Venetia sich auf und klopfte energisch an das Dach der Kutsche.

Von draußen war als Antwort ebenfalls ein Klopfen zu hören, und gleich darauf bremste der Kutscher den Wagen ab, wobei die hinteren Räder mehrmals vor- und zurückrutschten, bevor sie Halt fanden und ruhig dahinrollten.

„Venetia! Was tun Sie?“, rief Ravenscroft.

„Ich sorge dafür, dass wir Großmutters Haus lebendig erreichen.“

„Aber wir müssen schneller fahren. Wir können nicht in dieser Geschwindigkeit dahinschleichen!“ Er schlug mit der Faust gegen das Kutschendach.

Als Antwort kam ein fragendes Klopfen, ohne dass sich das Tempo wesentlich erhöhte. Venetia atmete auf. „Sehen Sie? Der Kutscher hält es für keine gute Idee, schneller zu fahren. Wir sollten dieses Tempo beibehalten und ... “

Ravenscroft donnerte noch einmal gegen das Dach, wesentlich lauter und heftiger als beim letzten Mal. Sofort wurde die Kutsche schneller, wodurch sie beide auf ihren Sitz zurückgeworfen wurden. Sie nahmen eine Kurve, und der hintere Teil des Wagens schlingerte wild hin und her, bevor er wieder geradeaus fuhr.

Venetia stemmte ihren Fuß gegen den gegenüberliegenden Sitz, während sie versuchte, sich aufrecht zu halten. „Sie sind verrückt! Was um alles in der Welt ist los mit Ihnen?“

Ravenscroft sank auf seinem Platz so kläglich in sich zusammen, dass sein Kinn auf seiner Brust lag, während er sich an den Ledergriff über der Tür klammerte. Trotz der Kälte standen ihm Schweißperlen auf der blassen Stirn.

Venetia dachte nicht im Traum daran, Mitleid mit ihm zu haben. Vielleicht konnte sie fliehen, indem sie sich bei passender Gelegenheit aus der Tür fallen ließ. Sie zerrte den Ledervorhang beiseite und sah draußen nichts als blendend weißen Schnee, den der Wind vor sich her peitschte. Nur unter Schwierigkeiten erkannte sie die Umrisse einiger Bäume und Zäune, einen kleinen Gasthof und eine lange Steinmauer, bevor sie den Vorhang wieder schloss. Sie würde sich das Genick brechen, wenn sie tatsächlich versuchte, aus der Kutsche zu springen.

Ihr blieb also nichts anderes übrig, als sich mit Ravenscroft und seinem immer seltsamer werdenden Benehmen auseinanderzusetzen. „Ich bitte Sie, Ravenscroft. Lassen Sie uns nur für einen Augenblick anhalten, damit wir Tee trinken und diese Angelegenheit wie zwei Erwachsene besprechen können, die Die Kutsche schleuderte zur Seite, schwankte einen Moment lang heftig und kippte schließlich um, wobei die ganze Welt unter ihnen wegzurutschen schien. Venetia knallte gegen Ravenscroft, der seinerseits gegen die Tür der Kutsche krachte. Es war ein Gefühl, als würden sie beide als ein Durcheinander aus Armen und Beinen auf der verriegelten Tür hängen, bis mit einem lauten Krachen irgendetwas zerbrach - und dann gab es nichts mehr als blendendes Weiß und eisigen Wind.

Gregor drückte dem Gastwirt eine Münze in die ziemlich schmutzige Hand. „Wann haben Sie sie gesehen?“

Beim Anblick der Goldmünze zwischen seinen dicken Fingern schien das Herz des Wirtes ein wenig schneller zu schlagen. Plötzlich empfand er es offenbar nicht mehr als allzu große Zumutung, im Schnee zu stehen und mit dem Fremden zu reden. ,,Is’ ’ne Stunde her, länger nich’.“

Gregor lächelte grimmig. Er holte auf.

Der Gastwirt schüttelte den Kopf. „Die Kutsche donnerte hier vorbei, als wär der Teufel mit allen Höllenhunden hinter ihr her. Und das in diesem Schnee! Wir ham alle hinterhergeguckt, als der Wagen hier in diesem Tempo vorbeigeschlittert is’.“

„Die Kutsche hat nicht gehalten?“

„Nich’ hier. Aber wenn ich wetten tät, würd ich sagen, sie ham beim White Swan in Tottingham gehalten. Beim Swan ham sie doppelt so viel Platz, um Pferde zum Wechseln unterzustellen, wie ich ihn hab.“

Gregor schwang sich wieder auf den Rücken seines Pferdes. „Danke, guter Mann.“

Der Gastwirt nickte und sah zu, wie Gregor sein Pferd wendete und in einem Tempo die Straße hinunterritt, das wesentlich schneller war, als es bei diesem Wetter vernünftig erschien. Die finstere Miene, mit der der Reiter nach der Kutsche gefragt, hatte nichts Gutes für die Reisenden in dem Wagen verheißen, und für einen Moment taten die Leute dem Wirt leid. Doch das Gewicht der Münze in seiner Tasche brachte ihn rasch wieder auf andere Gedanken, und er ging mit einem breiten Grinsen im Gesicht zurück in seinen Gasthof und rief nach seiner Frau, um ihr das neu erworbene Vermögen zu zeigen.

Venetia lag auf dem Rücken und starrte hinauf in den wirbelnden Schnee, während ihr die eisigen Flocken kribbelnd auf Stirn und Wangen schmolzen. Sie fror eindeutig gerade ein, was vor allem daran lag, dass ihr bei ihrem Sturz auf den Boden ein Haufen Schnee hinten in die Kleidung gerutscht war. Vorsichtig bewegte sie ihre Arme und Beine und war erleichtert, als sie außer dem dumpfen Druck in ihrem Kopf und ein leichtes Ziehen im Rücken keine Schmerzen spürte.

„Miss Oglivie?“

Als Venetia sich umdrehte, sah sie in einiger Entfernung Ravenscroft stehen, der gerade damit beschäftigt war, Schnee aus einem seiner Ohren zu wischen. Hinter ihm lag die Kutsche auf der Seite. Sie war halb in den Straßengraben gerutscht, und eines der Räder war in tausend Stücke zerbrochen. Die Tür, gegen die Ravenscroft und sie gefallen waren, war aus der Verankerung gerissen und nirgends zu sehen, in der klaffenden Türöffnung häufte sich schmutziger Schnee.

„Miss Oglivie ... Venetia ... sind Sie verletzt? Haben Sie sich ... “ Ravenscroft keuchte vor Anstrengung, während er sich durch eine Schneewehe zu ihr vorkämpfte.

Mit seiner Hilfe stellte sich Venetia mühsam wieder auf die Füße. „Mir geht es gut, aber was ist mit den Pferden? Ist mit ihnen alles in Ordnung?“

Ravenscroft wandte ihr sein bekümmertes Gesicht zu. „Es geht ihnen so gut, wie es unter diesen Umständen möglich ist.“ „Genau“, sagte der Kutscher, während er auf sie zu humpelte. „Es ging ihnen bestens, bevor dieser Herr hier mir befohlen hat, sie anzutreiben.“

Venetia konnte ihren Unwillen nicht länger unterdrücken. „Das sehe ich auch so. Dafür, dass er in dieser lächerlichen Eile ist, sollte er erschossen werden. Sehen Sie sich an, was Sie mit Ihrer Ungeduld erreicht haben, Ravenscroft!“ Als sie ihren Begleiter ansah, bemerkte sie eine dünne Blutspur von seiner Stirn bis hinunter zu seinem Nacken, wo sie unter seinem Halstuch verschwand. „Sie bluten.“

Ravenscroft betastete mit der Hand seine Stirn, zog sie wieder fort und starrte auf die roten Tropfen an seinen Fingern. Entsetzt schnappte er nach Luft, rollte mit den Augen und fiel dann wie ein gefällter Baum mit dem Gesicht zuerst in den Schnee.

Voller Abscheu sah Venetia auf ihn hinab. „Na wunderbar! Nun haben wir also eine unbrauchbare Kutsche und einen unbrauchbaren Ravenscroft.“ Sie wandte sich an den Kutscher. „Wir sollten ihn zumindest umdrehen, damit er atmen kann.“ „Wenn Sie wünschen, Miss“, brummte der Kutscher und half ihr, Ravenscroft auf den Rücken zu rollen.

Selbst während der kurzen Zeit, seit sie neben der Kutsche stand, war der Schneefall noch dichter geworden. „Spannen Sie bitte eines der Pferde aus“, befahl sie dem Kutscher. „Ich werde zurück zu dem Gasthof reiten, an dem wir vor einer knappen Meile vorbeigekommen sind.“

Der Bedienstete starrte sie dümmlich an. „Aber Sie sind eine Frau. Und wir haben nicht mal einen anständigen Sattel.“

„Ich bin durchaus in der Lage, ein Kutschpferd zu reiten. Mit und ohne Sattel“, erklärte Venetia energisch, während sie sich den Kragen ihres Umhangs fester um den Hals zog. „Na los, wir müssen uns beeilen.“

„Sehr wohl, Miss. Wenn Sie es wünschen.“ Er machte Anstalten, sich den Pferden zuzuwenden, hielt dann aber inne, um Ravenscroft zu betrachten. „Glauben Sie, Seine Lordschaft ist tot?“

„Himmel, natürlich nicht! Er ist nur ein Ein alberner Junge. Ein Dummkopf. Ein Idiot. Es gab gar kein Wort dafür. „Er kommt wieder in Ordnung. Bleiben Sie bei ihm, bis ich zurückkomme.“

Der entschlossene Ton in Venetias Stimme ließ den Kutscher verstummen und gehorchen, und wenig später war sie auf dem Weg, Hilfe zu holen.

„Ja, wir haben sie geseh’n.“ Der Mann wippte auf seinen Absätzen und sah Gregor durch die fallenden Flocken an. „Sind hier vor ungefähr zwanzig Minuten vorbeigerast.“

Gregor fischte eine Münze aus seiner Tasche. „Sie haben nicht angehalten, um die Pferde zu wechseln?“

„Nein, obwohl sie das hätten tun soll’n. Die Tiere wirkten ziemlich müde. “ Der Stallbursche reichte Gregor die Zügel einer großen braunen Stute.

Voller Tatendrang schwang sich Gregor auf das frische Pferd. „Kümmern Sie sich gut um mein Pferd. Ich werde es morgen oder übermorgen wieder abholen.“

„Das tue ich, mein Herr. Ist doch selbstverständlich.“

„Vielen Dank. Diese Braune sieht aus, als wäre sie ein gutes Pferd.“

„Sie ist ’ne Seele von Tier und stark wie ein Ochse. Nicht besonders schnell, aber sie wird Sie sicher durch dieses Wetter tragen.“

„Sehr gut.“ Gregor warf dem Stallburschen die Münze zu, und die Augen des Mannes weiteten sich, als er erkannte, dass er Gold in der Hand hielt.

„Vielen, vielen Dank, Mylord!“ Aber er sprach nur noch zu den fallenden Flocken: Gregor preschte bereits davon, den Kopf gegen Wind und Schnee gebeugt, die Zähne zusammengebissen.

Der Stallbursche versetzte Gregors erschöpftem Pferd einen aufmunternden Klaps, bevor er es in Richtung Stall führte. „Ich weiß nicht, hinter wem er her ist, aber ich bin froh, dass ich es nicht bin.“

Der Wind zerrte an Venetias Umhang und ihren Röcken und durchdrang eisig ihre Handschuhe. Inzwischen fielen die Flocken so dicht, dass sie kaum noch die Straße vor sich erkennen konnte. Als das Kutschpferd, auf dem sie ritt, schnaubend seinen Kopf in den Nacken warf und die Mähne schüttelte, wurde Venetia von einer so großen Menge Schnee getroffen, dass sie einen Teil davon in den Mund bekam und ihn keuchend wieder ausspucken musste, während sie sich das Gesicht mit dem nassen Handschuh abwischte. Falls Gregor tatsächlich dieses Wetter verursacht hatte, musste es dafür einen sehr ernsten Grund geben. Er war ihr engster und liebster Freund. Wenn er in Schwierigkeiten war, gehörte sie an seine Seite, um ihm zu helfen und ihn zu unterstützen. Das war, zusätzlich zu ihrer Sorge um ihre Mutter, ein weiterer Grund, so rasch wie möglich aus diesem Schlamassel herauszufinden.

Ganz sicher hatte Papa stark übertrieben, was den Ernst von Mamas Lage anbelangte. Papa gelang es sogar, das Leben an sich als etwas darzustellen, das ausschließlich aus Verzweiflung und Nöten bestand.

Schon oft hatte Venetia sich gewünscht, ihre Familie wäre nicht ganz so melodramatisch. Zum Glück lachte Gregor regelmäßig über die Auftritte ihrer Eltern, was ihr half, mit beiden Beinen auf dem Boden zu bleiben und die Lage realistisch zu sehen.

Sie lächelte vor sich hin, tätschelte den Pferdehals, über den sie gebeugt saß und sagte in das dunkle Ohr vor sich: „Gregor hat einen scharfen Verstand. Leider verletzt er Menschen damit ebenso oft, wie er ihnen hilft.“ Nicht dass ihr das jemals etwas ausgemacht hätte, denn sie konnte sich gegen ihn behaupten. Davon abgesehen, genoss sie Gregors Gesellschaft. Er war ein draufgängerischer Reiter, der es an Schnelligkeit und Mut mit ihr aufnehmen konnte, hatte einen ausgeprägten Sinn für Humor, der meistens mit ihrem eigenen übereinstimmte, und verfügte über einen wachen Geist, dem so leicht nichts entging. Am wichtigsten aber war, dass er niemanden zwang, leerem Geschwätz zuzuhören. Wenn er etwas zu sagen hatte, sagte er es. Wenn nicht, war er ab und an vollkommen zufrieden mit einem entspannten Schweigen.

Sie empfand es nicht gerade als störend, dass er erstaunlich, unglaublich, geradezu schmerzhaft gut aussah, trotz der auffälligen Narbe, die quer über seine Wange bis zu seinem Kinn verlief. Eine von Venetias Freundinnen hatte ihr vor einiger Zeit gestanden, sie habe einen Traum gehabt, in dem sie mit den Fingerspitzen an dieser Narbe entlanggestrichen war, während sie Gregor geküsst hatte. Was für ein dummer Traum, stellte Venetia bei sich fest, während gleichzeitig eine seltsame Wärme ihren Körper durchflutete.

Endlich erkannte sie durch den dicht fallenden Schnee vage die Umrisse eines Gebäudes. Erleichtert trieb Venetia das Pferd an, und schon bald trabten sie zwischen den steinernen Pfosten in den Hof. Mit seinen beschlagenen Fenstern, an denen innen weiße Seidenvorhänge befestigt waren, und dem dichten Rauch, der aus allen Schornsteinen aufstieg, wirkte der zweistöckige Gasthof äußerst behaglich.

Als sie sah, dass der Reitknecht, die Augen vor Staunen weit aufgerissen, bereits vom Stall her auf sie zueilte, schwang sich Venetia vom Pferd. Innerhalb kürzester Zeit stand sie auch schon im großen Gastraum neben einem warmen Feuer, hielt eine Tasse heißen Tee in ihren eisigen Händen und erzählte den Eigentümern des Gasthauses, Mr. und Mrs.Treadwell, ihre Geschichte.

Erleichtert vernahm Venetia, dass es noch zwei freie Zimmer gab; das dritte Gastzimmer bewohnten eine Witwe und ihre Begleiterin. Kaum hatte Venetia die umgestürzte Kutsche erwähnt, da machte Mr.Treadwell, ein kleiner, untersetzter Mann mit fröhlich funkelnden Augen, sich auf den Weg, die übrigen Insassen und das Gefährt zu retten, ohne sich damit aufzuhalten, nach weiteren Einzelheiten zu fragen.

Mrs. Treadwell, eine große, hagere Frau mit widerspenstigem grauen Haar, das sie zu einem unordentlichen Dutt hochgesteckt trug, ließ sich sofort ausführlich darüber aus, wie reizend es war, so viele Gäste unter ihrem bescheidenen Dach beherbergen zu dürfen. Sie beäugte Venetia von oben nach unten und schien dabei den Wert des Umhangs aus Hermelin und den Preis der weichen Rehlederhandschuhe zusammenzuzählen. „Sie müssen direkt aus London kommen, so fein, wie Sie gekleidet sind.“

„Ja, das sind wir. Wir haben ...“

„Wir?“

„Ja, ich und ...“Venetia runzelte die Stirn, weil ihr plötzlich auffiel, wie merkwürdig es erscheinen musste, dass sie allein mit einem einzelnen Mann reiste. „Mein ... äh ... Bruder und ich sind unterwegs zum Haus meiner ... unserer Großmutter.“ Mrs. Treadwell machte ein erleichtertes Gesicht. „Ich bin froh, das zu hören. Mr. Treadwell und ich möchten natürlich niemanden abweisen, schon gar nicht während eines Unwetters wie diesem, aber wir würden trotzdem keinem dieser durchgebrannten Paare, von denen so viele auf dieser Straße unterwegs sind, Unterschlupf gewähren.“

„Wieso kommen hier besonders viele durchgebrannte Paare vorbei?“, erkundigte sich Venetia erstaunt.

„Wegen des Gesetzes, mein Kind! Sie haben doch bestimmt schon von Gretna Green gehört. All die Paare, die dorthin wollen, reisen auf der North Road! “

„Natürlich habe ich von Gretna Green gehört, aber das hier ist nicht Venetias Blick fiel durchs Fenster hinaus auf die schneebedeckte Straße. Sie hatten London auf der richtigen Straße verlassen. Aber als es immer kälter geworden und sie von Ravenscrofts seltsamem Benehmen abgelenkt gewesen war, hatte sie nicht mehr aufmerksam und lange genug aus dem Fenster gesehen, um zu bemerken, dass die vertraute Landschaft rechts und links der Straße zum Haus ihrer Großmutter nicht zu sehen gewesen war. Es war also tatsächlich möglich, dass sie in die North Road abgebogen waren. Aber warum?

Und dann begriff Venetia, und plötzlich ergaben all die seltsamen Vorkommnisse einen Sinn. Sie waren überhaupt nicht auf dem Weg zu ihrer Großmutter! Stattdessen befanden sie sich auf der North Road, unterwegs nach Gretna Green. Sie war entführt worden - und zwar von Ravenscroft, unter allen Männern ausgerechnet von ihm!

Venetias Knie wurden schwach. Zum Glück stand direkt hinter ihr eine Bank, auf die sie sich mit einem Ruck setzte, als ihre Beine unter ihr nachgaben.

Mrs. Treadwell zog die Augenbrauen hoch. „Geht’s Ihnen gut, Miss?“

Zwar öffnete Venetia den Mund zu einer Antwort, doch es gelang ihr nicht, ein paar sinnvolle Worte zu formen. Ihr Herzschlag klang wie Trommelwirbel in ihren Ohren, ihr Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen, und ihr wurde übel.

„Sie sehn so blass aus. Geht’s Ihnen auch wirklich gut?“, erkundigte sich die Wirtin mit halb besorgter, halb misstrauischer Miene.

Venetia zwang sich zum Sprechen. „Ich weiß nicht recht, mir ist plötzlich ein wenig schwindelig.“

Die Frau des Gastwirts schnalzte mitfühlend mit der Zunge. „Sie sehn aus wie ein Geist, Miss ...“ Sie stockte und schaute Venetia mit ihren hellen Augen an. „Entschuldigen Sie. Ich habe Ihren Namen nicht verstanden?“

Während die Wut durch ihre Adern raste, zwang sich Venetia zu einem dünnen Lächeln. „Tut mir leid, ich hätte mich vorstellen sollen. Ich bin Miss ..." Ein Name. Ich brauche einen Namen. „West“, fuhr sie hastig fort. „Mir ist immer noch eiskalt. Könnte ich noch etwas Tee haben?“

„Natürlich! Ich werde laufen und frisches Wasser aufsetzen. Ich glaube ganz sicher, wenn Ihr Bruder kommt, wird er auch eine Tasse haben wollen.“

Venetia hatte keinen anderen Gedanken, als Ravenscrofts ziemlich große Ohren abzuschneiden, aber sie murmelte zustimmend, als ihre Gastgeberin das Zimmer verließ. In selben Moment, in dem die Frau die Tür hinter sich schloss, sprang Venetia auf und begann wütend hin und her zu laufen. Verdammt noch mal, was dachte Ravenscroft sich eigentlich? Sie verspürte nicht den geringsten Wunsch zu heiraten, und er konnte doch nicht wirklich Vorhaben, sie zu zwingen. Dazu gab es überall zu viele Leute, die herbeieilen würden, um einer laut um Hilfe rufenden Frau beizustehen - und laut schreien würde sie, soviel stand fest.

Nicht einmal Ravenscroft konnte so dumm sein. Sie lief auf und ab und wurde von Minute zu Minute wütender. Als sie vom Hof her Stimmen und Geräusche hörte, eilte sie ans Fenster und sah, wie ein wackeliger Karren vor das Haus fuhr. Mr. Treadwell, so dick eingemummelt, dass er doppelt so breit wie vorher war, thronte auf dem Vordersitz, neben sich den schwankenden, in sich zusammengesunkenen Ravenscroft. Der Stallknecht des Wirtes saß hinten zwischen dem Gepäck und hielt die Zügel eines hinkenden Kutschpferdes.

Als sie Ravenscroft sah, ballte Venetia die Hände zu Fäusten. Sie eilte los, um die Vordertür zu öffnen, stellte aber fest, dass Mrs. Treadwell schon vor ihr durch den Flur lief.

Die Wirtin riss die Tür in dem Moment auf, in dem Mr. Treadwell gerade Ravenscroft vom Karren half. Ravenscrofts Beine gaben unter ihm nach, als er von seinem Sitz stieg, aber glücklicherweise war Mr. Treadwell da, um ihn zu stützen. Wäre Venetia an seiner Stelle gewesen, hätte sie sich diese Mühe nicht gemacht.

„Bring den jungen Mann her!“, befahl Mrs. Treadwell. Gehorsam zog ihr Mann Ravenscroft auf die Füße, um ihn dann halb ins Haus zu schieben und halb zu tragen.

Sobald sie beide drinnen waren, beeilte sich Mrs. Treadwell, die Tür zu schließen, um die eisige Luft auszusperren. „Himmel, der Knabe sieht halb erfroren aus.“ Sie zog einen Stuhl dicht ans Feuer. „Und sieh dir seinen Kopf an! Was für eine scheußliche Wunde. “

Ravenscroft erbleichte, doch seine Zähne klapperten zu sehr, als dass er hätte antworten können.

„Erwähnen Sie um Gottes willen seine Wunde nicht“, flüsterte Venetia der Wirtin zu. „Er ist schon einmal in Ohnmacht gefallen, weil ich etwas darüber gesagt habe.“

„Oh!“, flüsterte Mrs. Treadwell zurück. „Er ist doch nicht etwa einer von dieser Sorte?“

„Es ist eine seiner Schwächen, das lässt sich nicht abstreiten. “ Mrs. Treadwell kräuselte die Lippen, sagte aber nichts weiter, sondern nickte nur.

Inzwischen hatte sich Ravenscroft im Stuhl vor dem Feuer zusammengekauert, während seine Zähne immer noch aufeinanderschlugen. „Mir ... ist ... k...k... kalt!“

„Ja“, stimmte Mr. Treadwell ihm seelenruhig zu. „Ich glaube nicht, dass ich im April mein Lebtag lang eine solche Kälte erlebt habe.“

Mühsam unterdrückte Venetia die Vorstellung, wie ihre Finger sich um Ravenscrofts dünnen Hals legten. „Die Pferde ... Wie geht es ihnen?“

„Eine verstauchte Fessel, das ist alles. Mein Stallbursche kümmert sich gerade darum. Ihr Kutscher bringt die andern beiden Pferde“, erklärte Mr. Treadwell.

Ravenscroft erschauderte. „Was f...f... für eine schreckliche Erfahrung.“

„Ja“, stimmte ihm Venetia knapp zu. „Für uns alle.“ Sie wandte sich an den Wirt. „Ich kenne einen sehr wirkungsvollen Wickel für verstauchte Fesseln bei Pferden. Haben Sie Kleie, Gerste und etwas Hafer?“

Der Gastwirt strahlte. „Sicher! Und Honig haben wir auch. Falls Sie den Wickel meinen, an den ich denke.“

Es gelang ihr, sein Lächeln zu erwidern. „Ja. Ich werde alles zusammenmischen und ... “

„Das kommt nicht infrage“, erwiderte Mr. Treadwell energisch. „Ich werde mich um die Pferde kümmern. Sie bleiben hier bei dem jungen Mann ... “

„Er ist ihr Bruder“, warf Mrs.Treadwell ein.

„Nun, es freut mich, dass Sie beide hier logieren, Miss ...“ „West“, sagte Venetia und warf Ravenscroft einen drohenden Blick zu.

Ravenscroft blinzelte verwirrt. „Aber ...“

„Oh, mein Lieber! Du bist ganz durcheinander, nicht wahr?“, fiel ihm Venetia ins Wort. „Das wundert mich gar nicht, nachdem wir aus der Kutsche auf den harten Boden geschleudert wurden. Haben Sie irgendetwas für seinen Kopf, Mrs. Treadwell?“

Mrs: Treadwell schnalzte mit der Zunge. „Armes Ding. Der Tee ist inzwischen sicher fertig. Ich werde ihm außerdem einen schönen Umschlag mit Kamille für den Kopf machen, das wird ihm helfen, wieder klare Gedanken zu fassen.“ Sie lächelte Ravenscroft freundlich an, nahm dann Venetias Arm und zog sie beiseite, um ihr mit gesenkter Stimme zuzuflüstern; „Ich gebe ein wenig Laudanum in den Tee Ihres Bruders. Wenn er dann entspannter ist, werden wir seinen Kopf einwickeln und sehen, dass er es recht bequem hat.“

Venetia nickte, obwohl ihrer Ansicht nach das einzige Problem mit Ravenscrofts Kopf darin bestand, dass er hohl war.

Während Mrs. Treadwell aus dem Zimmer eilte, zog ihr Mann seinen Schal enger um den Hals. „Ich gehe jetzt nach den Pferden sehen. Ihr Kutscher wird bald mit den anderen beiden hier sein.“ Er hielt inne und betrachte Ravenscroft. „Denken Sie, Sie können sich allein um Ihren Bruder kümmern?“ Ravenscroft schlug die Augen auf und warf Venetia einen wirren Blick zu. „B...B...Bru...“

Venetia griff nach seinem Arm und bohrte die Fingernägel hinein, so fest sie konnte.

„Au!“

Sie verzog die Lippen zu einem Lächeln, weil sie sich des prüfenden Blicks des Gastwirts nur allzu bewusst war. „Ruhig, nur ruhig! Ich bin sicher, dir tut alles weh, aber es hat keinen Sinn, sich zu beklagen.“

„Beklagen? Aber ..."

Dieses Mal drückte Venetia noch heftiger zu.

„Autsch!“

„Sein armer Kopf!“ Sie stellte sich vor Ravenscroft, achtete aber darauf, dass ihre Finger immer noch fest um seinen Arm lagen, die Nägel bereit, sich erneut in sein Fleisch zu bohren. „Ich wünschte, ich könnte mich um die Pferde kümmern, anstatt um meinen Bruder, Mr. Treadwell. Ich bin mir sicher, sie würden nicht halb so viel jammern.“

Der Wirt lachte in sich hinein. „Rufen Sie meine Frau, wenn Sie irgendetwas brauchen.“ Mit einem Nicken verließ er den Raum und stapfte in seinen schweren Stiefeln durch die Eingangshalle.

In dem Moment, in dem sich die Tür hinter dem Gastwirt geschlossen hatte, sah Ravenscroft sie finster an. „Sie haben ihnen gesagt, wir seien Bruder und Schwester.“

Venetia ließ seinen Arm los. „Ja. Im Gegensatz zu Ihnen liegt mir nämlich nichts daran, in einen Skandal verwickelt zu werden.“

„Dank Ihnen bekomme ich jetzt blaue Flecke.“ Anklagend rieb Ravenscroft seinen Arm.

„Sie haben Glück, dass das alles ist, was ich Ihnen antue, Ravenscroft. Ich weiß inzwischen, was Sie getan haben. Dieser Gasthof liegt an der North Road, und wir waren nicht auf dem Weg zum Haus meiner Großmutter.“

Ravenscrofts Schultern sackten nach vorn. „Oh.“

„Oh? Mehr haben Sie dazu nicht zu sagen?“ Sie stemmte die Hände in die Hüften und starrte ihn wütend an. „Mein Vater weiß nichts von dieser Sache, nicht wahr?“

„Ja. Nein. Ich meine, ich habe ihm gegenüber angedeutet...“ „Sie haben also den Brief geschrieben? Und mit seinem Namen unterzeichnet?“

„Ja. Aber Sie haben ihm eine Nachricht hinterlassen, ihn von unserer Abreise unterrichtet und ihm mitgeteilt, dass Sie mit mir unterwegs sind, sodass er völlig beruhigt ist, falls Sie sich darüber Sorgen machen.“

„Er wird überhaupt nicht beruhigt sein, wenn ich nicht bei Mama erscheine!“

„Das wird er nicht so schnell erfahren.“

„Doch, das wird er. Meine Mutter und mein Vater schreiben sich jeden Tag. Sie schicken einen der Diener hin und her, um die Briefe zu überbringen. Bis morgen wird mein Vater wissen, dass ich nicht angekommen bin.“

Ravenscroft schüttelte seinen Kopf, dann stöhnte er auf und griff sich an die Stirn. „Oh! Es tut so weh!“

Venetia rührte sich nicht.

Er schielte zwischen seinen Fingern hindurch, seufzte und ließ schließlich seine Hände wieder sinken. „Ich tue Ihnen kein bisschen leid, nicht wahr?“

„Nein“, erwiderte sie barsch, obwohl er mit seinen in die Stirn fallenden Haaren, die Nase und die Wangen von der Kälte gerötet und der Mund gespitzt, unglaublich jungenhaft aussah.

Er seufzte. „Erlauben Sie mir bitte, die Sache zu erklären. Ich habe gute Gründe für mein Verhalten. Sie können nicht wissen ... Sie können nicht verstehen wie sehr ich ... oh, zur Hölle! “ Mit diesem Ausruf ließ er sich vor seinem Stuhl auf die Knie fallen, griff nach ihrer Hand und küsste sie. „Miss Oglivie ... Venetia ... ich liebe Sie! “

Mit glühenden Wangen entriss Venetia ihm ihre Hand und brachte sich durch einen großen Schritt nach hinten in Sicherheit. „Tun Sie das nicht!“

Mit ausgestreckten Armen blieb Ravenscroft auf den Knien hocken. „Aber ich muss es tun, denn ich liebe Sie. Ich bin sogar mit Ihnen durchgebrannt.“

„Hätte ich gewusst, dass Sie mit mir durchbrennen, wären Sie jetzt allein hier.“

„Aber Sie waren immer so freundlich zu mir!“

„Ich bin freundlich zu jedem Menschen. Ich sage es jetzt so deutlich, wie ich nur kann, Ravenscroft. Ich liebe Sie nicht, und ich werde Sie niemals heiraten. Nicht jetzt. Nicht irgendwann später. Niemals.“

Ravenscroft ließ seine Arme an den Seiten seines Körpers herabfallen. „Sie müssen mich heiraten. Sie sind hier mit mir. Allein. In einem Gasthof. Ihr Ruf ist für alle Zeiten dahin.“ „Ich wüsste nicht, warum ...“ Ihre Stimme erstarb, als die Erkenntnis wie ein Eisblock in ihren Magen sank. Wenn das hier in London bekannt wurde, war sie tatsächlich ruiniert. Verdammt noch mal, das war unfair! Sie liebte die Londoner Gesellschaft und die Vergnügungen, die sie ihr bot. Nun würde sie vielleicht niemals mehr daran teilnehmen können.

Plötzlich erschien ihr das, was sie an diesem einen Tag schon mitgemacht hatte, als zu viel, um es ertragen zu können. Sie wandte sich auf dem Absatz um, durchquerte das Zimmer und stellte sich ans Fenster, während in ihrem Kopf das reinste Chaos herrschte. Vielleicht gelang es ihr, nach London zurückzukehren, bevor irgendjemand ihre Abwesenheit bemerkte. Doch wie sollte sie das anstellen? Nur eine Verrückte würde bei diesem Wetter allein reisen.

Was für eine schreckliche Situation! Sie saß fest. Absolut und unwiderruflich fest. Wie sehr sie wünschte, Gregor wäre bei ihr! Was auch immer er sonst sein mochte, er verfügte über einen hellen Kopf und geriet niemals in Panik oder ließ sich von irgendwelchen Gefühlen überwältigen.

Einen verrückten Moment lang bildete sie sich ein, im dicht fallenden Schnee einen großen, schwarzhaarigen Mann auf einem weißen Pferd zu erkennen, den Mantel von Flocken bedeckt, die Krempe seines Hutes tief ins Gesicht gezogen, um seine grünen Augen vor dem Wind und der Kälte zu schützen.

Das Bild verschwamm vor ihren Augen; finster starrte Venetia hinaus in die wirbelnden Flocken.

„Wir müssen uns einen Plan zurechtlegen“, verkündete Ravenscroft mit lauter, gereizter Stimme.

Obwohl sie sich nicht umwandte, um ihn anzusehen, war sie sich sicher, dass er versuchte, würdevoll zu erscheinen. Mühsam unterdrückte sie einen enervierten Seufzer. Er glich viel zu sehr ihrem Vater und war ebenso wie er bis oben hin voller unnützer Gefühlsduselei, ohne einen Funken Vernunft in seinem ganzen Körper.

„Venetia“, stieß er in dramatischem Ton hervor. „Wir ..." „Miss Oglivie“, verbesserte sie ihn und stockte. „Tatsächlich sollten Sie mich aber Miss West nennen.“

„Werden das nicht alle seltsam finden, da ich doch angeblich Ihr Bruder bin?“

Sie biss sich auf die Unterlippe. Er hatte recht. Nun würde sie ihm schließlich doch diese Vertraulichkeit erlauben müssen. „Oh, verdammt, sehr gut gedacht.“

„Venetia!“, trompetete er triumphierend. „Gestatte mir, dir zu versichern, dass ich vorhabe, diese Sache richtig machen, egal was es kostet.“

Venetia schluckte einen bissigen Kommentar herunter, schloss die Augen und zählte bis zehn.

Sie war gerade bei vier, als Ravenscroft plötzlich rief: „Großer Gott!“

Etwas am Klang seiner Stimme machte ihr Hoffnung, sie öffnete die Augen, und als sie durchs Fenster sah, bot sich ihr ein höchst willkommener Anblick.

Mantel und Hut mit Schnee bedeckt, das Gesicht in strenge Falten gelegt, die ihn nur noch attraktiver erscheinen ließen, stieg dort draußen gerade Gregor MacLean von einem großen braunen Pferd.