13. Kapitel

Es war ein heißer Sommertag, als ich euren Großvater zum ersten Mal sah. Ich kam von den Feldern zurück, wo ich meinem Vater geholfen hatte. Meine Haare hatte ich mit einem Tuch zusammengebunden, mein Kleid klebte feucht vom Schweiß an mir, und an den Füßen trug ich Stiefel, in die ich zwei Mal hineingepasst hätte. An Tagen wie jenem sehnte ich mich mit jeder Faser meines Körpers nach einem besseren Leben. Euer Großvater kam von auswärts und war zum ersten Mal in der Stadt, um seine Tante zu besuchen. Er warf nur einen einzigen Blick auf mich, zerzaust und schmutzig, wie ich war, und sagte: „Das ist die Frau, die ich heiraten werde! Wo warst du mein ganzes Leben lang, meine Liebste?“ Und ohne zu zögern, antwortete ich: „Lass mich in Ruhe, du Halunke! Wenn du mit einem leeren Geldbeutel kommst, kannst du sofort wieder verschwinden, denn ich werde lieber unverheiratet bleiben, als dauernd hungrig sein ...

...so sprach die alte Heilerin Nora von Loch Lomond in einer kalten Nacht zu ihren drei jungen Enkelinnen.

Venetias Mutter pflegte voller Begeisterung zu sagen, dass sie ohnmächtig geworden war, als Mr. Oglivie sie zum ersten Mal umarmt hatte. Venetia hatte diese Erzählung dem Hang ihrer Mutter zur Dramatisierung zugeschrieben, doch als sie nun Gregors leidenschaftliche Umarmung spürte, schwanden auch ihr fast die Sinne, sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, und die Knie gaben unter ihr nach.

Ihr Entschluss, sich stets schicklich und anständig zu benehmen und ihre Unschuld keinesfalls spontan und unüberlegt zu verschenken, verblasste, wurde unwichtig und war nach ein paar Küssen völlig vergessen, so wie der Wind ein paar Rauchwölkchen fortweht.

Sie konnte nicht anders, als seine Küsse zu erwidern, während ihre Hände sich wie von selbst an seiner Kleidung zu schaffen machten, sie lockerte und beiseiteschob. Ein winziger Teil ihres Gehirns wusste zwar noch, dass sie einen hohen Preis dafür würde bezahlen müssen, wenn sie weitermachte. Aber in diesem Moment erschien ihr kein Preis zu hoch.

Bis zu diesem Tag war ihr Leben langweilig und vorhersehbar gewesen. Sie aber verdiente Leidenschaft ohne Reue. In einem Augenblick war sie noch ruhig und beherrscht gewesen, und im nächsten Moment verlor sie die Kontrolle, nur wegen einer einzigen Berührung oder auch wegen der Art, wie er sie angesehen hatte, bevor er zum Fenster gegangen war ...

Die Erinnerung an Gregors Anblick dort am Fenster durchdrang für einen Moment das Verlangen, welches Venetia durchströmte. Gregor hatte etwas in den Schnee geworfen. In der Sonne hatte es wie eine Münze aufgeblitzt. Warum hatte er Geld dort hinausgeworfen?

Seine Lippen glitten an ihrem Nacken hinab, und Venetia verlor den Faden ihrer Gedanken ebenso wie ihre Fähigkeit, sich auf den Beinen zu halten. Ihre Knie gaben nach, doch er umfing sie und hielt sie; sie fühlte jeden seiner Muskeln, und es war, als würden sich die harten Stränge in ihre Haut brennen.

Sein Mund war heiß und besitzergreifend, seine Hände hielten sie eng an seinen festen Körper gepresst. Er war Leidenschaft und Hitze, Gefahr und Verlangen, und für diesen einen Moment gehörte er ganz allein ihr.

Seine Hände umfassten ihre Schultern, und plötzlich hob er den Kopf und sah ihr in die Augen. Sein Mund - sein wundervoll geformter, köstlich weicher Mund - war geöffnet, und er stieß den Atem heftig zwischen den Lippen hervor. Seine Haut war gerötet; Venetia nahm den leichten Geruch seines Rasierwassers und einen Hauch von Rumaroma wahr.

Ihr Körper schrie nach seinen Lippen, die nicht mehr auf ihren waren. Als sie ihn ansah, erkannte sie in seinem Blick die wiederkehrende Vernunft und ein leises Bedauern. Bei der Erkenntnis, dass ihr wundervoller, verrückter, leidenschaftlicher Moment vorüber war, tat ihr das Herz weh.

In dem verzweifelten Bemühen, den Augenblick' zu verlängern, grub sie die Hände in sein Hemd und schob ihre Hüften so weit vor, dass sie sich an seinen Körper pressten.

Ein fast schmerzlicher Ausdruck zog über sein Gesicht, von seinen Lippen kam ein Seufzer. „Venetia“, keuchte er. „Tu das nicht.“

„Was soll ich nicht tun? Das hier?“ Sie strich mit ihren Lippen über seine und ließ jeden Gedanken an Würde und Zurückhaltung fallen.

Er stöhnte und zog sie noch dichter an sich heran, die Arme fest hinter ihrem Rücken verschränkt.

An ihrer Hüfte spürte sie deutlich eine harte Erhebung. Es war nicht sein Hüftknochen, denn der wäre seitlich gewesen, das hier aber war direkt in der Mitte und presste sich höchst nachdrücklich gegen ihren Magen.

Venetia hatte mehr Zeit als die durchschnittliche junge Dame mit Pferden verbracht; sie kannte sich mit den grundsätzlichen Fragen des Lebens aus und wusste, was sich da an sie drückte. Sie konnte nicht anders, als die Augen schließen und den Druck erwidern, indem sie sich sanft nach vorn und wieder zurückbewegte.

Dieses Mal kam Gregors Stöhnen tiefer aus seiner Kehle, und der Ausdruck auf seinem Gesicht lag irgendwo zwischen Qual und Verzückung, während er die Augen schloss und den Kopf in den Nacken warf.

In diesem einen Augenblick dachte er einzig und allein an sie und an keine andere Frau, das konnte sie an seinem Gesicht ablesen. Das pure, qualvolle Verlangen, welches sie in seinen Zügen sah, entzündete ein loderndes Feuer in ihr, jagte einen heißen Schmerz durch ihre Brüste, brachte ihre Schenkel zum Zittern und ließ ihr Begehren ins Unermessliche wachsen.

Wieder schob sie ihm die Hüften entgegen. Gregor fluchte unterdrückt vor sich hin, während seine Hände sich schmerzhaft um ihre Oberarme schlossen. „Führe mich nicht in Versuchung“, stieß er mit heiserer Stimme hervor.

„Warum nicht?“

Sekundenlang erwiderte er ohne zu blinzeln ihren Blick.

„Du weißt, warum du es nicht tun solltest.“ Seine Brauen zogen sich zusammen, und sein Mund war plötzlich nur noch ein schmaler Strich. „Du wirst dem hier ein Ende setzen müssen, Venetia. Ich kann es nicht.“

Er wollte, dass sie ihn fortschickte. Aber die Erkenntnis, wie sehr er sie gegen alle Vernunft wollte, ließ sie nur noch mehr wünschen, diese Momente könnten noch möglichst lange andauern. Wenn sie es jetzt beendete, würde sie nie wieder seine Umarmung und seine Lippen auf ihren spüren, das wusste sie.

Es war ein berauschendes Gefühl zu erleben, dass sie die Macht besaß, in Gregor MacLean brennende Leidenschaft zu entfachen. Er hatte seine Affären ebenso abgewickelt, wie er alles in seinem Leben anging, ruhig und kontrolliert. Nie zuvor hatte sie ihn überwältigt von Leidenschaft gesehen; er wählte seine Geliebten mit ebenso kühlem Kopf aus wie seine Pferde.

Eine Welle des Stolzes durchlief sie. Als er sie aufforderte, die Kontrolle zu übernehmen, hatte Gregor eine winzige Kleinigkeit vergessen: Sie war eine Oglivie. Ihre Familie sprühte vor Lebenslust, und sie wollte, dass Gregor sie küsste, sie berührte und ihr Verlangen stillte.

Sie ließ ihre Hände an seinem Hemd hinaufgleiten, klammerte sich in den Stoff und zog ihn näher an sich heran. „Küss mich.“

Sein Blick verdunkelte sich, seine Hände umfassten ihre Hüften fester. „Wenn ich dich jetzt küsse, werde ich nicht mehr aufhören können“, erklärte er ihr in barschem Ton.

„Ich will auch nicht, dass du aufhörst“, erwiderte sie sanft.

Die Muskeln in seinen Wangen spannten sich an, und seine Augen leuchteten wie grünes Feuer. „Dann werden wir mit den Folgen leben müssen. Verstehst du mich? Wir werden heiraten müssen.“

Heiraten? Die eiskalte Vernunft, die in diesem Wort steckte, sorgte dafür, dass ihre Leidenschaft sich von einer Sekunde auf die andere in Luft auflöste. Sie tat so hastig einen Schritt rückwärts, dass sie fast gestürzt wäre. Während sie sich von ihm abwandte, kreuzte sie die Arme vor der Brust, als wollte sie sich vor seinen Blicken schützen.

Gregor blieb mit leeren, hängenden Armen zurück; er hatte sein Ziel erreicht. Mit einem einzigen Satz hatte er das Feuer gelöscht, das silberhell in Venetias Augen gebrannt hatte.

Fast hätte er darüber lachen müssen, wenn ihre Reaktion nicht so heftig gewesen wäre.

In diesem Moment verstand er Ravenscrofts Enttäuschung darüber, dass die von ihm geplante Flucht nicht geklappt hatte. Obwohl Gregor nicht heiraten wollte, gefiel es ihm auch nicht, zurückgewiesen zu werden. Für einen Augenblick hatte er das Gefühl, etwas Kostbares verloren zu haben, an das er nun voller Sehnsucht zurückdachte.

Mehr als alles andere wollte er diese Frau an sich reißen, sie auf das Sofa werfen, ihre Röcke hochschieben und sich in ihrem weichen Körper vergraben. Sie war bereit für ihn gewesen, und noch jetzt schwirrte die Luft von ihrem gegenseitigen Begehren.

Innerlich verfluchte er den Grog, den Schneesturm und die Enge im Gasthaus, die Venetia und ihm auf gezwungen worden war. Er wünschte sich, die Wahl zu haben, doch er hatte sie nicht. Wenn er zugelassen hätte, dass die Verlockung zwischen ihnen sich in besinnungslose Leidenschaft verwandelte, hätte sie das auf einen Weg gebracht, auf dem ihre Freundschaft für immer zerstört worden wäre.

Dennoch war es furchtbar schwierig gewesen, sie loszulassen. Venetia hätte sich nicht gegen die Leidenschaft gewehrt, die drohte, sie beide völlig zu verschlingen. Doch was wäre danach gewesen? Nachdem er tief durchgeatmet hatte, verdrängte Gregor seine lüsternen Gedanken und wandte sich von Venetia ab, um wieder zu sich selbst zu finden.

Die Kälte, die plötzlich im Zimmer herrschte, drang durch seine Kleider, während er zum Fenster ging und die Vorhänge zurückzog. Erleichtert stellte er fest, dass Chambers und Ravenscroft draußen nicht mehr zu sehen waren. Er stützte eine Hand auf das Fensterbrett und lehnte seine Stirn gegen das kühle Glas, während sein ganzer Körper immer noch bebte, weil er sich der Anwesenheit der Frau, die still hinter ihm stand, nur allzu bewusst war.

Als schließlich Gregors Hände aufgehört hatten zu zittern, und seine Lenden seinem Gehirn wieder erlaubten zu arbeiten, richtete er sich auf und wandte sich um. „Venetia, ich ..."

Die Tür wurde aufgestoßen, und Ravenscroft stand wankend im Türrahmen, von Kopf bis Fuß mit Schnee bedeckt. Hinter ihm drückte sich ängstlich Chambers herum.

„Was wollen Sie?“, fragte Venetia stirnrunzelnd.

Mit wutverzerrtem Gesicht trat Ravenscroft ins Zimmer. Als sich sein Fuß in etwas verfing, blieb er stehen und schaute hinunter zum Boden. Sein Stiefel stand auf Gregors Weste.

Gregor trat hastig auf ihn zu. „Es ist nicht so ... “

Doch Ravenscroft unterbrach ihn mit einem wütenden Aufschrei, der durchs ganze Gasthaus hallte. „MacLean, Sie Unhold! Sie haben sie verführt! Ich verlange Satisfaktion!“

Viel weiter südlich tauchte London langsam wieder unter der dicken Schneedecke auf, die das Unwetter hinterlassen hatte. Nach fast vier Tagen zeigten sich die Einwohner der Stadt allmählich wieder auf den Straßen. Pferde, Kutschen und Karren holperten und rutschten die Fahrbahnen entlang, vorbei an Schneebergen, über festgetretenes Eis und durch Schlammpfützen.

Exakt um halb sechs Uhr nachmittags fuhr eine prachtvolle, sechsspännige Kutsche bei White's vor. Auf ihrem Schlag glitzerte eine mit Goldfarbe gemalte Krone in den letzten Sonnenstrahlen des Tages. Der Butler des Herrenclubs, Mr. Brown, der die Ankunft der Kutsche durchs Fenster beobachtet hatte, klatschte in die Hände und schickte einen Diener los, um den Koch darüber zu informieren, dass der letzte Gast zu der privaten Party im Speisesaal eingetroffen war. Dann strich Mr. Brown seine Jacke glatt und riss die riesigen Türen aus Eichenholz auf.

Lord Dougal MacLean blieb unter dem Vordach stehen und schnipste eine winzige Fluse von seinem Ärmel. Inzwischen wartete Mr. Brown geduldig. MacLean gehörte zu den anerkannten Vorbildern, was die Mode der höheren Gesellschaft Londons anging, und es war leicht zu erkennen, warum das so war. Seine Weste war aus tiefrotem Damast, durchwirkt mit Silberfäden und verziert mit kunstvoll gefertigten Silberknöpfen. Seine Krawatte war zu einem komplizierten Knoten gebunden, dessen Geheimnis Lord MacLean sich weigerte zu lüften, sehr zum Kummer derjenigen, die ihn nachahmen wollten. Enge schwarze Hosen betonten seine muskulösen Beine, und ein einzelner Smaragd, der exakt dasselbe Grün hatte wie seine Augen, glitzerte an seiner Hand.

Jede Einzelheit seiner Kleidung unterstrich perfekt seinen durchtrainierten Körper und sein blondes Haar. Es gab nicht wenige Damen in London, die jedes Mal sehnsüchtig seufzten, sobald Dougal MacLean ihren Weg kreuzte.

„Guten Abend, Brown“, begrüßte der ehrenwerte junge Mann den Butler, während er seine Handschuhe abstreifte. „Sind meine Brüder bereits eingetroffen?“

„Ja, Mylord.“ Brown nahm die Handschuhe entgegen und reichte sie an einen Diener weiter. „Sie haben den Speisesaal reservieren lassen. Dinner wird in einer halben Stunde serviert.“

„Sehr gut.“ Dougal zog seinen Mantel aus und enthüllte eine elegante Abendjacke, die sich an seine breiten Schultern schmiegte wie eine zweite Haut.

Während Brown die Rosenblüte betrachtete, die den linken Jackenaufschlag des Gentlemans schmückte, fragte er sich, wie viele andere Jünger der Mode in den nächsten Tagen mit einer Rose am Revers auftauchen würden. Jede Kleinigkeit am Äußeren Seiner Lordschaft wurde genauestens studiert und -meistens noch am selben Tag - kopiert.

„Wie lange warten meine Brüder schon?“, erkundigte sich MacLean und sah sich auf die für ihn typische, ein wenig schläfrig wirkende Art um.

Einige Mitglieder der Londoner Gesellschaft hatten den Fehler gemacht, auf die höchst lässige Art Seiner Lordschaft hereinzufallen, aber Brown war zu Ohren gekommen, dass diejenigen der Männer, die in der Gentleman Jackson’s Bond Street Academy trainierten, rasch gelernt hatten, dass sich hinter dem schläfrigen Blick ein kräftiger rechter Haken verbarg.

„Sie sind seit etwas über einer Stunde hier. Alle außer Lord Gregor MacLean.“ Brown machte eine bedeutungsvolle Pause. „Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Ihr ältester Bruder scheint ein wenig außer sich zu sein.“

„Alexander ist immer außer sich“, stellte Dougal klar, nachdem er den Butler unter seinen Wimpern hervor angesehen hatte. „Das ist sein hervorstechendes Merkmal.“

„Es freut mich, das zu hören, Mylord. Ich hatte schon befürchtet, wir hätten irgendetwas getan, das seinen Zorn erregte.“

„Oh, er wird selten wütend. Aber er ist ständig verärgert.“ Dougal stieß einen traurigen Seufzer aus. „Es ist ziemlich ermüdend.“

Er ließ eine Goldmünze in die Hand des Butlers gleiten. „Es tut mir leid, dass Sie mit der berühmten Humorlosigkeit der MacLeans konfrontiert wurden.“

„Vielen Dank, Mylord! Ich hoffe, Sie genießen den Abend. Darf ich Sie zum Speisesaal führen?“

„Nein, nein. Ich finde allein hin.“ Mit einem abwesenden Lächeln verließ Dougal den Eingangsbereich und durchquerte die große Halle. Wenig später stand er vor einer großen Mahagonitür und legte die Hand auf den Messingknauf.

Von drinnen konnte er das Gemurmel zweier tiefer Stimmen hören. Seufzend verzog er seine Lippen zu einem angedeuteten Lächeln und betrat den privaten Speisesaal.

„Da bist du ja!“, rief ihm Hugh von seinem Platz neben dem Kaminsims aus entgegen.

Dougals ältester Bruder, Alexander, saß auf einem dick gepolsterten Stuhl vor dem knisternden Feuer. Er warf Dougal einen tadelnden Blick zu. „Vielen Dank, dass du dich von deinen vielfältigen gesellschaftlichen Verpflichtungen freigemacht hast.“

„Es war schwierig genug“, erwiderte Dougal leichthin, indem er tat, als hätte er den Sarkasmus seines Bruders nicht bemerkt. „Aber schließlich und endlich seid ihr meine Familie.“ Auf Hughs Gesicht erschien fast so etwas wie ein Lächeln, doch Alexander zuckte mit keiner Wimper. „Wir warten seit einer Stunde auf dich.“

„Als deine Nachricht eintraf, schlief ich gerade und musste mich erst einmal anziehen, bevor ich herkommen konnte. “

„Es war zwei Uhr nachmittags.“

„Während der Saison stehe ich niemals vor vier Uhr auf“, erklärte ihm Dougal freundlich. „Aber um ehrlich zu sein, bin ich ein wenig in Zeitnot. Ich habe nur er zog eine große, goldene, mit Silberbesätzen verzierte Uhr aus der Tasche und warf einen Blick darauf, „... einundzwanzig Minuten Zeit.“ Während er die Uhr zurück in die Tasche schob, fügte er entschuldigend hinzu: „Ich werde bei den Spencers zum Dinner erwartet.“

„Die Spencers können warten“, teilte Alexander ihm streng mit und ließ seinen Blick missbilligend an ihm herabwandern. „Aus dir ist ein verdammter Dandy geworden.“

Dougal ließ sich auf einem Stuhl nieder, schlug die Beine übereinander, holte sein Monokel hervor und betrachtete durch das Vergrößerungsglas seine italienischen Lederstiefel. „Ich bin sicher, du hast nicht die weite Reise von Schottland hierher gemacht, um meine Kleidung zu kommentieren.“ Er ließ das Monokel fallen, das an einem Band hing, dessen Ende in der Tasche seiner Weste befestigt war. „Jedenfalls hoffe ich, dass es nicht so ist. In diesem Fall hätte nämlich ein Brief genügt.“

Alexander presste die Lippen aufeinander.

„Hört damit auf, alle beide“, mischte sich Hugh ein. „Wir hatten schon genügend schlechtes Wetter.“ Groß, breitschultrig und dunkelhaarig, wie die meisten MacLeans, unterschied sich Hugh von den anderen durch eine weiße Haarsträhne an seiner rechten Schläfe und ein übermütiges Wesen. Wenn irgendwo Unfug angestellt wurde, war Hugh stets dabei.

Heute jedoch funkelte in Hughs Augen nicht wie sonst der Schalk. Er sah Dougal ernst an. „Wir machen uns Sorgen um Gregor.“

„Die Leute tratschen, und das gefällt mir gar nicht“, erklärte Alexander nickend.

Dougal zog die Brauen hoch, sagte aber nichts. Alexander war der größte der Brüder und überragte die anderen deutlich. Dougal dagegen war der Kleinste, und da er auch der Einzige war, der das blonde Haar ihrer Mutter geerbt hatte, wurde er von seinen Geschwistern auch am häufigsten geneckt wenn man einmal von Fiona absah, der einzigen Schwester der vier Brüder. Umgeben von drei riesigen Brüdern, hatte Dougal schnell gelernt, dass es günstig war, als Erster und rasch anzugreifen.

Als Kind war es schwierig für ihn gewesen, sich äußerlich so deutlich von seinen Brüdern und seiner Schwester zu unterscheiden, doch inzwischen gefiel es ihm, und er war froh darüber. Wäre er so groß wie seine Brüder gewesen, hätte es je des Mal ein ganzes Kalb gebraucht, wenn er sich, was ziemlich häufig geschah, ein Paar neue Stiefel anfertigen ließ.

„Um Gregor müsst ihr euch keine Sorgen machen“, stellte Dougal achselzuckend fest. „Er kann selbst auf sich aufpassen.“

„Weißt du, wo er ist?“

„Er hat sich auf den Weg gemacht, um Venetia Oglivie beizustehen. Wahrscheinlich sitzt er irgendwo an der North Road wegen des Unwetters fest. Warum wollt ihr das wissen?“

Alexander und Hugh tauschten einen Blick, bevor Alexander erwiderte: „Ich habe einen Brief von Mr. Oglivie erhalten.“

Erschrocken zuckte Dougal zusammen. Gregor hatte ihm aufgetragen, ein Auge auf den alten Herrn zu haben, was sich als unerwartet schwierige Aufgabe herausgestellt hatte. Oglivie hatte sich in einem außerordentlichen Gefühlswirrwarr befunden. In einem Moment hatte er geweint und im nächsten Ravenscroft verflucht und ihm einen furchtbaren Tod angedroht. Schlimmer noch, er hatte sich geweigert, zu Hause zu bleiben, und war kreuz und quer durch die Stadt gehetzt, sodass Dougal seine liebe Not gehabt hatte, hinterherzukommen.

Deshalb war Dougal froh gewesen, als Oglivie schließlich beschlossen hatte, ein paar Tage bei einem alten Freund außerhalb Londons zu bleiben. „Was stand in dem Brief?“, erkundigte sich Dougal vorsichtig.

„Er berichtete uns über die Sache mit Venetia. Und er glaubt, dass Gregor etwas zugestoßen sein könnte.“

Dougal zog eine Grimasse. „Oglivie ist ein Dummkopf. Du kennst Gregor, Alexander. Glaubst du wirklich, irgendjemand könnte ihn davon abhalten, mit uns Kontakt aufzunehmen, wenn er das wollte?“

„Was, wenn er dazu nicht in der Lage ist?“, gab Hugh zu bedenken. „Wenn er krank oder verletzt ist oder Schlimmeres?“

„Was könnte denn schlimmer als eine ernste Verletzung sein?“

„Wenn er verheiratet wäre“, erwiderte Alexander prompt.

„Gregor würde niemals heiraten, schon gar nicht Venetia Oglivie“, behauptete Dougal lachend. „Sie ist wie eine Schwester für ihn.“

„Nein, das ist sie nicht“, widersprach Hugh und sah Dougal nachdenklich an. „Du hast doch schon oft genug gesehen, wie Gregor mit Fiona spricht. Wenn er mit Venetia Oglivie redet, wirkt das ganz anders.“

Alexanders Blick verschleierte sich, und er nickte langsam. „Gregor mag Venetia.“

„Ebenso, wie sie ihn mag, aber sie sind nicht auf andere Weise aneinander interessiert.“ Nachdrücklich nickte Dougal mit dem blonden Kopf.

„Das spielt keine Rolle, Dougal.“ Unruhig trat Hugh von einem Fuß auf den anderen. „Da Gregor viel an Venetia liegt, könnte seine Ritterlichkeit ihn zu extremen Maßnahmen veranlassen.“

Gregors größte Schwäche war sein ziemlich altertümlicher Sinn für Werte. Als Dougal sich dessen bewusst wurde, spürte er eine leichte Unruhe in sich aufsteigen. „Habt ihr mit Mr. Oglivie gesprochen?“

„Wir können ihn nicht finden. “

„Er ist im Hause des Viscount Firth. Ich habe ihn gestern selbst dorthin gefahren.“

Alexander nickte. „Wir müssen mit ihm reden.“ Sein Blick verdunkelte sich. „Heute Abend werden die Spencers wohl vergeblich auf dich warten müssen.“

„Ich werde Mr. Oglivie in die Stadt zurückholen“, beschloss Dougal mit gerunzelter Stirn. „Trotzdem weiß ich immer noch nicht, warum ... “

„Dougal, es ist vier Tage her, seit wir zuletzt von Gregor gehört haben.“ Über seine aneinandergelegten Fingerspitzen hinweg betrachtete Alexander seinen Bruder. „Ich glaube, das heißt, dass Gregor in seiner Mission gescheitert ist, Miss Oglivie mit einem intakten Ruf zurück nach London zu bringen. Inzwischen weiß ganz London, dass sie verreist ist und sich in einer für eine junge Dame unpassenden Situation befindet.“ „Das ist Mr. Oglivies Schuld“, stellte Dougal mit finsterer Miene fest. „Er hat es überall herumerzählt. Ich habe versucht, ihn daran zu hindern, aber das war völlig unmöglich.“ Alexander schob sein Kinn vor. „Er ist ein Dummkopf. Und nun befindet sich Gregor in einer heiklen Situation. Er mag Venetia, und er wird es als Ehrensache ansehen, ihren guten Ruf zu schützen.“

Seufzend dachte Dougal bei sich, dass es ihm überhaupt nicht gefiel, in diese Sache verwickelt zu werden. „Nun gut. Ich werde Mr. Oglivie noch heute Abend zurück in die Stadt holen. Soll ich ihn hierherbringen?“

„Nein“, bestimmte Alexander. „Wir werden uns in Gregors Stadthaus aufhalten, bis wir von dir hören.“

„Und dann?“ Dougal sah ihn fragend an.

Alexanders Blick brannte vor Entschlossenheit. „Werden wir hinter Gregor herreiten, um ihm zu helfen.“

„Das wird ihm nicht gefallen.“

„Es ist mir egal, ob ihm das gefällt oder nicht“, entgegnete Alexander in scharfem Ton. „Wenn er will, dass wir zu Hause bleiben, sollte er uns darüber informieren, wo er ist und wie es ihm geht.“

„Oder wenigstens Kontakt mit uns aufnehmen, wenn etwas so Wichtiges wie die Geschichte mit Venetia Oglivie passiert“, fügte Hugh hinzu.

Dougal schüttelte den Kopf. „Ich finde eure Pläne ziemlich überstürzt. Immerhin ist es möglich, dass Gregor die Situation bestens unter Kontrolle hat.“

„Du musst nicht mitkommen“, erklärte ihm Alexander mit schmalem Mund. „Wir können die Sache auch ohne dich regeln.“

Mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht erhob sich Dougal von seinem Stuhl. „Oh, ich komme natürlich mit - und wenn es nur ist, um Gregors Gesicht zu sehen, wenn wir herbeieilen, wild entschlossen, ihn zu retten. Das wird ein höchst interessanter Anblick sein.“