9. Kapitel
Ach, meine kleinen Mädchen, es gibt nur sehr wenige Menschen, die euch verraten, wie die Dinge wirklich sind. Haltet jene in Ehren, die euch die Wahrheit sagen, ganz gleich, ob ihr sie hören wollt oder nicht...
... so sprach die alte Heilerin Nora von Loch Lomond in einer kalten Nacht zu ihren drei jungen Enkelinnen.
Venetias Puls raste. Sie hörte auf zu denken und verging unter seinen Lippen.
Leidenschaft galoppierte durch ihren Körper und erregte sie wie die wilden Ritte durch den Park im Morgengrauen, die Gregor und sie so liebten. Das Gefühl seines heißen Mundes auf ihrem und der Druck seiner starken Hände, die sie an seinen Körper pressten, weckten in ihr ein tiefes Verlangen nach mehr. Die Flamme ihres Begehrens brannte mit jeder Sekunde höher und wilder.
Sie stöhnte an seinem Mund, und ihr ganzer Körper prickelte und bebte. Ruhelos und heiß drängte sie sich ihm entgegen, während ihre Zunge mit seiner spielte.
Es bereitete ihr unendlichen Genuss, wie er sie hielt, wie seine Hände sie umfassten und schließlich vom Boden hoben. Ihre Finger glitten an seinem Rücken hinab, umfingen ihn und ...
Gregor stellte sie wieder auf die Füße, griff nach ihren Handgelenken und schob sie von sich.
Schwer atmend standen sie sich gegenüber, und die Luft, die sie ausstießen, bildete weiße Wölkchen zwischen ihren Gesichtern, während sie einander mit einer Mischung aus Erstaunen und Unsicherheit ansahen.
Gregor schüttelte den Kopf. „Wir sind verrückt. Alle beide.“
Venetias Wangen glühten, und sie hatte ihren Herzschlag in den Ohren. Verrückt beschrieb es nicht einmal annähernd. Was hatte sie sich eigentlich gedacht? Das hier war Gregor, um Himmels willen! Sie wusste, wie gefährlich es war, sich ihm gegenüber so leichtsinnig zu verhalten, wie sie es eben getan hatte, wusste, wie so etwas endete, wenn es um diesen Mann ging.
Verlegen versuchte sie, ihre Handgelenke zu befreien, doch Gregor hielt sie fest.
„Halt still“, befahl er, und sein Blick senkte sich tief in ihren.
Sie wünschte inständig, sie könnte davonlaufen oder noch besser das, was während der letzten Minuten passiert war, ungeschehen machen.
Aber das war unmöglich. Was soeben geschehen war, würde für immer zwischen ihnen stehen.
„Gregor“, flüsterte sie. „Was sollen wir tun?“
Die Frage hing zwischen ihnen in der Luft.
Gregor war unfähig, den Blick abzuwenden, und er konnte Venetia auch nicht loslassen. Sie stand vor ihm, vollständig eingehüllt vom Hals bis zu den Zehen, mit wirrem Haar, dessen lockerer Knoten sich fast gelöst hatte und in dem von ihrem Stallbesuch her ein Strohhalm steckte. Ihre Nase glänzte und war bedeckt mit Sommersprossen, ihre sanft geschwungenen Lippen waren von seinem Kuss rosig und glänzten feucht.
Alles an ihr zog ihn an. Es war gleichzeitig wunderbar vertraut und herrlich neu, vor allem aber furchtbar falsch. Langsam löste er die Finger von ihren Handgelenken, ließ die Hände tiefer gleiten und verschlang seine Finger mit ihren. Er wollte sie noch nicht loslassen.
Bevor sie ihn ansah, zitterten ihre niedergeschlagenen Wimpern auf ihren Wangen, und ihr Gesicht färbte sich erneut rosig. Sie war erstaunlich sinnlich, eine Tatsache, die ihm all die Jahre völlig entgangen war.
Mehr als alles auf der Welt wollte Gregor sie gleich dort an Ort und Stelle nehmen - wollte sie auf den Boden werfen, ihre Röcke hochschieben und das Verlangen stillen, das er in ihrer Umarmung gespürt und ihren Augen gesehen hatte. Aber das durfte er nicht. Das hier war Venetia, nicht irgendeine beliebige Frau. Niemals hätte er etwas tun können, das sie verletzte,
auch wenn es nur eine winzig kleine Verletzung war. Aber dieses Verlangen zu stillen ... Obwohl er ganz genau wusste, dass sie es genießen würde, wenn er sie liebte, doch hinterher ... Er runzelte die Stirn. In dem, was hinterher sein würde, lag das Problem.
Eine Frau wie Venetia verdiente mehr als sein übliches „Hinterher“. Er war kein Schürzenjäger, aber er hatte eine ansehnliche Zahl von Liaisons hinter sich, von denen die meisten einvernehmlich nach wenigen Monaten geendet hatten: genau so, wie es bei guten Liaisons sein sollte. Alle hatten leidenschaftlich begonnen - obwohl er zugeben musste, dass er zu Beginn keiner jener Affären auch nur annährend gefühlt hatte, was er fühlte, wenn er Venetia ansah, wenn er ihre rosigen Wangen und ihre funkelnden Augen betrachtete. Sie hatte etwas an sich, plötzlich, hier, in diesem Gasthaus, im Schnee, das seine Sinne entzündete und seine Fantasie anregte. Er sehnte sich danach, herauszufinden, wie es sein würde, wie sie sein würde, aber ...
Langsam schüttelte er den Kopf und ließ zögernd ihre Hände los.
Venetia wandte sich ab, ihre Finger in den weichen Handschuhen ruhten einen Moment auf ihren Lippen, bevor sie ihre Hand mit einem verlegenen Erröten sinken ließ.
„Nicht“, sagte er mit rauer Stimme und wünschte sich, er könnte ihr etwas von ihrer Verlegenheit nehmen.
„Es tut mir leid, Gregor. Das hier ...“ Mit einer schwachen Handbewegung deutete sie auf die Stelle, wo sie eben noch eng umschlungen gestanden hatten. „Es hätte niemals geschehen dürfen.“
„Nein, das hätte es nicht, aber es ist passiert.“ Für Sekunden sah er ihr in die Augen. „Und ich kann nicht sagen, dass ich es bereue.“
„Ich glaube, ich auch nicht. Aber es wäre dumm, es fortzuführen“, erklärte sie mit leiser Stimme und brachte ein fast überzeugendes Lächeln zustande.
Sie hatte recht, was die Sache auch nicht einfacher machte. Verdammt noch mal, wie hatten die Dinge so aus dem Ruder laufen können? Er verlor niemals die Kontrolle.
Als er Venetia wieder in die Augen sah, las er in den grauen
Tiefen eine Frage, und er hörte sich selbst in barschem Ton sagen: „Du hast recht. Es wird nicht wieder geschehen. Niemals wieder. Wir sind Freunde, nicht mehr. “
Etwas flackerte in ihren Augen auf. Enttäuschung? Das war jedenfalls das Gefühl, das sich schwer wie ein Mühlstein auf seine Brust gelegt hatte und ihn nun beherrschte.
Plötzlich erschien ihm alles furchtbar unfair. Es war unfair, dass Ravenscroft ihrer beider Leben derart durcheinandergebracht hatte; unfair, dass sie wegen Gregors eigenem, unbeherrschtem Temperament jetzt hier festsaßen; und verdammt unfair, dass eine Handvoll weiterer Menschen mit ihnen beiden zusammen eingeschneit waren und ihnen auf die Nerven gingen. All der Ärger, den er seit dem Moment in sich trug, in dem er erfahren hatte, dass Venetia verschwunden war, verdichtete sich zu einer großen Welle brodelnden Zorns, den er kaum beherrschen konnte. „Wir müssen so bald wie möglich nach London zurückkehren.“
„Ja. Natürlich. Werden wir heute noch fahren können?“ „Nein. Aber wenn es weiterhin so warm bleibt, könnten wir es vielleicht morgen schaffen.“ Er streifte sie mit seinem Blick und fügte hinzu: „Wenn wir zurückkommen, könnten sich die Dinge für dich geändert haben,Venetia.“
„Ich weiß“, erwiderte sie ruhig. „Ich weiß, dass Papa in Sorge um mich war, und weil er seine Gefühle nicht für sich behalten kann, könnte er etwas zu den falschen Leuten gesagt haben.“ „Ich habe Dougal aufgetragen, dafür zu sorgen, dass er nichts sagt, aber ... “ Er zuckte die Achseln. „Das spielt ohnehin keine Rolle mehr, sobald Higganbotham die Stadt erreicht, denn er wird dich ganz sicher erkennen. Im Unterschied zu Mrs. Bloom sieht der Squire hervorragend“, stellte Gregor fest und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Bis wir abreisen können, musst du darauf achten, so wenig Zeit wie möglich mit den anderen Gästen zu verbringen, Venetia. Je weniger du mit ihnen sprichst, umso besser. Du hast eine Tendenz, bemerkenswerte Dinge zu tun und zu sagen.“
Skeptisch sah sie ihn von der Seite an. „Ich kann nicht versprechen, mich ständig von den anderen Menschen im Gasthaus fernzuhalten.“
„Das musst du aber tun. Dein guter Ruf steht auf dem Spiel. “
„Blödsinn“, fuhr sie ihn mit blitzenden Augen an. „Es ist ohnehin längst zu spät; der Squire wird mich auf jeden Fall erkennen. Außerdem gibt es einige Dinge, die ich auf jeden Fall tun muss, um ...“ Als sie Gregors Blick auffing, stockte sie und presste die Lippen aufeinander.
„Um was zu erreichen?“
Das Kinn herausfordernd vorgestreckt, zuckte Venetia die Achseln.
„Venetia, du musst damit aufhören, dich in das Leben anderer Leute einzumischen. Lass Ravenscroft in Ruhe und hör auf, ihn dazu zu ermutigen, sich Miss Platt gegenüber zum Narren zu machen.“
„Er ist nur dabei behilflich, ihr mehr Selbstvertrauen zu geben.“
„Er gibt den Hanswurst, nicht mehr und nicht weniger. Ebenso wie er es getan hat, als er dich entführte und all diesen Blödsinn darüber erzählte, dass er fliehen und mit dir in einer Hütte leben möchte. Lächerlich!“
Sie legte den Kopf auf die Seite und betrachtete ihn ernst unter gesenkten Lidern hervor, als sei sie damit beschäftigt, über jedes seiner Worte nachzudenken. „Warst du jemals verliebt, Gregor?“
„Nein, so dumm war ich nie.“
„Vielleicht ist es genau das, was nicht mit dir stimmt“, stellte Venetia in schroffem Ton fest. „Du bist in deinem Leben so wenig von lästigen Gefühlen irritiert worden, dass du kein Verständnis für die Menschen in deiner Umgebung aufbringen kannst, die Gefühle haben.“
Gregors Mund wurde schmal. „Wenn ich zu wenige Gefühle habe, hast du zu viele, meine Liebe.“
„Von welchen Gefühlen redest du?“
Ihre Worte trafen ihn wie ein Peitschenhieb. Geschürt von ihrem Eigensinn, schwollen sein Ärger und seine unerfüllte Lust an und brachen sich Bahn in einem zornigen Ausbruch. „Lass uns einfach aufhören, darüber zu reden, geht das? Ich weiß, dass du irgendwelche Pläne für Ravenscroft und Miss Platt schmiedest, und ich werde dabei nicht tatenlos zusehen.“
„Wir sind nur befreundet, Gregor. Deshalb bist du weder für mich noch für mein Tun und Lassen verantwortlich.“
„Nach Lage der Dinge bin ich sehr wohl verantwortlich, ob dir das passt oder nicht“, erklärte er finster.
Mit zusammengepressten Lippen stemmte - sie die Fäuste in die Hüften. „Ich mag den Ton nicht, in dem du mit mir sprichst.“
„Du musst ihn nicht mögen“, versicherte er ihr barsch. „Dein Recht, Dinge zu mögen, hast du verspielt, als du so dumm warst, mit Ravenscroft in die Kutsche zu steigen.“
Wütend schob sie das Kinn nach vom. „Ich dachte, die Nachricht, die er geschrieben hatte, sei von meinem Vater und - oh, verdammt, ich habe dir das alles schon mehrmals erklärt!“ „Aber deine Erklärungen waren nicht ausreichend und überzeugten mich nicht“, erwiderte er scharf und bemühte sich, seine schlechte Laune und sein Verlangen, die dicht hinter seiner äußerlich ruhigen Fassade lauerten, unter Kontrolle zu behalten. „Ich dachte immer, du seiest eine vernünftige Frau, aber seit gestern bin ich der Meinung, dass du jemanden brauchst, der auf dich aufpasst.“
„Oh! Wie kannst du so etwas behaupten? Ich habe nichts getan, außer versucht zu helfen, erst meiner Mutter, dann Miss Platt..." Kühl begegnete sie seinem Blick. „Was bildest du dir eigentlich ein? Ich muss dir keine Erklärungen abgeben. Du, Gregor, bist der schwierigste, arroganteste und selbstsüchtigste Mensch, dem ich jemals begegnet bin.“
Gregors Augen funkelten heftig, als er den Blick auf sie richtete. „Wenigstens bin ich kein aufdringlicher Quälgeist und mische mich nicht ungebeten in die Leben der Menschen um mich herum ein. Ich glaube nicht, dass ich besser weiß, was gut für jemanden ist, als der Betreffende selber. Du, meine Liebe, bist zweifellos ziemlich eingebildet, wenn du meinst, alles besser zu wissen, als die Menschen, die es angeht.“
„Sei still und sag kein einziges Wort mehr“, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Ganz bestimmt nicht. Wenn du deinen guten Ruf behalten willst, wirst du auf der Stelle aufhören, dich in Miss Platts Leben einzumischen und dich um ihre vermeintlichen Probleme zu kümmern.“
Zu wütend, ihm zu antworten, rammte Venetia die Fäuste in die Taschen ihres Mantels und schauderte, als ein eisiger Wind in die Äste über ihren Köpfen fuhr und rings um sie der Schnee auf den Boden rieselte.
Gregor fuhr sich mit der Hand durchs Haar und sah sie zornig an. „Diese ganze Situation war von Anfang an nichts als ein einziges Ärgernis und ein riesiges Durcheinander. Genau das ist es, was passiert, wenn du versuchst, jemandem zu helfen: Alles geht schief.“
Die Bitterkeit in Gregors Stimme verletzte Venetia. War er der Meinung, dass sie ebenfalls ein Ärgernis war?
Die Art, wie er sie ansah, beantwortete ihre Frage nur zu deutlich, obwohl sie sie nicht laut ausgesprochen hatte. „Wenn du nach Hause zurückkehren und dein Leben wie vorher genießen willst, dann tust du, was ich dir sage. Kein Einmischen mehr in das Leben anderer Menschen.“
Sie richtete sich kerzengerade auf. „Ich bin keiner deiner Dienstboten, hör also sofort auf, mir Befehle zu erteilen und mich anzuschreien!“
„Allerdings bist du keiner meiner Dienstboten. Die sind viel kooperativer als du.“
„Und ebenso wenig bin eines deiner ... deiner ... Liebchen“, sie spuckte das Wort voller Verachtung aus „Ich gehöre nicht zu den Weibern, die dir hinterherhecheln und alles tun, um deine Gunst zu erringen. Es ist mir völlig egal, was du von meinem Einmischen hältst, wie du es nennst. Ich bin eine erwachsene Frau und weiß, was ich tue. Behalt also deine Meinung für dich, und spar dir deine anmaßenden Bemerkungen.“
Gregors Lippen wurden so schmal, dass sie nur noch als weißer Strich zu sehen waren.
In der Ferne grollte Donner.
Stirnrunzelnd schaute Venetia zum Himmel auf und sah mit Sorge, dass während ihrer Unterhaltung mit Gregor zahlreiche Wolken aufgezogen waren, die mittlerweile schon fast völlig die Sonne verdeckten. „Verdammt noch mal, Gregor! Beherrsche dich gefälligst! Ich möchte dieses Gasthaus noch vor dem nächsten Jahr verlassen.“
Gregors Lippen wurden noch schmaler, und dieses Mal krachte der Donner direkt über ihnen, nachdem eine gleißend helle Zickzacklinie den Himmel in zwei Teile geteilt hatte.
Bei dem lauten Geräusch zuckte Venetia zusammen und presste die Hand auf ihr Herz. „Hör sofort auf damit!“
„Du weißt genau, dass ich es nicht mehr kontrollieren kann, wenn es erst einmal angefangen hat. Aus diesem Grund heißt es Fluch“, fuhr er sie an.
„Du solltest schnellstmöglich einen Weg finden, es unter Kontrolle zu halten.“ Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete sie die sich auftürmenden Wolken und zog ihren Mantel enger um sich zusammen, um die plötzlich eiskalte Luft nicht an ihren Körper zu lassen. „Vielleicht wird es nicht wieder so schlimm wie gestern, wenn du jetzt damit aufhörst.“ „Ich kann mich sehr gut beherrschen, solange du mich nicht aufregst. Ich will, dass du mir versprichst, dich aus den Angelegenheiten der anderen Gäste herauszuhalten.“
Sie wandte sich ab, sodass er sie nur noch im Profil sah und deutlich ihr entschlossen vorgerecktes Kinn erkennen konnte. „Du hast mir überhaupt nichts zu sagen! Wenn ich glaube, dass etwas getan werden muss, werde ich es tun, egal ob es dir passt oder nicht.“
Über ihnen donnerte es erneut so laut, dass die Erde zu beben schien, und der Himmel wurde noch ein wenig dunkler. Kleine Schneeflocken tanzten durch die Luft.
Venetia deutete nach oben. „Sieh nur, was du angerichtet hast! Wir werden nie hier wegkommen.“
Gregor beugte sich zu ihr hinunter, bis sein Gesicht auf einer Höhe mit ihrem war. „Ich habe in diesem elenden Schnee einen verdammt weiten Weg zurückgelegt, nur um deine kostbare Haut zu retten. Keine Schwierigkeiten zu machen ist das Allerwenigste, was du jetzt tun kannst.“
Ihre Haut färbte sich zartrosa, ihre Lippen bebten fast unmerklich, die Oberlippe glänzte verführerisch feucht. Fast schmerzlich spürte er das Begehren, das ihn durchfuhr. Das, was sich tief in ihm regte, was heißer als sein Zorn.
Er wollte die Hände nach ihr ausstrecken und sie wieder in seine Umarmung reißen, wollte ihre üppigen Kurven an seinen Körper pressen und sie küssen, bis sie um Gnade flehte.
Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte er gegen das quälende Bild an. Frauen wie Venetia hatten keine Affären. Sie verliebten sich, und dann heirateten sie. Das war der Weg, den sie gingen. Ganz oder gar nicht, etwas anderes gab es nicht für sie - absolut nichts für einen Mann wie ihn, der nicht daran dachte, sich nur wegen ein wenig Leidenschaft für immer zu binden.
Gregor schob seine Hände in die tiefen Taschen seines Mantels. „Wir sollten besser zurück zum Gasthof gehen, bevor jemand bemerkt, dass wir nicht da sind.“ Er zeigte auf den Pfad, auf dem sie gekommen waren, doch Venetia rührte sich nicht von der Stelle. Sie stand nur da und starrte ihn mit brennenden Augen an.
„Also gut.“ Er wandte sich auf dem Absatz um und sagte über seine Schulter zu ihr: „Sei vorsichtig auf dem Rückweg; an manchen Stellen ist es glatt.“
Nach diesem ruhigen, unpersönlichen Abschied ging Gregor auf dem schmalen Weg davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Unter seinen Stiefeln knirschte der Schnee, und er hob sein Gesicht den kühlen Flocken entgegen, die sachte vom Himmel fielen. Gott allein wusste, wie viel Schnee dieses Mal herunterkommen würde. Verdammt noch mal, das alles passierte nur, weil ihm Venetia derart unter die Haut ging!
Warum war hier alles anders als in London, und er bemerkte plötzlich Dinge an ihr, die er nie zuvor gesehen hatte? Was auch immer der Grund war, er hoffte inständig, dass es schnell vorübergehen und alles wieder wie vorher werden würde. So nah bei Venetia zu sein, eingesperrt in dem kleinen Gasthof mit so vielen Menschen um sie herum, war die reinste Tortur. Etwas Seltsames geschah zwischen ihnen. Etwas Überraschendes, das immer mehr Macht über sie beide gewann. Was konnte es sein?
Das Geräusch von knirschendem Schnee hinter seinem Rücken ließ ihn stehen bleiben und sich umwenden. Venetia kam auf ihn zu. Ihr dunkles Haar war mit Schnee bestäubt, ihre Haltung aufrecht und steif, als ob sie damit beschäftigt wäre, die Worte zu bedenken, die sie gleich zu ihm sagen würde. Vielleicht war sie gekommen, um sich zu entschuldigen.
Ohne ihn anzusehen, marschierte sie an ihm vorbei bis zum Ende des Pfades, wo sie mit hinter dem Rücken verschränkten Armen stehen blieb und wartete, bis er sie eingeholt hatte.
Aha. Sie wollte in Sichtweite des Gasthofs mit ihm sprechen. Was angesichts ihrer Neigung, einander in die Arme zu fallen, sobald sie allein waren, eine weise Entscheidung war.
Den Blick zum Boden gesenkt, um glatte Stellen zu vermeiden, ging er auf sie zu. Gott sei Dank, endlich sie war zur Vernunft gekommen. Sie würde sich für ihr widerspenstiges Verhalten entschuldigen und ihm erklären, dass sie vorhatte, ihre Machenschaften aufzugeben, was Miss Platt und Ravenscroft betraf. Natürlich würde er ihre Entschuldigung akzeptieren, sodass sie endlich zu ihrer ungezwungenen Freundschaft zurückkehren konnten und ...
Zisch! Ein dicker Schneeball traf Gregor an der Schläfe. Er stand bewegungslos da, unfähig zu glauben, was soeben passiert war. Der eisige Klumpen nutzte die Gelegenheit, in seinen Kragen zu rutschen, und jedes Stückchen Haut, das er berührte, wurde nass und unangenehm kalt.
Gregor schrie wütend auf und rannte los, ohne sich weiter um vereiste Baumwurzeln und ähnliche Hindernisse zu kümmern, doch es war zu spät. Venetia war längst in einem Wirbel geraffter Röcke und dahineilender, in Stiefeletten steckender Füße verschwunden. Bevor er auch nur den Stall erreichte, hatte sie bereits die Tür des Gasthauses hinter sich ins Schloss geworfen.
Stocksteif stand Gregor da, während der eisige Wind durch seine Kleidung drang, sein Kragen nass und kalt an seinem Hals klebte und der Donner über ihm durch die Luft rollte.
Diese verdammte Venetia Oglivie mit ihrer verdammten, ungestümen, störrischen Art, und ihrem verdammten Aussehen, das ihn dazu brachte, sie berühren zu wollen!
Gregor wandte sein Gesicht den Wolken zu und fluchte laut und ausgiebig - während die Schneeflocken immer größer und dichter vom Himmel fielen.