14. Kapitel

Es ist zu schade, dass wir uns nicht so sehen können, wie andere uns sehen. Könnten wir es, würden wir uns vielleicht ein wenig anders verhalten. Manchmal brauchen wir etwas Abstand, um die Dinge klar zu erkennen, die unserem Herzen zu nahe sind ...

... so sprach die alte Heilerin Nora von Loch Lomond in einer kalten Nacht zu ihren drei jungen Enkelinnen.

reicht! rief Gregor. Er packte den wütenden Ravenscroft bei der Krawatte. „Schreien Sie nicht so herum, Sie Dummkopf! Man kann uns im ganzen Haus hören.“ „Ich...“

Gregor fasste fester zu und zog Ravenscroft nach oben, bis seine Zehen kaum noch den Boden berührten.

Ravenscroft keuchte, und sein Gesicht färbte sich langsam rot.

„Es geht um eine Dame, deren Namen Sie nicht einmal wert sind, auszusprechen“, teilte Gregor dem jungen Lord mit und schüttelte ihn.

Verzweifelt umklammerte Ravenscroft Gregors Handgelenke. Inzwischen leuchtete sein Gesicht tiefrot, und er strampelte heftig mit den Beinen, um wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Ein mühsames Krächzen war der einzige Laut, den er herausbrachte.

Venetia lief zu den beiden Männern und zerrte an Gregors Arm. „Lass ihn los! Du erwürgst ihn ja!“

„Er hat es nicht besser verdient“, stellte Gregor herzlos fest, schüttelte den jungen Mann noch einmal kräftig durch und gab ihn dann frei. Ravenscroft sackte in sich zusammen und

glitt keuchend auf den Boden.

„Was geht hier vor?“, wollte der Squire wissen, der in diesem Moment das Zimmer betrat.

Hinter seinem Rücken konnte Venetia Mrs. Bloom, Miss Platt und Elisabeth sehen, die nacheinander die Treppe heruntergerannt kamen. Mit glühendem Gesicht wirbelte Venetia herum und ging zum Fenster, wo sie mit dem Rücken zum Zimmer stehen blieb und sich die Hand an die Stirn presste. Wie hatte es nur passieren können, dass die Dinge derart aus dem Ruder liefen?

„Es ist alles in Ordnung, Squire“, behauptete Gregor grimmig. „Nur eine kleine Meinungsverschiedenheit zwischen Mr. West und mir.“

Ravenscroft krächzte etwas vor sich hin, doch seine Stimme schien gemeinsam mit seinem Atem verloren gegangen zu sein.

„Oh, mein lieber Mr. West!“, flötete Miss Platt und sank neben Ravenscroft auf die Knie.

Elisabeth und Mrs. Bloom traten neben Venetia.

„Was ist passiert, meine Liebe?“, erkundigte sich Mrs. Bloom, während ihr Blick zwischen Ravenscroft und Gregor hin- und herwanderte. „Was hat Mr. West nur gesagt, dass Lord MacLean sich derart über ihn aufgeregt hat?“

Venetia rieb ihre Schläfen. „Sie haben sich nur unterhalten und ..."

„Gütiger Himmel! “, rief Elisabeth. „Mr. West hat Lord MacLeans Weste in der Hand. Wie konnte der Lord sie verlieren?“

Mit einem Ruck entriss Gregor seine Weste Ravenscrofts schwachem Griff. „Ich war im Stall, und dort riss mir ein Knopf von der Weste ab. Miss West war so freundlich, ihn wieder anzunähen, und als ihr Bruder ins Zimmer kam, nahm er fälschlich an, dass sich zwischen mir und seiner Schwester etwas Ungehöriges ereignet hatte. Er griff mich an, und ich war gezwungen, mich zu verteidigen.“

„Ein Kampf um die Ehre“, stellte der Squire mit leuchtenden Augen fest. „Das hätte ich zu gern gesehen.“

Ravenscroft versuchte aufzustehen, doch Gregor schob seinen Fuß ein wenig zur Seite, sodass er auf der Ecke von Ravenscrofts Jacke stand und den jungen Mann am Boden hielt. Für die anderen Anwesenden sah es so aus, als wäre Ravenscroft zu schwach, sich zu erheben.

„Sie haben versucht, die Ehre Ihrer Schwester zu verteidigen!“ Gerührt zog Miss Platt Ravenscrofts Kopf in ihren Schoss und presste ihr Taschentuch gegen seine Stirn. „Sie tapferer, tapferer Mann.“

Mit einer ungeduldigen Bewegung schlug Ravenscroft das Taschentuch weg, aber Miss Platt ließ nicht zu, dass er den Kopf von ihrem Schoß hob, und hielt ihn mit überraschender Kraft unten. „Ruhen Sie sich aus, Sie armer Mann.“

Mit weit aufgerissenen Augen stürzte Mrs. Treadwell ins Zimmer. „Was ist passiert? Ich war gerade bei der armen Elsie, die sich immer noch so schlecht fühlt, als ich den Aufruhr hier unten hörte.“

Mrs. Bloom legte den Arm um Venetia und sah Gregor und Mr. West an. „Die bedauernswerte Miss West war gezwungen, bei einer brutalen Auseinandersetzung zugegen zu sein.“ Dieses eine Mal war Venetia dankbar für die energische Art der älteren Frau. Sie lehnte sich sogar ein wenig an Mrs. Bloom, weil sie plötzlich merkte, dass ihre Knie immer noch ganz weich waren. Allerdings rührte das nicht daher, dass sie miterlebt hatte, wie Ravenscroft so entschlossen in die Schranken gewiesen wurde. „Ich glaube, ich sollte mich ein wenig hinlegen“, murmelte sie.

Sofort übernahm Mrs. Bloom das Kommando. Sie wies den Squire an, Mr. West aufs Sofa zu helfen, da er den Weg zur Tür versperrte, dann erklärte sie, sie werde dafür sorgen, dass sich Miss West in einem verdunkelten Zimmer hinlegte, in dem sie Riechsalz zu verteilen gedachte. Gleich darauf scheuchte sie Venetia zur Tür. Als sie an Ravenscroft und Gregor vorbeikam, verkündete Mrs. Bloom in herausforderndem Ton, wenn jemand ein Problem habe, bei dessen Lösung er Hilfe benötige, würde er sich an sie wenden müssen, da Miss West vorerst nicht zur Verfügung stünde.

In dem Moment, in dem sich Venetia der Tür zuwandte, drehte Gregor den Kopf in ihre Richtung, und ihre Blicke trafen sich.

Wie eine Motte, die vom Licht angezogen wurde, bewegte sich Venetia auf ihn zu, aber Mrs. Blooms fester Griff zog sie an Gregor vorbei, aus dem Zimmer und weiter die Treppe hinauf in die friedliche Ruhe ihres Schlafzimmers. Dort angekommen, zeigte Mrs. Bloom erstaunliche Zurückhaltung, indem sie Venetia keine Fragen stellte, sondern es ihr nur auf dem Bett bequem machte und ein mit Lavendelöl besprenkeltes Tuch auf ihre Stirn legte.

Am nächsten Morgen schlief Venetia sehr lange und erwachte erst, als die Frühstückszeit längst vorbei war. Sie schützte Kopfschmerzen vor und ließ den anderen Gästen durch Elisabeth ausrichten, dass sie im Bett bleiben und nicht gestört werden wollte.

Mittags brachte Elsie ihr ein Tablett mit Essen und stellte es auf den kleinen Tisch am Fenster. „Tut mir leid zu hören, dass Sie sich schlecht fühlen, Miss.“

„Es wird mir besser gehen, sobald der Schnee geschmolzen ist.“

Elsie lächelte, zuckte plötzlich zusammen und presste sich die Hand gegen die Wange.

„Geht es Ihnen gut? Mrs. Treadwell sagte gestern, dass Sie sich ins Bett gelegt hätten.“

„Ich habe ein bisschen Zahnweh, aber es ist schon besser geworden“, erklärte das Mädchen tapfer, aber ihr blasses Gesicht strafte sie Lügen.

„Mrs. Treadwell wollte nach dem Doktor schicken, damit er meinen Zahn herauszieht, aber ich habe ihr gesagt, das ist nicht nötig. Es wird von allein aufhören wehzutun.“

„Es tut mir so leid, dass Sie Schmerzen haben. Ich bin sicher, Mrs. Bloom hat Laudanum, von dem sie Ihnen etwas geben kann, wenn Sie es brauchen.“

„Es wird mir schon bald wieder gut gehen. Sehen Sie?“ Elsie zog einen kleinen Beutel, der an einer Schnur um ihren Hals hing, aus ihrem Ausschnitt. „Rübenwurzeln. Meine Mutter hat sie bei Vollmond ausgegraben, also werden sie wirken.“ Sie steckte das Stofftäschchen zurück in ihr Kleid. „Ich werde im Handumdrehen wieder putzmunter sein.“

Venetia war sich nicht sicher, ob sie an die Heilkräfte von Rübenwurzeln glaubte, aber sie sagte nur: „Ich hoffe, es funktioniert rasch. Falls doch nicht, lassen Sie es mich oder Mrs. Bloom wissen, und wir geben Ihnen etwas Laudanum. “

„Vielen Dank, Miss. Sie sind sehr freundlich.“ Elsie ging zur Tür. „Ich komme in ungefähr einer Stunde und hole das Tablett wieder ab.“

Nachdem Venetia gegessen hatte, nahm sie ihr Buch über das Römische Reich und ließ sich auf dem Stuhl am Fenster nieder. Sie versuchte zu lesen, aber es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Durch die Fensterscheibe fiel Sonnenlicht herein und wärmte das Zimmer, und aus dem Gastraum unten hörte sie fernes Stimmengemurmel. Sie strengte sich an, irgendetwas zu verstehen, aber es gelang ihr nicht.

Nach einer Weile wurde sie unruhig. Sie konnte nicht für immer in ihrem Zimmer bleiben. Am vergangenen Abend war es ihr gelungen, sich zu verkriechen, indem sie vorgegeben hatte, Kopfschmerzen zu haben, und dann hatte sie bis spät in den Morgen geschlafen und so getan, als wäre sie nicht einmal erwacht, als Elisabeth ihre Morgentoilette machte.

Sehnsüchtig sah Venetia zur Tür. Schon bald würden sich alle zum Abendessen versammeln, würden lachen und reden, während sie allein hier oben saß, wie eine Kranke an ihr Zimmer gefesselt. Sie sollte nach unten gehen und Gregor und den anderen gegenübertreten. Irgendwann würde sie es sowieso tun müssen.

Zögernd begann Venetia, sich anzuziehen. Voller Neid bemerkte sie, dass zwei von Elisabeths Kleidern bereits gebügelt waren, über dem Stuhl hingen und auf ihre Besitzerin warteten. Venetia betrachtete ihr eigenes, zerknittertes rosafarbenes Kleid und sehnte sich nach den Annehmlichkeiten ihres Heims, nach ihrem eigenen Bett, den Diensten ihrer eigenen Zofe, dem Luxus, jederzeit ausreiten zu können. Ein bisschen hatte Ravenscroft es verdient, gewürgt zu werden, denn schließlich war er schuld an ihrer misslichen Lage.

Nachdem sie sich selbst ihre unfreundlichen Gedanken verboten hatte, steckte Venetia ihr Haar hoch. Als vom Hof her Stimmen zu hören waren, hielt sie inne und stand auf, um hinauszusehen. Der Schnee war inzwischen fast vollständig geschmolzen, und der Hof des Gasthauses versank, bis auf einige immer noch vereiste Stellen, im Matsch. Soeben lenkte Chambers Ravenscrofts Kutsche in den Hof. Mr. Treadwell folgte ihm auf dem Rücken eines Pferdes.

Nun, da der Schnee fort und die Kutsche repariert war, würden sie abreisen können. Traurigkeit und Erleichterung durchfuhren sie. Was würde aus ihr und Gregor werden? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie so schnell wie möglich von hier fort wollte.

Nachdem Venetia ihre Toilette beendet hatte, machte sie sich auf den Weg nach unten. Sie hatte keine Antworten, und je mehr sie nachdachte, umso mehr Fragen stellte sie sich. Es ging noch um viel mehr als um ihre und Gregors unerklärliche Leidenschaft.

Als sie hier im Gasthaus angekommen war und begreifen musste, wie sehr Ravenscroft sie belogen hatte, war sie ziemlich naiv davon ausgegangen, sie würde einen Weg finden, ihren Ruf zu retten, und alles würde wieder in Ordnung kommen. Aber der Schneesturm hatte sie für eine viel längere Zeit hier festgehalten, als sie erwartet hatte, und durch die Ankunft des Squires und seine Tochter, deren Beziehungen zur Londoner Gesellschaft nicht zu leugnen waren, war die Situation noch komplizierter geworden.

Sie war in ernsthaften Schwierigkeiten. Wenn sie jetzt nach London zurückkehrte, dem Squire oder seiner Tochter bei irgendeinem gesellschaftlichen Ereignis über den Weg lief und den beiden klar wurde, dass sie unter dem falschen Namen Miss West mit zwei unverheirateten Männern gereist war, würde sie aus der Gesellschaft ausgestoßen werden, bevor sie auch nur bis zehn zählen konnte.

Der Gedanke, von der Londoner Gesellschaft geächtet zu werden, gefiel ihr nicht im Geringsten. Sie liebte London und das Leben, das sie dort führte.

Das Stimmengewirr aus dem Gastraum verriet ihr, dass sich die anderen Gäste dort bereits vollzählig versammelt hatten. Besonders gut konnte sie Gregors tiefe Stimme von allen anderen unterscheiden. Verdammt, sie wollte ihm nicht in ihrem völlig zerknitterten Kleid gegenübertreten. Wie kam es nur, dass man ausgerechnet in den wichtigsten Momenten im Leben niemals gut gekleidet war? Das war einfach ungerecht.

Am besten brachte sie es rasch hinter sich. Sie atmete tief durch und öffnete die Tür.

Ravenscroft stürzte auf sie zu, griff nach ihrer Hand und hielt sie fest zwischen seinen Händen. „Venetia! Ich muss mit Ihnen sprechen ... muss mich entschuldigen für ...“

Sofort tauchte Miss Platt an seiner Seite auf, klammerte sich an seinen Unterarm und plapperte nervös: „Miss West... Venetia ... Ich bin so froh zu sehen, dass es Ihnen besser geht.“ Ravenscroft zeigte Miss Platt die kalte Schulter, wandte sich demonstrativ Venetia zu und formte mit den Lippen die Worte: Wir müssen reden.

Sie nickte, entzog ihm die Hand und begrüßte den Squire, der sich soeben zu der kleinen Gruppe gesellt hatte. Er beantwortete ihren freundlichen Gruß lediglich mit einem Nicken und fragte sie in schroffem Ton, ob sie gut geschlafen habe.

Während sie eine höfliche Antwort murmelte, schaute sie zu Gregor hinüber. Er stand neben dem Tisch und war zum ersten Mal seit seiner Ankunft nicht perfekt gekleidet. Seine Krawatte saß ein wenig schief, seine Jacke war an den Ellenbogen zerknittert, sein Haar wirr und sein Blick dunkel. Aber natürlich wirkte ein etwas derangiertes Äußeres an Gregor immer noch äußerst anziehend, und bei seinem Anblick schlug Venetias Herz schneller.

Miss Platt schob ihren Arm unter Ravenscrofts. „Sie sollten sich ausruhen! Kommen Sie zurück zum Sofa.“ Zu Venetias Erleichterung zog sie ihn mit sich.

Dann eilte auch schon Mrs. Bloom herbei, legte Venetias Hand in ihre Armbeuge und führte sie zum Tisch. „Da sind Sie ja, meine Liebe! Es überrascht mich gar nicht, dass Sie nach so einem anstrengenden Tag lange geschlafen haben.“

„Es geht mir viel besser“, erklärte Venetia, die sich schmerzlich der Tatsache bewusst war, dass Gregor nun neben dem Squire stand und jede ihrer Bewegungen mit seinen grünen Augen verfolgte.

Es gelang ihr, ihn nicht direkt anzusehen, aber das spielte eigentlich keine Rolle. Ob sie ihn anschaute oder nicht, es war völlig unmöglich für sie, sich seiner Gegenwart nicht bewusst zu sein. Sie konnte seinen Blick ebenso deutlich fühlen, wie sie am Vortag seine Berührungen gespürt hatte.

Gregor musterte Venetia aufmerksam. Sie hielt den Kopf gesenkt und hörte Mrs. Bloom zu, die ihr irgendetwas erzählte. Venetia sah so müde aus, wie er sich fühlte. Sie machte sich Sorgen, das konnte er an ihren unruhigen Bewegungen und an der Art sehen, wie sie ihre Finger miteinander verflocht.

Als Gregor zwischendurch in Ravenscrofts Richtung sah, errötete dieser und schaute mürrisch fort. Der Dummkopf war Gregor den ganzen Tag aus dem Weg gegangen, und das war ihm nur recht.

Zum Teufel mit Ravenscrofts losem Mundwerk! Um ein Haar hätte er alles verraten.

Natürlich musste Gregor sich auch seinen Anteil an der Misere eingestehen. Er war verdammt dicht davor gewesen, mit Venetia die Grenze zu überschreiten. Weil er nicht im Geringsten darauf vorbereitet gewesen war, wie reizvoll er sie finden würde, wenn er ihr noch näher kam. Auch jetzt zog sie ihn über alle Maßen an, als würde die so abrupt beendete Szene noch zwischen ihnen in der Luft schweben, und als wäre ihre Fortsetzung eine Sehnsucht, die unausweichlich befriedigt werden musste.

Obwohl er versuchte, ihr keine Aufmerksamkeit zu schenken, konnte er doch nicht anders, als zu registrieren, wie sie die Hand hob und sich eine Strähne ihres seidigen Haars aus dem Gesicht strich. Ihre Frisur war ein komplettes Desaster, und er musste lächeln, als er sie betrachtete. Sie schien nun endgültig nicht mehr genügend Haarnadeln zu haben, um die Masse ihrer langen, dichten Haare unter Kontrolle zu bringen. An verschiedenen Stellen hatten sich lange Locken gelöst, fielen ihr in die Stirn und umrahmten ihr Gesicht. Ihre Haare waren viel länger, als er gedacht hatte, vielleicht reichten sie ihr sogar bis zur Taille.

Das war ein höchst interessanter Gedanke - und er zwang sich, ihn nicht weiter zu verfolgen. Als er sich abwandte, bemerkte er, dass Ravenscroft Venetia mit einem bewundernden und sehnsüchtigen Blick anstarrte. Automatisch sah auch Gregor wieder in ihre Richtung, wo die Sonne, die durchs Fenster ins Zimmer fiel, sie in goldenes Licht tauchte. Venetias cremefarbene Haut war ganz zart gebräunt, und die blassen Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken bettelten geradezu um einen Kuss.

In diesem Moment sah er sie wie eine Frau, der er noch nie zuvor begegnet war, und mit einem seltsamen Gefühl in der Magengrube wurde ihm bewusst, dass sie jeden der bewun-dernden Blicke verdient hatte, die Ravenscroft ihr zuwarf.

In der vergangenen Nacht hatte er lange wachgelegen und über das nachgedacht, was zwischen ihm und Venetia geschehen war. Er musste sich endgültig eingestehen, dass die Situation völlig verfahren war. Selbst wenn man seinen beklagenswerten. Mangel an Beherrschung am Vortag außer Acht ließ, war Venetia eine ruinierte Frau. Gregor hatte keinen Zweifel daran, dass die Tochter des Squires London im Sturm nehmen würde. Ihre Schönheit und die Beziehungen ihres Vaters würden sie zur Debütantin der Saison machen, und sie und ihr Vater würden in jedes der vornehmen Häuser, in denen auch Venetia ein und aus ging, eingeladen werden. Venetia würde es nicht vermeiden können, den beiden über den Weg zu laufen, und das hieß, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis Miss West enttarnt wurde.

Auch ihm, dessen war er sich sicher, würde die lautstarke und wortreiche Entrüstung der gesamten Londoner Gesellschaft entgegenschlagen, ebenso Ravenscroft - wenn der Dummkopf dann nicht längst auf dem Kontinent saß, weil er vermeiden wollte, Lord Ulster auf dem Feld der Ehre begegnen zu müssen.

Sie saßen alle drei in der Tinte, und er konnte nichts dagegen tun, dass es nur noch einen einzigen Weg gab, Venetia zu retten - er musste sie heiraten.

Selbst jetzt noch, nachdem er viele Stunden darüber nachgedacht hatte, krampfte sich sein Herz bei diesem Gedanken zusammen. Er hätte sich niemals träumen lassen, unter solchen Umständen zu heiraten, aber es gab keine andere Möglichkeit.

Er musste Venetia über seine Entscheidung informieren und beschloss, sie nach dem Abendessen um ein Gespräch unter vier Augen zu bitten.

„Lord MacLean!“ Der Squire sah ihn erwartungsvoll an.

„Entschuldigen Sie bitte. Ich war gerade in Gedanken versunken.“

Wissend ließ der Squire seinen Blick von Gregor zu Venetia und wieder zurück wandern. „Das schien mir auch so. Ich erwähnte gerade, dass wir morgen abreisen könnten, wenn wir uns zusammentun und die vorhandenen Pferde und die Kutsche gemeinsam benutzen.“

Gregor zwang sich, nicht in Venetias Richtung zu sehen. „Das ist eine hervorragende Idee. Ich möchte so bald wie möglich nach London zurückkehren.“

„Dann sind wir uns ja einig. Wir könnten einen Teil des Gepäcks vorerst hierlassen, und die Herren könnten hinter der einzigen fahrtüchtigen Kutsche herreiten.“

„Auf diese Weise könnten wir in die nächste größere Stadt gelangen“, stimmte Gregor ihm zu. „Irgendwohin, wo wir eine weitere Kutsche mieten können, um damit das restliche Gepäck zu holen. Dann könnten sich unsere Wege trennen.“

„So habe ich mir das vorgestellt.“ Der Squire nickte heftig. Mrs.Treadwell stürmte ins Zimmer. „Es ist eine Katastrophe. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll.“

„Was ist passiert?“, erkundigte sich Mrs. Bloom besorgt. „Mit Elsies Zahn ist es schlimmer geworden, und sie kann das Essen nicht kochen.“

„Oh, wie schrecklich. Vielleicht sollte ich nach ihr sehen“, schlug Venetia besorgt vor.

„Das ist nicht nötig, Miss West. Ich habe ihr eine Menge Laudanum gegeben und ihr eine warme Zwiebel auf den Bauch gelegt, um ihre Schmerzen zu vertreiben. Es sollte mich wundem, wenn sie morgen früh nicht munter wie ein Vogel wäre“, erklärte Mrs. Treadwell voller Optimismus.

Venetia hoffte im Stillen, dass die Zwiebel nicht den von der Rübenwurzel erhofften Segnungen in die Quere kam. „Schläft sie jetzt?“

„Ja. Und mir ist erst jetzt aufgefallen, dass nun niemand da ist, der das Essen kochen kann.“

„Was ist mit Ihnen, Mrs. Treadwell?“, fragte Ravenscroft mit gerunzelter Stirn.

Mrs. Treadwell brach in herzhaftes Gelächter aus. „Ich kann überhaupt nicht kochen. Eine schlimme Enttäuschung für den armen Mr. Treadwell, das kann ich Ihnen sagen, ganz besonders, weil er doch dieses Gasthaus hat und so.“

Aus den Augenwinkeln bemerkte Venetia, dass Gregor plötzlich breit grinste. In seinen dunkelgrünen Augen leuchtete Heiterkeit auf. „Ich frage mich, ob diese traurige Tatsache Mr. Treadwell bewusst war, bevor er Sie heiratete.“

„Er wusste es nicht“, erklärte Mrs. Treadwell fröhlich. „Er hat mich nicht gefragt, und ich habe nichts gesagt.“ Sie sah Ve-netia an und fuhr mit gesenkter Stimme fort: „Das ist für mich keine Lüge, weil ich es mit keinem Wort erwähnt habe. Als wir dann verheiratet waren und er herausfand, dass ich nicht kochen kann, schien er zu glauben, alles, was ich tun muss, ist in die Küche zu gehen, und dann würde es über mich kommen. Nun, ich habe es versucht, das habe ich wirklich, und habe dabei fast das Haus niedergebrannt. Danach beschloss er, Elsie ins Haus zu holen und sie kochen zu lassen, was bis jetzt sehr gut funktioniert hat.“

Gregors Lippen zuckten, und Venetia mischte sich hastig ein: „Vielleicht sollte ich in die Küche gehen und nachsehen, ob ich mit dem Herd zurechtkomme.“

„Was? Ich soll zulassen, dass ein Gast sein eigenes Essen kocht? Nicht im Blue Rooster!“, empörte Mrs. Treadwell sich. „Machen Sie sich keine Sorgen, Miss West. Mr. Treadwell ist jetzt in der Küche. Er sagte, wenn es nicht darum ginge, Leute von Adel zu bewirten, würde er sich einfach vorstellen, dass er für sich selber kocht.“

„Er kann kochen?“, wunderte sich Venetia.

„In gewissem Sinne“, erwiderte Mrs. Treadwell heiter.

„In welchem Sinne denn bitte?“, forschte Gregor in gefährlich höflichem Ton nach der Wahrheit.

Venetia hüstelte, um ihr Lachen zu verbergen.

„Ach, einmal hat er versucht, ein Rebhuhn zu braten, aber er hat es zu Asche verbrannt.“ Munter sah Mrs. Treadwell in die Runde.

„Verdammt“, fluchte der Squire enttäuscht.

„Nun kocht er ein schönes Porridge“, berichtete Mrs. Treadwell stolz. „Damit war er gerade beschäftigt, als ich eben in der Küche war.“

„Porridge?“ Ravenscroft blinzelte ungläubig. „Das ist alles? Nur Porridge?“

Sofort stimmte Miss Platt ein: „Es muss mehr als nur Porridge zum Dinner geben.“

„Nun.“ Unsicher strich Mrs. Treadwell ihre Schürze glatt. „Mr. Treadwell sagt, es gibt Porridge oder gar nichts. “

„Sagen Sie, Mrs.Treadwell“, wandte sich Gregor mit neugieriger Miene an die Wirtin, „hatten Sie schon einmal Gelegenheit, Mr. Treadwells Porridge zu probieren?“

„Ich? Nein. Aber mein Vater hat es einmal probiert, bevor er starb.“

„Wie lange bevor er starb?“, wollte Gregor misstrauisch wissen.

Venetia warf ihm einen warnenden Blick zu. „Achten Sie nicht auf ihn, Mrs. Treadwell. Er macht nur Scherze.“

„Mr. Treadwells Schwester sagt immer, sein Porridge sei richtig leckeres Zeug, und schwört, dass es zwei Wochen lang an den Rippen kleben bleibt.“

„Na, wunderbar!“, spottete Gregor.

„Ich muss zum Dinner noch etwas anderes haben als Porridge“, erklärte nun auch der Squire in entschiedenem Ton.