4. Kapitel
Man sagt, einst hätten die MacLeans versucht, ihren Fluch zum Segen aller zu nutzen und hätten es während einer furchtbaren Dürre auf die Ebenen regnen lassen. Doch es regnete neunundzwanzig Tage lang, und der Regen spülte alles hinweg, was die Dürre übrig gelassen hatte. So ist der Fluch: Niemals gibt er etwas, ohne auch etwas zu nehmen ...
... so sprach die alte Heilerin Nora von Loch Lomond in einer kalten Nacht zu ihren drei jungen Enkelinnen.
Mrs. Treadwell zog einen Schlüssel aus ihrer Schürzentasche und schloss die Tür gleich bei der Treppe auf. „Das ist also Ihres, Miss West! Das zweitbeste Zimmer im Haus.“ Mit großer Geste öffnete sie die Tür und machte den Weg ins Zimmer frei.
Venetia trug ihre Reisetasche und die Hutschachtel, die sie aus London mitgebracht hatte, in die Schlafkammer. Das Zimmer war recht klein. Neben dem Fenster, welches auf den Hof hinausführte, stand ein schiefes Bett. Der Farbton der blauen Gardinen passte zu dem der handgewebten Bettvorhänge und der großen Kissen, die das Bett schmückten. Ein einzelner Stuhl hatte seinen Platz neben dem Waschtisch, auf dem eine abgenutzte Kanne nebst Schüssel stand, beide mit blauen und gelben Blumen bemalt.
Alles in allem war das Zimmer hübscher, als Venetia es erwartet hatte. Das Federbett wirkte zwar klumpig, und bei offener Tür war ein leichter Zug vom Fenster her zu spüren, aber sie war sicher, es würde warm genug sein, und das war das Wichtigste. Sie setzte ihr Gepäck ab. „Es ist sehr schön“, lobte sie ihre Unterkunft.
Mrs. Treadwell strahlte. „Ich habe es selbst nach einem Bild eingerichtet, das ich in Ladies Grace gesehen habe. Sie wissen schon, das Magazin.“ Sie sah sich mit kritischem Blick um. „Natürlich konnte ich nicht ganz genau die Farbe hinbekommen, die die Vorhänge hatten, und das Bett ist nicht so breit wie das auf dem Bild. Aber es kommt der Sache ziemlich nahe.“ „Sind alle Räume hier im Gasthof so hübsch eingerichtet?“, erkundigte sich Venetia.
„Oh, das große Zimmer ist am allerschönsten! Mrs. Bloom und ihre Begleiterin schlafen dort. Sie sind sehr spät gestern Abend angekommen und haben sich deshalb heute am Tag zu einem kleinen Schläfchen hingelegt, sonst hätten Sie sie bei Ihrer Ankunft schon gesehen. Ich denke aber, Sie werden sie nachher beim Essen antreffen, denn Mrs. Bloom gehört nicht zu den Leuten, die Mahlzeiten auslassen, wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Bedeutungsvoll blies Mrs. Treadwell ihre Wangen auf.
Venetia lächelte. „Und wie sieht es mit dem anderen Zimmer aus, über das wir gesprochen haben?“
„Nun, das ist ziemlich klein, besonders wenn zwei Herren darin schlafen sollen. Aber ich dachte doch, es ist am besten, Ihnen dieses Zimmer hier zu geben. Es ist wärmer, weil es direkt über dem Gastraum liegt. Wenn Sie die Steinmauer dort anfassen, können Sie sich die Finger verbrennen, so warm ist sie.“
Mrs. Treadwell warf Venetia einen listigen Blick zu. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dass ich frage - wie ist Lord MacLean denn an eine solche Narbe gekommen?“ Hastig fügte sie hinzu: „Nicht dass es wegen seines Aussehens einen Unterschied macht, denn er sieht immer noch so gut aus wie einer dieser Ritter, die ich mal in einem Bilderbuch gesehen habe.“
„Mit vierzehn hatte er einen Unfall. Er und seine Brüder haben ständig Scheinkämpfe mit dem Florett ausgefochten, und eines Tages, als sie neue Floretts benutzten, löste sich die Knospe, das ist der Aufsatz, mit dem die Waffen unschädlich gemacht wurden, von einem der Floretts. Gregors Bruder bemerkte nicht, dass die Knospe abgefallen war und ... “ Venetia zuckte die Achseln.
Mrs.Treadwell schnalzte mit der Zunge. „Sie waren übermütige Jungs, nicht wahr?“
„Das sind sie immer noch, bis auf einen“, erwiderte Venetia. „Callum, Lord MacLeans jüngster Sohn, wurde vor anderthalb Jahren getötet.“ Noch immer wurde Gregor ganz still, sobald Callums Name fiel.
Wieder schnalzte Mrs. Treadwell. „Es ist sehr schwer, einen Bruder zu verlieren. Ich schätze, das wissen Sie auch, nachdem Ihr eigener Bruder heute fast zu Schaden gekommen wäre. Das macht Ihnen bestimmt noch jetzt zu schaffen.“
„Äh, natürlich. Bis heute schien er mir unverletzlich zu sein. “
„Genauso sehe ich meinen eigenen Bruder, Cyril. Er reitet halbwilde Pferde, macht bei Kutschenrennen mit, unternimmt alle möglichen gefährlichen Sachen, und niemals passiert ihm was.“ Sie schüttelte den Kopf.
„Ja. Genau so ist Mr. West. Nie benutzt er auch nur annähernd so etwas wie gesunden Menschenverstand und ist dennoch fest überzeugt, dass er niemals für seine Dummheiten bezahlen wird, was mir ziemlich auf die Nerven geht.“ Ein leises Knurren ihres Magens erinnerte sie daran, dass sie wegen all der Aufregungen um den Unfall kein Mittagessen gehabt hatte. „Vielen Dank für Ihre Freundlichkeit, Mrs. Treadwell. Darf ich fragen, wann das Essen fertig sein wird?“
„Sehr bald. Mr.Treadwell hat ein Mädchen geholt, das uns in der Küche hilft. Ihr Name ist Elsie, und es gibt weit und breit keine bessere Köchin. Sie werden hier keinen Hunger leiden, Miss! Der ,Blue Rooster, unser Gasthof, ist für seine Gastlichkeit bekannt, und ich werde nicht zulassen, dass sich das ändert.“
„Ich bin sicher, wir alle stimmen in diesem Punkt mit Ihnen überein. Dies ist ein sehr gastliches Haus“, stimmte Venetia ihr freundlich zu.
Mrs. Treadwell strahlte. „Vielen Dank, Miss! Wenn Sie mich nun entschuldigen. Ich werde nachsehen gehen, ob Elsie Hilfe braucht. Ich kann nicht kochen, aber ich kann in einem Topf rühren, wenn’s drauf ankommt.“ Mit einem flüchtigen Lächeln verließ sie das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Venetia ging zum Bett, ließ sich quer darauf fallen und faltete nachdenklich die Hände unter ihrem Kinn.
Sie konnte kaum glauben, dass Ravenscrofts schlecht durchdachte Pläne sie in eine solche Misere gebracht hatten. Noch überraschender war aber der Ausdruck in Gregors Gesicht gewesen, bevor er die Gaststube verlassen hatte. Einen Moment lang, für eine einzige Sekunde, hatte er sie angesehen, als würde er sie begehren.
Bei diesem Gedanken schlug ihr Herz ein wenig schneller. In all den Jahren, die sie Gregor nun kannte, hatte er sie niemals so angesehen. Wenn sie genauer darüber nachdachte, hatte er sie eigentlich überhaupt nicht angesehen. Er schien nie zu bemerken, ob sie ihr Haar geschnitten hatte oder einen neuen Umhang trug oder irgendeine andere Veränderung vorgenommen hatte.
Sie dagegen hatte ihn durchaus bemerkt, und wer konnte ihr das vorwerfen? Er war von einer gefährlichen, von einer geradezu verheerenden Attraktivität. Und schlimmer noch, er wusste es.
Sie nahm eines der Kissen in den Arm, und das vom vielen Waschen dünne Leinen fühlte sich an ihrem Kinn wie Seide an. Zu ihrem Glück, oder vielmehr zum Glück für ihr Herz, hatte Gregor, obwohl äußerlich nahezu perfekt, eine Menge Charakterfehler. Er war arrogant, reizbar und lag ständig im Streit mit seiner Umwelt. Sein schlimmster Fehler war, dass er jede Wohltätigkeit als Zeichen von Schwäche auslegte. Und wenn es etwas gab, woran Venetia glaubte, so war es die Verantwortung der Menschen untereinander.
Gregors positive Seiten machten ihre Freundschaft wertvoll. Er war intelligent, geistreich, hatte ein enges Verhältnis zu seiner Familie und war von einer Ritterlichkeit, die aus einer anderen Zeit zu stammen schien - obwohl er eher gestorben wäre, als sich zu dieser Einstellung Frauen gegenüber zu bekennen. Am wichtigsten war ihr aber, was für ein wunderbarer Freund er war, der sich geduldig ihre Sorgen anhörte und sich rückhaltlos mit ihr über ihre Triumphe freute. Wenn sie vom Pferd fiel, war er sofort zur Stelle, um ihr wieder hinaufzuhelfen, ohne mit einem Wort zu erwähnen, welchem Fehler sie ihren Sturz zu verdanken hatte. Und wenn ihr auf dem Pferd ein besonders guter Sprung über eine Hürde gelang, war er der Erste, der ihr von ganzem Herzen gratulierte, eine seltene Eigenschaft bei Männern, wie sie herausgefunden hatte.
Sie rollte sich auf die Seite und sah zur Decke hinauf, wo sie gedankenverloren einen Riss in Form eines Fragezeichens in dem dicken, weißen Putz bemerkte. Gregor und sie waren sehr erfolgreich darin gewesen, ihre Freundschaft aufrechtzuerhalten, was gar nicht so einfach war, angesichts von Gregors angeborener - wie sollte sie es nennen? - Sinnlichkeit.
Als sie sich an den Blick erinnerte, den er ihr unten im Gastraum zugeworfen hatte, nickte sie. Oh ja, sie würde es auf jeden Fall Sinnlichkeit nennen! Nun, nachdem sie diesen Blick empfangen hatte, begriff sie endlich, warum sich so viele junge Frauen in London seinetwegen zum Narren gemacht hatten. Als er sie so angesehen hatte, hatte sie sich schön, verführerisch, leichtsinnig und ein bisschen wie betrunken von zu viel Punsch gefühlt. Und alles nur wegen eines einzigen, kurzen Blickes.
Gregor besaß die Fähigkeit, Frauen zu faszinieren und zu bezaubern, ohne sich darum zu bemühen. Er war wie ein Rattenfänger, der die Frauen mit den unsichtbaren Fäden einer Melodie einfing, die so wirkungsvoll war, dass manch eine über den Rand der Klippe fiel, bevor sie überhaupt begriff, dass ihr Gefahr drohte. Wieder und wieder hatte Venetia erlebt, wie das geschah, und jedes Mal hatte sie über so viel Dummheit den Kopf geschüttelt. Nun aber verstand sie die anderen Frauen ein bisschen besser.
Von draußen drang ein lauter Ruf in ihr Zimmer, dann hörte sie, wie der Riegel der Stalltür quietschend zurückgezogen wurde. Sie stand vom Bett auf, ging zum Fenster und zog den schweren Vorhang zurück. Als durch die nachlässig eingesetzten Fensterscheiben kalte Luft hereinwehte, erschauderte sie. Sie stürzte sich mit einer Hand aufs Fensterbrett und wischte mit der anderen die beschlagene Scheibe frei. Soeben traf Ravenscrofts Kutscher ein, der auf einem der Kutschpferde ritt und das andere am Zügel mit sich führte.
Der Stallknecht des Gasthauses und Chambers, Gregors Reitknecht, der inzwischen ebenfalls eingetroffen war, kamen aus dem Stall, um dem neu Angekommenen mit den Pferden zu helfen. Gregor stand neben der riesigen Stalltür, bereit sie wieder zu schließen, sobald die anderen mit den Tieren im Gebäude waren. Der Schnee fiel in seine schwarzen Haare und blieb dort eine Weile weiß schimmernd liegen, bevor er schmolz. Sie fragte sich, wie es sich wohl anfühlen mochte, eine Schneeflocke zu sein und in seinem weichen Haar zu landen, genau über jener reizvollen Stelle, wo seine warme Haut im Kragen verschwand.
Ein sanfter Schauer durchlief sie. Hör auf damit, befahl sie sich selbst energisch. Es ist nur Gregor.
Aber „nur Gregor“ war durchaus ein lohnender Anblick. Er trug noch immer seinen Mantel, der jetzt allerdings nicht zugeknöpft war, als hätte er ihn nur rasch wieder übergeworfen. Unter dem offenen Mantel konnte sie seine dunkelblaue Jacke mit den Silberknöpfen sehen, sein schneeweißes Halstuch und die rote Weste mit den dunklen Knöpfen, die seine breite Brust eng umschmiegte. Seine engen schwarzen Reithosen betonten die muskulösen Schenkel, und seine Waden steckten in glänzenden schwarzen Stiefeln.
Die Fensterscheibe beschlug von Venetias Atem, und sie musste ihren Ärmel benutzen, um sie abzuwischen. Diese Bewegung erregte Gregors Aufmerksamkeit. Er drehte sich um und sah hinauf zu ihrem Fenster.
Als ihre Augen sich begegneten, erstarrte Venetia, plötzlich unfähig, sich zu bewegen. Ihr Herz schlug wie wild, in ihren Adern brodelte das Blut. Trotz der Kälte in der Nähe des Fensters brannte ihre Haut, und ihr Atem beschleunigte sich.
Gregors Augen wurden dunkler, und seine Brauen zogen sich leicht zusammen. Obwohl ihr Herzschlag sich in ihren Ohren wie Trommelwirbel anhörte, zwang sich Venetia zu einem ganz natürlichen Lächeln. Es ist nur Gregor. Nur Gregor.
Der Stallknecht sagte irgendetwas zu Gregor, und er wandte sich ihm zu, um ihm eine Antwort zu geben. Der Bann war gebrochen. Venetia trat rasch zur Seite und verbarg sich in den Falten des Vorhangs. Von dort aus war der Blick in Richtung Stall immer noch frei, sie konnte aber von dort, wo Gregor stand, nicht mehr gesehen werden.
Ohne jede Bewegung verharrte sie dort und stellte sich vor, wie er sich wieder umwenden würde, um festzustellen, ob sie noch am Fenster stand. Würde er enttäuscht wirken, wenn er sie nicht sah?Vielleicht wünschte er sich, wie würde zu ihm herunterblicken und...
Was mache ich hier eigentlich? Ich will überhaupt nicht, dass er mich sieht, wie ich ihn anschmachte, als wäre ich eine dieser Idiotinnen, die ihm in London nachrennen!
„Blöder Kutschenunfall“, murmelte sie. Er musste ihr Hirn völlig durcheinandergerüttelt haben.
Zur Beruhigung atmete sie tief durch. Sie schmachtete ihn nicht wirklich an, sie sah einfach nur zu ihm hinunter. Das war etwas völlig anderes. Als sie sich ein wenig vorbeugte, erhaschte sie einen Blick auf Gregor, der sich gerade das Pferd anschaute, welches der Kutscher am Zügel geführt hatte. Gemeinsam untersuchten sie einen der hinteren Schenkel des Tiers.
Besorgt runzelte Venetia die Stirn. Hatte sich das arme Pferd bei dem Unfall einen Muskel verletzt? Nach dem Abendessen würde sie selbst in den Stall gehen und nach dem Tier sehen. Ihr Blick zuckte zurück zu Gregor. Er stand nun neben dem Pferd, einen Arm über den Rücken des Tiers gelegt, sein Gesicht dem Kutscher zugewandt, der eifrig auf ihn einredete und ihm zweifellos den Unfall in allen Einzelheiten beschrieb.
Seufzend stellte Venetia fest, dass es ziemlich unbefriedigend war, so viel zu sehen und so wenig zu hören.
Als ihr Blick auf Gregors Hinterkopf fiel, bemerkte sie, dass sich sein feuchtes Haar erneut über dem Kragen kräuselte. Sie warf den Kopf in den Nacken, zog mit einer energischen Bewegung die Vorhänge zu und hoffte, dass Gregor es bemerkte. Es war verdammt schwierig, mit einem Mann befreundet zu sein, dessen Haar in praktisch jeder Situation besser aussah als ihr eigenes.
Als es klopfte, stand Venetia auf, um zu öffnen.
Vor der Tür stand Mrs.Treadwell, in der Hand einen Wassereimer, aus dem es einladend dampfte. „Ich dachte, Sie möchten vielleicht ein bisschen warmes Wasser, um sich zu waschen.“ Geschäftig eilte sie an Venetia vorbei ins Zimmer und füllte den Krug auf dem Waschtisch aus dem Eimer. „Es war ein aufregender Tag, nicht wahr?“
„Ja, das war es. Es ist wohl nicht möglich ... nein, das geht wohl nicht.“
„Was meinen Sie?“
„Ich fragte mich, ob es möglich wäre, ein heißes Bad zu nehmen“, erklärte Venetia sehnsüchtig. Sie liebte heiße Bäder fast ebenso sehr, wie sie Kuchen mit Schlagsahne liebte.
Mrs. Treadwells unansehnliches Gesicht begann zu leuchten. „Oh, das können Sie, natürlich! Ich besitze eine richtige Kupferbadewanne. Meine Schwester hat sie mir aus York geschickt. Sie hat genau die gleiche, und als ich bei ihr zu Besuch war, sagte ich, ,Oh, ich wünschte, ich hätte auch eine Wanne wie diese! und, ob Sie es glauben oder nicht, im nächsten Jahr schickte sie mir eine solche Wanne! “
„Wie nett von ihr! Ein Bad wäre herrlich.“
„Ich werde Elsie auftragen, das Wasser warm zu machen, während Sie speisen. Das Essen steht schon fast auf dem Tisch. William - das ist Elsies Mann, der bei uns im Stall arbeitet -kann die Wanne und das Wasser hier heraufbringen. Im Nullkommanichts haben Sie ein wundervolles heißes Bad.“
„Ich danke Ihnen sehr.“
„Oh, das ist doch gar nichts. Ich möchte, dass meine Gäste glücklich sind. Das möchte ich wirklich. Vielleicht erzählen Sie dann Ihren Londoner Freunden von uns.“
„Das werde ich ganz sicher tun“, versprach Venetia, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, dass einer ihrer Londoner Bekannten vorhatte, in der nächsten Zeit durchzubrennen. „Ich werde mich rasch frisch machen und dann nach unten kommen.“
„Sehr gut, Miss.“ Mrs. Treadwell ging zur Tür. „Den Rest des warmen Wassers bringe ich jetzt Mrs. Bloom und ihrer Begleiterin. Mrs. Bloom scheint eine Frau von der übel gelaunten Sorte zu sein, ständig beschwert sie sich über dieses und jenes. Sie erinnert mich ein bisschen an Mr.Treadwells Mutter.“ Mrs. Treadwells Miene verfinsterte sich. „Mrs. Bloom hatte doch tatsächlich die Unverschämtheit zu behaupten, die Betten seien feucht. Als ob ich zulassen würde, dass ein Bett in diesem Haus feucht wird!“
„Vielleicht hatte sie heute ebenfalls keinen schönen Tag.“ „Das gibt ihr nicht das Recht, meine Betten feucht zu nennen. Mr. Treadwell und ich hatten in all den Jahren, die wir nun den Blue Rooster besitzen, nicht einen Gast, der so etwas behauptet hat!“
Venetia warf einen prüfenden Blick durch den Korridor auf die gegenüberliegende Tür. Sie war sich sicher, dass derjenige, der sich in diesem Zimmer aufhielt, jedes Wort ihrer Unterhaltung mit Mrs. Treadwell verstehen konnte. Und wenn Mrs. Bloom schon vorher schlecht gelaunt gewesen war, würde sie sehr schlecht gelaunt sein, nachdem sie gehört hatte, wie die Gastwirtin auf dem Flur lautstark über sie schimpfte.
„Ich bin sicher, die Betten sind völlig in Ordnung, Mrs. Treadwell“, beeilte sich Venetia festzustellen. „Vielen Dank noch mal für das warme Wasser.“
Die Frau nickte und wandte sich dann mit hüpfenden Silberlöckchen der Tür auf der anderen Seite des Ganges zu, wobei sie ihre Schultern straffte, als würde sie sich auf einen Kampf vorbereiten. Venetia schloss ihre eigene Tür und beugte sich über ihre Reisetasche, um sie auszupacken.
Sie hatte soeben den Verschluss geöffnet, als sie hörte, wie die gegenüberliegende Tür geöffnet wurde und sich eine Frau mit hoher, schriller Stimme darüber beklagte, dass die Vorhänge nicht richtig dicht seien. Nachdem sie diesen Mangel genaustens beschrieben hatte, verlangte sie zu wissen, was Mrs. Treadwell gedachte, dagegen zu unternehmen.
Es schien, als hätte die Wirtin Mrs. Bloom zutreffend beschrieben. Als die Stimmen nach einiger Zeit schwiegen, wandte sich Venetia wieder ihrer Reisetasche zu.
Jedes ihrer mitgebrachten Kleider war furchtbar zerknittert und, schlimmer noch, nass, weil das Gepäck in den Schnee gefallen war. Da sie in London in größter Eile gepackt hatte, fehlten viele notwendige Dinge. Sie hatte nicht daran gedacht, zusätzliche Haarnadeln mitzubringen, hatte aber bei ihrem Sturz eine Menge verloren. Da sie nicht mit Schnee gerechnet hatte, hatte sie außer den feuchten Stiefeletten, die sie trug, nur leichte Schuhe dabei, die höchst ungeeignet für dieses Wetter waren. Für den Vormittag hatte sie ihr weißes Wickelkleid mit der blauen Schärpe mitgebracht, aber vergessen, passende Bänder für ihr Haar einzupacken. Für Besuche hatte sie ein hübsches graues Kleid bei sich, jedoch keine weißen Handschuhe, und obwohl sie ihre Stickarbeit in die Tasche gepackt hatte, fehlte das Garn, welches wahrscheinlich im Schnee verloren gegangen war.
Das alles war ärgerlich, doch ihr knurrender Magen gestattete ihr nicht, sich mit diesen Problemen zu beschäftigen. Sie breitete die feuchten Kleider im Zimmer zum Trocknen aus, so gut es ging und wählte dasjenige aus, das halbwegs präsentabel war: ein dunkelgrünes Kleid mit einem vorne geschlitzten Rock über einem gestreiften braunen Unterrock, mit langen Ärmeln und einem hohen, runden Kragen. Obwohl auch dieses Kleid zerknittert war, befand es sich in einem besseren Zustand als die anderen.
Nachdem sie sich umgezogen hatte, wusch Venetia sich Gesicht und Hände mit dem angenehm warmen Wasser, fand ihren Elfenbeinkamm (wenn auch nicht den Spiegel) und steckte ihr Haar mit den paar Nadeln hoch, die ihr noch geblieben waren. Während sie ihre braunen Seidenschuhe anzog, stellte sie erleichtert fest, dass sie während der vergangenen zehn Minuten kein einziges Mal an Gregor gedacht hatte, nicht einmal ein winziges bisschen.
Bei diesem Gedanken musste sie lächeln, und sie machte sich erleichtert auf den Weg nach unten. Als sie den Gastraum betrat, ließ sich Ravenscroft gerade in einen der Stühle vor dem Feuer fallen. Sein Gesicht war bleich vor Erschöpfung, seine Kleider zerknittert.
Gregor dagegen war gekleidet, als hätte er sich darauf vorbereitet, in London Besuche in vornehmen Häusern zu machen. Er beugte sich soeben über die Hand einer hochgewachsenen Frau in einem dunkelbraunen Kleid, die ihr weißes Haar auf lächerliche Weise mit einer großen Anzahl von Straußenfedern geschmückt hatte.
Als Venetia den Raum betrat, ging sein Blick sofort in ihre Richtung und glitt vom Kopf bis zu den Zehenspitzen über ihren Körper, wobei er auf ihrer Haut eine prickelnde Spur hinterließ.
Mit heißen Wangen wandte Venetia sich ab und sah sich einer ziemlich unansehnlichen, dünnen Frau gegenüber, die ein schlichtes graues Kleid und matte Perlen trug.
Unverzüglich sank die Frau in einen tiefen Knicks. „Guten Abend“, stieß sie mit atemloser Stimme hervor. „Ich bin Miss Platt.“
Venetia knickste ebenfalls. „Wie geht es Ihnen? Ich bin Miss Venetia O...“
„Miss West“, kam Gregors tiefe Stimme vom anderen Ende des Zimmers.
Venetia zwang sich zu einem Lächeln und schaffte es, Gregor zuzunicken, obwohl ihr Herz wie ein durchgehendes Pferd in ihrer Brust herumgaloppierte, weil sie sich fast verraten hätte. „Lord MacLean.“
Er verbeugte sich. „Es tut mir leid, dass ich Sie unterbrochen habe, Miss West, aber Ihr Bruder und ich haben soeben die Bekanntschaft von Mrs. Bloom und ihrer Gesellschafterin, Miss PI...“
„Miss West“, mischte sich Mrs. Bloom mit lauter Stimme ein, die an ein Artilleriefeuer erinnerte. „Ihr Begleiter erzählte mir gerade, dass Sie in London leben. Darf ich fragen, in welchem Stadtteil?“
Mit einem überlegenen Lächeln verzog die Frau ihre dicken Wangen. „Ich kenne die Stadt sehr gut, denn immerhin lebe ich dort seit mehr als zwanzig Jahren. Ich glaube, ich bin dort mit fast jedem bekannt, nicht wahr, Miss Platt?“
Ihre Gesellschafterin nickte hastig, während ihr Blick nervös zu ihrer Arbeitgeberin und sofort wieder in eine andere Richtung zuckte. „Oh ja“, erklärte sie dabei mit leiser Stimme. „Mrs. Bloom kennt wirklich jeden in der Stadt! Ich pflege zu sagen, dass Mrs. Bloom mit halb London verwandt ist und bei der anderen Hälfte der Bevölkerung auf der Gästeliste steht!“ Venetias Herz wurde schwer. Wenn die Frau tatsächlich ein geachtetes Mitglied der Londoner Gesellschaft war, was immerhin möglich war, wenn sich das Gerede der beiden Damen auch reichlich übertrieben anhörte, konnte es passieren, dass sie bei späterer Gelegenheit aufeinandertrafen. Und dann würde der ganze Schwindel auffliegen.
Vorsichtig schielte sie in Gregors Richtung, um zu sehen, ob er ebenso wie sie die Gefahr erkannte, doch sein höfliches Lächeln trug nicht dazu bei, ihre Sorge zu verringern. Er schien der Situation und ihren möglichen Folgen völlig gelassen gegenüberzustehen. Schweren Herzens zwang sie sich ebenfalls zu einem Lächeln und warf den Kopf in den Nacken. Guter Gott, schließlich und endlich wird mein Ruf nach all dem hier ohnehin ruiniert sein.