21.
Der Brief des Dortmunder Kulturvereins erreichte Marie Mitte September. Sie las ihn Stephan vor:
»Sehr geehrte Frau Schwarz,
haben Sie zunächst herzlichen Dank für das Manuskript Ihres Beitrags ›Aufstieg und Fall eines Richters – Karrierekultur in unserer Zeit‹ und Ihre Anregung, die Dortmunder Bunkeranlagen im Rahmen des ausgehenden Kulturhauptstadtjahres für eine Ausstellung zum Thema ›Justiz und Gewissen‹ zu nutzen.
Die Redaktion unserer Zeitschrift ›Kult-Mund‹ hat lange und sehr kontrovers über Ihren Beitrag und Ihre Idee diskutiert. Allein daran mögen Sie erkennen, dass beides seinen Reiz hat – und zugleich reizt. Ihre Geschichte hat unsere Redaktion gespalten, wie letztlich auch Ihre Idee, die Rechtskultur zum Gegenstand einer Ausstellung in dem alten Stollensystem unter der Dortmunder Innenstadt zu machen. Was einige Redaktionsmitglieder begeisterte, hat die anderen entrüstet. Man mag das als Zeichen deuten, dass Sie – wie man landläufig zu sagen pflegt – den Finger in die Wunde gelegt haben. Als verantwortungsvolle Mitgestalter der Projekte rund um das Kulturhauptstadtjahr sind wir indes dem Ziel verpflichtet, zu einen statt zu provozieren. Deshalb haben wir letztlich beschlossen, Ihren Beitrag nicht in ›Kult-Mund‹ zu veröffentlichen. Verstehen Sie diese Entscheidung bitte nicht als Werturteil über Ihre Arbeit! Sie haben wortgewandt, spannend und facettenreich Beginn und Ende einer Justizkarriere beschrieben. Unsere Entscheidung fußt auf der letztlich von allen Redaktionsmitgliedern vertretenen Ansicht, dass namentlich unsere deutsche Rechtskultur nach den unsäglichen Auswüchsen im unheilvollen Dritten Reich Garant und zugleich Produkt unserer starken Demokratie geworden ist. Es mag vereinzelt Beispiele von Juristen geben, die unserem Staat nicht zur Ehre gereichen. Selbstverständlich wissen wir, von wem die Rede ist, wenn Sie den Protagonisten Ihres Beitrags als ›Richter Gnadenlos‹ betiteln. Und die Dortmunder Juristenschaft erinnert sich auch beschämt des Amtsrichters, der aus dem Fenster seines Hauses auf einen Betrunkenen im Vorgarten schoss. Doch solche Beispiele repräsentieren nicht das Gros der untadeligen Juristen, die auf ihre Art unsere Republik stützen. Wir wollen dafür Sorge tragen, dass in der Öffentlichkeit jener Jurist wahrgenommen wird, der für unser funktionierendes System steht und insoweit leuchtendes Beispiel ist. Aus diesem Grunde wollen wir auch davon Abstand nehmen, eine Ausstellung zum Thema ›Justiz und Gewissen‹ in den alten Bunkeranlagen durchzuführen. Unsere bundesdeutsche, der freiheitlichdemokratischen Grundordnung verpflichtete Justiz gehört nicht dorthin. Verstehen Sie es bitte nicht falsch, wenn wir der Meinung sind, dass die Bunker – sinnbildlich – verschlossen bleiben sollen. Aber wir greifen Ihre Idee gleichwohl gern auf und prüfen, ob wir – etwa im Dortmunder Landgericht – eine Ausstellung über bedeutende Persönlichkeiten aus der Justiz realisieren können, die der Stadt, dem Land Nordrhein-Westfalen und der Bundesrepublik zur Ehre gereichen. An sie zu erinnern, ist Aufgabe aller, die sich unserer Kultur verpflichtet fühlen. In diesem Sinne gebührt Ihnen, verehrte Frau Schwarz, unser innigster Dank.
Mit herzlichen Grüßen
Dr. Frank Muth-Algenau, Vorsitzender der Redaktion ›Kult-Mund‹«
Marie schüttelte den Kopf.
»Glatter geht es wohl nicht. – Zur Ehre gereichen. – Wenn ich schon so etwas lese!«
»Du darfst dich nicht ärgern«, erwiderte Stephan. »Muth-Algenau ist im Hauptberuf Richter am Dortmunder Landgericht. Er will seinen Berufsstand nicht beschmutzt sehen. Aber mit einem hat er sicher recht: Frodeleit repräsentiert nicht das ganze System.«
»Aber es gibt den Typ Frodeleit«, hielt sie dagegen. »Oder erscheint es nur zu irreal, dass ein Mensch auf der einen Seite nüchterner und scheinbar dem Recht verpflichteter Jurist und auf der anderen Seite ein dem Wahnsinn naher Krimineller ist? Frodeleit verbindet mühelos in seiner eigenen Person, was für einen vernünftigen Menschen nicht kombinierbar ist. Darum ist er zugleich zeitlos und in jedes System integrierbar. Solche Typen tragen Diktaturen, Stephan! Es sind einerseits die Frodeleits und andererseits Würstchen wie Löffke, die ihnen zu Willen sind!«
»Du darfst nicht vergessen, dass wir Frodeleit besiegt haben«, sagte Stephan. »Du hast allen Grund, stolz auf dich zu sein.«
»Wir haben allen Grund«, korrigierte sie.
Er antwortete nicht. In ihm bohrte die Erinnerung, sie allein gelassen zu haben, als sie gegen Bromscheidts Terror aufbegehrte.
Stephan nahm ihre weiche warme Hand.
E N D E