10.
Marie nahm die letzte U-Bahn zur Brunnenstraße. Wie so oft in den vergangenen Wochen war es bei den Treffen mit ihren Freundinnen aus dem Studium spät geworden. Jetzt, wo sie alle mit nahezu gleichen Noten abgeschlossen hatten, waren sie unbefangen und entspannt wie zu Beginn des Studiums, als sie sich kennengelernt hatten. Damals trafen sie sich zu Pasta und Wein, weil sie die Lasten des Lernens und der Prüfungen noch nicht kannten. Jetzt verabredeten sie sich, weil der bevorstehende Schritt ins Berufsleben genauso unbeschwert erschien wie damals der Schritt ins Studium. Alles Neue hat einen Zauber und eine Leichtigkeit in sich, der den Blick auf das Reale unwirklich erscheinen lässt. Marie nahm die letzte Bahn ab Stadtgarten und war der einzige Fahrgast. An der Reinoldikirche stieg noch ein Mann zu, bekleidet mit dunklem Wintermantel und Wollmütze. Er nahm im vorderen Zugteil Platz und saß mit dem Rücken zu ihr. Marie wählte ihren Sitzplatz stets in der Nähe der Türen und der Notruftasten. Nächtliches U-Bahn-Fahren bedeutete, immer auf dem Sprung zu sein. Marie hatte gelernt, zwischen friedfertigen Mitfahrern und möglichen Angreifern zu unterscheiden. Wenn ihr jemand verdächtig erschien, wechselte sie den Platz, stand selbstbewusst auf und studierte oberhalb der Türen das schematisiert dargestellte Liniennetz, bevor sie sich woanders wie beliebig hinsetzte, die Beine entspannt übereinanderschlug und lauernd die rückwärtige Gefahr aus den Augenwinkeln im Blick behielt.
Der Zug endete an der Brunnenstraße. Die synthetische Lautsprecherstimme bat die Fahrgäste auszusteigen. Marie trat auf den Bahnsteig. Einige Türen weiter vorn verließ der Mann den Zug, bevor die Schwenktüren dumpf aneinanderschlugen und die Bahn hinter der Haltestelle in ein von hier unsichtbares Abstellgleis fuhr.
Der Mann mit dem dunklen Mantel war Marie vorausgegangen, aber sie sah ihn nicht mehr. Es war still auf dem Bahnsteig. Marie näherte sich der Rolltreppe, die auf die Verteilerebene führte. An der Edelstahlsäule neben der Treppe blinkte in gelber Schrift das Wort ›WARTE‹. Sie wollte gerade durch die Lichtschranken treten, die die Fahrtrichtung der Rolltreppe wechseln ließen, als sich die stählernen Stufen nach unten in Bewegung setzten. Marie blickte nach oben. Jemand wollte die Treppe zum Bahnsteig hin nutzen. Doch sie sah niemanden. Die Treppenstufen leierten schleifend vor sich hin. Sie wartete verunsichert. Die Rolltreppe kam quietschend zum Stillstand. Das Wartesymbol erlosch und wechselte in einen blauen Pfeil, der nach oben wies. Sie betrat die Treppe. Der Handlauf bewegte sich nicht synchron. Er war schneller als die Treppenstufen. Sie versuchte ihn festzuhalten, wie sie es als Kind immer im Kaufhaus gemacht hatte. Doch der Handlauf zog sie mit. Sie lächelte und nahm die nächste Stufe. Einen Augenblick waren Hand und Körper auf einer Höhe, dann zog der schwarze Gummi die Hand weiter nach vorn. Die Rolltreppe spielte mit ihr.
Er wartete am oberen Ende der Treppe. Sie nahm ihn zunächst nur verschwommen wahr. Ein Schatten, der sich über sie warf, während sie ihm entgegenfuhr. Marie sah zu ihm auf, erschreckt und gelähmt und zugleich in kindlicher Hoffnung, dass der Mann nichts wollte, der am Ende der Treppe stand und mit seinen in die Hüften gestützten Armen den dunklen Mantel wie einen Umhang aufgebläht hatte. Unter der schwarzen Mütze grinste ein breiter Mund aus einem Gesicht mit braunem Teint. Die Rolltreppe baggerte sie der Gestalt entgegen. Marie redete ihn unsicher und unterwürfig freundschaftlich an, ängstlich, weil sein Gesicht bedrohlich und unwirklich war und befreit, weil sie ihn erkannt hatte. Der dunkle Geist hatte Namen und Gesicht erhalten. Das Absurde ihres Zusammentreffens in diesem Bahnhof harrte der Auflösung.
»Was machen Sie denn um diese Uhrzeit hier?«, fragte sie so normal, wie sie es konnte, und fügte sich der maschinenhaft arbeitenden Treppe, die sie ihm auszuliefern drohte.
»Hallo?«, fragte sie noch vertrauter und noch ängstlicher, als sie nurmehr wenige Meter von ihm entfernt war.
Er sagte nichts. Die Wollmütze war tief heruntergezogen. Er hielt die Arme nun verschränkt und sah sie unbewegt an. Er grinste nur.
Marie wich erschreckt zurück, stürzte fast, drehte sich um, hastete die Stufen hinunter, der Fahrtrichtung entgegen, übersprang zwei Stufen, stolperte wieder und konnte sich gerade noch fangen. Sie stockte, doch die Rolltreppe ließ ihr keine Zeit. Sie schaufelte sie wieder ihm entgegen. Sie hörte ihn schallend lachen. Als sie endlich am Ende der Treppe festen Boden unter sich hatte, wagte sie einen Blick nach oben. Doch die Gestalt war verschwunden.
Sie wagte nicht, nach oben zu gehen, und starrte ersteinert dort hin, wo sie ihn wie einen Dämon grinsend gesehen hatte. Unten auf dem Bahnsteig war noch immer niemand. Sie hätte über den Bahnsteig gehen und den Ausgang am südlichen Ende nehmen können, aber sie wagte sich nicht dorthin. Er hätte an der Oberfläche zum anderen Ende des Bahnhofs rennen und nun dort am oberen Ende der Treppe stehen können.
Die Rolltreppe am anderen Bahnsteigende setzte sich surrend abwärtsfahrend in Bewegung. Es gab kein anderes Geräusch, nur das monotone Brummen der Rolltreppenmotoren. Marie starrte auf die silbrig glänzenden Stufen, die ihn zu ihr nach unten befördern würden. Eine Stufe fügte sich hinter die andere und verschwand geschmeidig unter der Austrittsfläche. Marie ging ihm wie ein Automat entgegen. Sie würde nicht mehr vor ihm flüchten, sondern sich ihm stellen. Sie durfte sich nicht in die Opferrolle drängen lassen. Sie hatte gelernt, dass man entschlossen auftreten sollte. In ihrer Handtasche wühlte sie mit zittrigen Händen nach der Dose mit dem Reizspray. Sie trug das Spray stets bei sich, wenn sie abends allein unterwegs war. Sie fühlte die kleine Dose in ihrer Tasche, doch dann ließ sie sie wieder los. Was konnte sie wirklich damit gegen ihn ausrichten? Er war sportlich und durchtrainiert, er würde ihr die Dose aus der Hand schlagen und lachen. Das höhnische Lachen hatte sich in sie eingebrannt. Die Angst fraß sich in ihr fest. Sie wollte laufen und konnte nicht. Die Rolltreppe lief ruhig und gleichförmig, die Gummihandläufe glänzten feucht im Neonlicht. Was machte er da am oberen Treppenende? Eigentlich müsste die Treppe längst zum Stillstand gekommen sein. Sie schaltete sich doch sonst immer wieder von selbst ab, wenn sie nicht benutzt wurde. Also stand er wohl oben in der Lichtschranke und löste den Kontakt immer wieder aus. Genoss er es, dass sie ihn jede Sekunde erwarten musste, er die Rolltreppe in Betrieb hielt und damit das leicht schlagende Surren quälend in sie hineinkroch? Warum lief sie nicht zur Notrufsäule, warum machte sie sich nicht vor den Beobachtungskameras bemerkbar? Warum hielt er sie an diesem Platz fest, ohne sie zu berühren?
»Sie können gleich rauffahren.« Der Reinigungsmann auf der Rolltreppe sprach mit hartem osteuropäischen Akzent. Er hielt eine blaue Mülltüte in Händen. »Fassen Sie nicht das Handgummi an! Es ist noch nass. Ich habe alles abgewischt. Es ist wie neu.« Er sagte es eigentümlich stolz.