20.

Am anderen Morgen begleitete ihn Marie in die Kanzlei. Der schon hundertfach mit dem Auto gefahrene Weg von der Brunnenstraße zum noblen Kanzleigebäude in der Prinz-Friedrich-Karl-Straße wirkte merkwürdig unvertraut. Der Gedanke, diesen Weg zum letzten Mal zu fahren, lenkte die Aufmerksamkeit auf Details, die Stephan sonst nie beachtet hatte. Sie hatten in den Morgenstunden darüber beraten, ob er seinen Entschluss wirklich von jetzt auf gleich umsetzen sollte. Wer sollte die Mandate weiterbearbeiten, die er begonnen hatte und in denen der Mandant erwartete, dass er ihn weiterhin persönlich begleiten würde? Marie und Stephan kamen zu dem Schluss, dass auf all diese Aspekte nicht mehr Rücksicht genommen werden konnte.

Sie parkten an der Hinterfront des Kanzleigebäudes. Sie hatten kaum das Gebäude betreten, da fing sie Hubert Löffke bereits im Erdgeschossflur ab.

»Ich warte schon lange auf Sie, Kollege Knobel!« Er knetete nervös die Hände. »Sie kommen doch sonst schon gegen halb neun«, sagte er vorwurfslos. Er war sichtlich erleichtert, Knobel zu sehen. »Kommen Sie rein! – Kommen Sie bitte beide in mein Büro!« Er begrüßte auch Marie. Er war unbeholfen herzlich.

Zu ihrer Überraschung saß Dörthe in Löffkes Büro an dem kleinen Besprechungstisch. Sie hatte sich fein herausgeputzt und trug ein Kostüm, das sie älter und vor allem strenger machte.

»Setzen Sie sich zu uns, Frau Schwarz, Herr Knobel!«, begrüßte sie die beiden. »Ich freue mich so sehr, dass Sie da sind! Es ist eine wichtige Sache zu klären, die keinen Aufschub duldet.«

Sie legte eine kleine Mappe auf den Tisch, die sie bis jetzt auf ihrem Schoß gehalten hatte. Es war die Mappe, die Löffke gestern Abend in Händen hielt.

»Hubert, los!«

Stephan wunderte sich, wie sie zu dirigieren vermochte. Nichts erinnerte an die schwitzende, japsende Dörthe, die sich durch die unterirdischen Bunkeranlagen quälte.

Sie setzten sich und Hubert Löffkes unsicherer Blick auf seine Frau ließ diese sofort wieder die Initiative ergreifen. »Ihnen beiden ist bitteres Unrecht widerfahren«, eröffnete sie und vergewisserte sich mit einem flüchtigen Blick, ob ihr Mann diese Feststellung mit einer Geste zu relativieren versuchte. Doch Hubert saß nur mit hochrotem Kopf still da.

»Sie dürfen davon ausgehen, dass ich über die gestrigen Dinge im Bilde bin. Mein Mann hat mir heute Nacht alles erzählt. Er wird Ihnen jetzt die gefertigten Protokolle über die vermeintlichen Beratungsgespräche geben, dazu auch die CDs, auf denen sie gespeichert sind. Diese Dinge sind dann ein für alle Mal weg. Sie können mit den Unterlagen machen, was Sie wollen; am besten vernichten Sie sie. Das Gleiche gilt für die Fotos von der Villa Stein in Syburg in den dazugehörigen Datenträgern. Mein Mann hat gestern Abend noch ein Protokoll über die Zusammenkunft im Hause Frodeleit geschrieben. Ich darf Ihnen den Entwurf zu lesen geben, den Sie dann ebenfalls zur eigenen Verfügung erhalten, bevor wir dann zur Lösung kommen.« Sie griff in die Mappe, zog ein Schriftstück heraus und übergab es Stephan.

Marie stellte sich hinter ihn und las über seine Schulter mit.

 

Freitag, 05.03., 21.10 Uhr

 

Kollege Knobel hat mich aus dem Hause Frodeleit angerufen. Er bittet um sofortige Hilfe. Ich eile dort hin. Achim Frodeleit sitzt aufgeregt im Wohnzimmer. Er berichtet, dass Knobel über die Terrassentür eingedrungen sei und ihn dann mit einem Messer bedroht habe. Der Geschehnisablauf wird vom Kollegen Knobel auf Nachfrage bestätigt. Er erklärt, dass er sich nicht mehr zu helfen gewusst habe, weil sich seine Freundin sicher sei, dass Frodeleit sie seit einiger Zeit bedrohe. Knobel weiß, dass er sich unrechtmäßig verhalten hat. Er weiß auch, dass es keine Beweise für die Anschuldigungen seiner Freundin gibt. Er wiederholt, dass er davon ausgehe, dass sie sich die Geschichte eingebildet habe. Aber er fühle sich ihr auch verpflichtet. Sie tue ihm leid. Frau Schwarz erwarte, dass er sich endlich für sie einsetze. Knobel versichert, dass er mit Frodeleit nur habe reden wollen. Ihm sei daran gelegen gewesen, dass Frodeleit auf Nachfrage von Frau Schwarz bestätigen könne, dass er von Knobel zur Rede gestellt worden sei. Kollege Knobel sieht darin eine Chance, seine Freundin beruhigen und von ihrem krankhaften und bedrohlich wirkenden Vorhaben abbringen zu können, Frodeleit vor ein Tribunal zu stellen. Kollege Knobel weiß, dass er Frodeleit warnen und vor seiner Freundin schützen muss.

Kollege Knobel berichtet, dass nicht geöffnet worden sei, als er bei Frodeleit geklingelt habe. Dann sei er um das Haus herumgegangen und durch die geöffnete Terrassentür eingedrungen. Plötzlich sei Frodeleit erschienen und habe ihn zur Rede stellen wollen. Daraufhin habe Knobel panikartig ein Messer ergriffen, das auf dem Tisch gelegen habe. Auf mein Zureden wird Knobel ruhiger. Er entschuldigt sich in aller Form bei Frodeleit, der jedoch gleichwohl noch die Polizei holen will. Man kann sich lediglich darauf einigen, dass Frodeleit hierbei nicht die Identität Knobels offenbaren wird. Er will gesichert sein, wenn Knobel neue Attacken gegen Frodeleit fährt. Ich mache den Vorschlag, dass das Schloss zur Wohnungstür von Frau Schwarz ausgetauscht wird, damit diese beruhigt werden kann. Die Befindlichkeiten von Frau Schwarz sollen bedient werden. Es besteht Einigkeit, dass es keinen Sinn macht, sie davon zu überzeugen, dass sie sich etwas eingebildet habe. Möglicherweise, das bestätigt auch Knobel, sei sie ernsthaft krank. Knobel sichert zu, förderlich auf die Stimmungslage von Frau Schwarz einzuwirken. Das Gespräch endet nach etwa einer Stunde.

 

gez. Hubert Löffke, Rechtsanwalt

 

Stephan war während des Lesens puterrot angelaufen, doch Dörthe wehrte mit einer Handbewegung ab.

»Hubert hat sich selbst nicht wohl dabei gefühlt.«

»Wohl gefühlt?«, schrie Marie dazwischen. »Es ist kriminell!«

»Er hat es mir jedenfalls aus freien Stücken gesagt«, fuhr Dörthe ruhig fort, »und wir haben darüber beraten. Hubert wird sich nun wirklich von Frodeleit trennen. Es ist keine Freundschaft, das wissen wir doch alle. Ich persönlich bin sogar glücklich, dass es dazu kommt. Ich will auch mit dieser Verena nichts mehr zu tun haben. Uns verband untereinander ohnehin nichts, was eine Freundschaft auszeichnet. Hubert, ich denke, ich darf für dich sprechen: Mein Mann ist hier in etwas hineingezogen worden und er bekennt sich dazu, ein Stück weit mitgespielt zu haben. Aber jetzt steht er und damit auch Ihre Kanzlei am Scheideweg: Mit Frodeleit weitermachen heißt, sich ihm auszuliefern und die gute Kanzlei zu sprengen, in der Sie beide doch trotz aller Differenzen vorzüglich zusammenarbeiten. Sie sind trotz allem ein Team.«

»Und die Alternative?«, fragte Stephan.

»Die Alternative heißt, der Wahrheit die Ehre zu geben und mich zu Ihnen zu bekennen«, antwortete Löffke mit unbekannt reuigem Unterton. »Wir dokumentieren den gestrigen Abend im Wesentlichen so, wie er abgelaufen ist.«

»Was heißt: im Wesentlichen?«, wollte Marie wissen.

»Wir halten fest, wie Sie dort hingelockt und von Frodeleit bedroht worden sind. Wir halten auch fest, was er mit der ganzen Sache bezweckt. Und insbesondere können wir dokumentieren, dass es sich seitens Frodeleits um die Vortäuschung einer Straftat handelt.«

Löffke grinste. So kannte er seinen Kompagnon.

»Was bezwecken Sie?«, fragte Stephan misstrauisch. »Warum wechseln Sie jetzt die Seite?«

»Bei Lichte besehen bin ich gar nicht mehr erpressbar«, antwortete Löffke ruhig. »Die falschen Rechnungen sind korrigiert und im Bunker ist es zu einer Auseinandersetzung gekommen, in deren Verlauf Büllesbach zufällig zu Tode gekommen ist. Das ist nun einmal die Wahrheit. Und weder ich noch Frodeleit werden in dieser Hinsicht etwas anderes behaupten oder den jeweils anderen bezichtigen. Dort bleibt alles so, wie es von der Polizei protokolliert worden ist.«

»Auch ein Gleichgewicht des Schreckens«, fiel Marie ein.

»Nun, ja!« Löffke lächelte. »Sie dürfen nicht alles so bedeutungsschwanger machen! Außerhalb der Stollengeschichte bin ich, wenn man so will, das Zünglein an der Waage der Wahrheit. Zu wem ich halte, zu dessen Gunsten geht es gut aus.«

»Sie kotzen mich an«, rief Marie barsch.

»Sie sehen mich immer so negativ, Frau Schwarz. Dabei sollten Sie dankbar sein, dass ich mich auf Ihre Seite stelle – und das aus ganz ehrenhaften Motiven. Frodeleit hat sich ja nicht versteckt, Frau Schwarz! Er wollte erkannt werden. Und er wollte, dass Sie, Herr Knobel, in sein Haus kommen. Alles war so gewollt. Sie sollten sich strafbar machen, damit er Sie in Schach halten kann. Ich selbst bin doch eigentlich außen vor. Rechtlich habe ich doch kein Interesse, mich auf die eine oder die andere Seite zu schlagen. Ich tue es allein aus der Erkenntnis heraus, dass es nicht gut ist, einen Herrn Frodeleit weiter zu unterstützen. Er darf nicht weiterkommen. Und ich tue es selbstverständlich, da kann ich Dörthe nur recht geben, um unserer Kanzlei willen. Ich kann mir doch denken, dass Sie gehen wollen, Herr Knobel. Darum haben Sie Frau Schwarz mitgebracht, stimmt’s? Aber das will ich doch gar nicht. Ich will mit Ihnen weitermachen. Karrieremäßig wäre Ihr Fortgang für mich doch gar nicht schlecht. Wenn Sie ausscheiden, heißt die Kanzlei nicht mehr Hübenthal & Knobel, sondern Hübenthal & Löffke. Besser geht’s doch gar nicht. Aber ich will Sie. Das müssen Sie mir glauben, Herr Knobel!«

»Ich kann Ihnen nicht glauben.« Stephan schüttelte den Kopf.

»Sie sollten darüber nachdenken«, bat Dörthe mit mildem Gesichtsausdruck. »Hubert ist immer so hölzern. Ich weiß das. Er wird sich, da bin ich mir sicher, in aller Form bei Ihnen entschuldigen und sich etwas Schönes ausdenken, was als kleiner Ausgleich gelten darf. – Denken Sie daran: Er müsste seine Position eigentlich nicht ändern. Frodeleit hat alles gut eingefädelt. Hubert macht es wirklich aus freien Stücken. Aber ich bin mir sicher, dass er es richtig macht – auch im Sinne unseres Rechts. Die Frodeleits dieser Welt sind auf dem Irrweg. Achim und Verena werden uns keines Blickes mehr würdigen, das wissen wir. Aber wir werden diesen Herrn dazu bewegen können, auf seinen Vorsitz zu verzichten. Ein Richter, der selbst eine Straftat vortäuscht, ist erledigt. Und den Beweis, dass er es getan hat, können wir führen.«

»Es gibt also nicht nur eine Wahrheit der Akten, sondern auch eine Wahrheit der Mehrheit«, folgerte Stephan.

»Nun ja: Aus zwei zu eins gegen Sie sind es zwei zu eins gegen Frodeleit geworden«, stimmte Löffke zu. »Manchmal ist alles eine Frage der Zahl. Aber die Geschichte dahinter ist schlüssig oder finden Sie nicht? Und sie kann von zwei glaubwürdigen Juristen bezeugt werden. Es reicht doch schon die Drohung, dass ich Frodeleit anzeigen könnte …«

Schlüssig. Stephan lächelte. Die Geschichten, die schlüssig waren, beanspruchten die Wahrheit. So dachten Juristen. Büllesbach hatte das schon erkannt.

»Es sollte alles bleiben, wie es ist«, sagte Löffke. »Frodeleit verzichtet auf den Vorsitz, es gibt keine Strafanzeigen und die Kanzlei heißt weiterhin Hübenthal & Knobel. Nur eine Freundschaft zwischen Löffke und Frodeleit wird es nicht mehr geben. Denken Sie an meine Prognose! Sie wird eintreten. Ich wette drauf. – Schlagen Sie auf die Wette ein! So haben wir auch unser Spiel.«

»Für gewöhnlich käme jetzt eine Schlachtplatte auf den Tisch«, meinte Marie spitz.

»Im Leben nicht«, protestierte Dörthe. »Ich bin Vegetarierin.«

»Obwohl Sie in der Fleischerei Ihrer Eltern gearbeitet haben?«, staunte Marie.

»Gerade weil ich in der Fleischerei gearbeitet habe«, antwortete Dörthe. »Manchmal ist die Wahrheit eben eine andere, als es scheint.«

Stephan schlug nicht auf die Wette ein.

Anfang Juni berichtete das Justizministerialblatt, dass Achim Frodeleit aus persönlichen Gründen seine Entlassung aus dem Richterdienst beantragt habe. Löffke warf Stephan triumphierend das Blatt auf den Schreibtisch und grinste.

Stephan schüttelte den Kopf.

»Ich werde mich trotzdem von Ihnen trennen.«

Löffke sah Stephan teilnahmslos an. »Ich habe eine Freundschaft für Sie geopfert, Knobel!«

Er schwieg, dann sagte er leise: »Unsere Trennung wird ein Kampf, Knobel, das wissen Sie.«

Löffke griff ruhig in seine Jackeninnentasche, holte seine Zigarettenschachtel raus, zündete sich eine Zigarette an und zog verhalten daran. Dann verließ er Stephans Büro und zog leise die Tür hinter sich zu.

Stephan blieb nachdenklich zurück. Er wusste, was ihm bevorstand.