16.

Stephan erreichte Frodeleit am nächsten Morgen schon gegen halb neun telefonisch im Gericht.

»Ich erinnere an unser letztes Gespräch«, sagte Frodeleit. »Ich habe kein Interesse an irgendwelchen Kontakten zu Ihnen.«

»Aber ich bestehe darauf, mit Ihnen zu sprechen«, hielt Stephan dagegen. »Ich will eine Klärung. Es geht so nicht weiter.«

»Was geht nicht weiter, Herr Knobel?«, hakte Frodeleit gereizt nach.

»Wie fühlen Sie sich, wenn Sie das Gespenst spielen, Herr Frodeleit?«

»Geht es wieder um die alberne Geschichte in der U-Bahn?« Frodeleit seufzte. »Zeigen Sie den Vorfall endlich an, wenn Sie meinen, Ihre Freundin sei bedroht worden. Wie oft muss ich das wiederholen?«

»Ein Gespräch!«, beharrte Stephan. »Und zwar bald!«

»Aus welchem Grund? Es ist alles gesagt.« Frodeleit drängte. »Herr Knobel, ich habe gleich Sitzung.«

»Ich möchte mir nur über die Dinge klar werden.«

»Über die Dinge klar werden …«, schnaufte Frodeleit. »Ich hoffe, Sie sind in Ihren Schriftsätzen präziser.«

»Wann und wo?«

»Ich will Sie hier nicht im Gericht sehen, Knobel! Und ich will Sie auch nicht bei mir zu Hause sehen.«

»Okay, nennen Sie mir einen neutralen Ort, Herr Frodeleit! Irgendein Café oder sonst was. Heute oder morgen.«

»Ich habe dienstliche Verpflichtungen. Es geht nicht.«

»Geben Sie mir einen Treffpunkt vor!«, beharrte Stephan.

»Um es klar zu sagen: Ich möchte mich grundsätzlich nicht mit Ihnen allein treffen, Herr Knobel. Angesichts der Anschuldigungen, die Sie gegen mich erheben, werde ich es tunlichst unterlassen, mich Ihnen auszuliefern und Ihnen Gelegenheit zu geben, später fälschlich zu behaupten, ich hätte irgendetwas gesagt, was Ihre albernen Thesen stützt. Ich werde mich vor Ihnen schützen, Herr Knobel! Sie sind gefährlich.«

Stephan schluckte. Wie albern erschien ihm jetzt, dass er eben noch glaubte, einen sicheren Beweis auf Frodeleits Anwesenheit in Maries Wohnung gefunden zu haben. Wieder hämmerte die zentrale Frage in seinem Kopf: Warum sollte Frodeleit das Gespenst sein, vor dem sich Marie fürchtete?

Sie schlief noch nebenan. Es war ein tiefer, trunkener Schlaf. Die zwei Flaschen Wein waren deutlich mehr gewesen, als sie je auf einmal zu sich genommen hatte. Ihr Körper verkraftete diese Mengen nicht. Trank sie aus Angst oder aus Frust? Betrinkt man sich, wenn der Mensch, der einen liebt, daran zweifelt, dass man die Wahrheit sagt? Oder umgekehrt: Betrinkt man sich, wenn man sich selbst nicht mehr sicher ist, ob die eigene Wahrnehmung den Tatsachen entspricht?

»Heute Abend erwarte ich meine Senatskollegen zum Essen in meinem Haus, Herr Knobel«, fuhr Frodeleit fort. »Ich werde ein paar Minuten für Sie abzweigen und mich mit Ihnen unterhalten. Wenn ich das tue, dann nur, um in unser beider Interesse die Fragen zu klären, die aus Ihrer Sicht im Raum stehen. Ich will endlich Ruhe vor Ihnen haben, Herr Knobel. Und ich werde einen meiner Kollegen zu dem Gespräch hinzubitten, das sollte Ihnen klar sein. Ich gehe mit den grotesken Vorwürfen, die Sie gegen mich erheben, offensiv um. Sprechen Sie nur frei aus, dass Sie glauben, ich hätte Büllesbach getötet. Nehmen Sie kein Blatt vor den Mund! Ich will, dass alle erfahren, welch aberwitzigen Theorien Sie hier nachhängen. Haben Sie das verstanden? – Kommen Sie gegen neun. Ich will zuerst mit den Kollegen in Ruhe essen.«

»Einverstanden«, sagte Stephan.

»Sie kommen allein«, forderte Frodeleit. »Ich will Ihre hysterische Freundin nicht ertragen müssen. Sie werden das verstehen. Stellen Sie sich vor, ich würde Sie bezichtigen, meiner Frau aufzulauern. Wie würden Sie reagieren, Herr Knobel? – Also, ich erwarte Sie.«

 

Marie erwachte gegen Mittag. Ihr war übel. Das Blut hämmerte in ihrem Schädel, wenn sie sich bewegte. Sie taumelte ins Badezimmer und hielt den Kopf unter die Brause. Das lauwarme Wasser floss durch ihre Haare und rann über ihr Gesicht, aber es erfrischte nicht. Immerhin verschwand der pelzige Geschmack aus dem Mund, als sie die Zähne putzte und mit Wasser gurgelte. Stephan stand angelehnt im Türrahmen und beobachtete sie. Als sie noch nicht zusammen waren und er sie das erste Mal in ihrer Wohnung besuchte, hatte er wie ein Voyeur durch die mattierte Scheibe in der Badezimmertür geschaut, als sie duschte. Er hatte ihren schlanken Körper schemenhaft erkennen können und genossen, wie das Wasser auf ihrer Haut im Schein der Badezimmerlampe wie Sterne funkelte. Sie leuchteten auf und erloschen, während sich Marie unter der Dusche bewegte. Stephan hatte keine konkreten Konturen sehen können. Die aufblitzenden Tropfen waren durch die mattierte Scheibe weich gezeichnet wie ihr Körper. Es war ein sehr erotisches Bild, das sich in ihm eingebrannt hatte. So wie damals sah er sie auch heute noch, wenn er an sie dachte. Es war ein Bild, das unaufdringlich in ihm blieb und viel präsenter war als das kleine Foto von ihr, das in seinem Portemonnaie steckte. Er hatte Marie noch nie so betrunken erlebt. Er sah ihre Unsicherheit, ihre groben Bewegungen, ihre Fahrigkeit. All das würde zu ihr gehören können, wenn sich die Sache nicht klärte. Sie war allein, weil ihre Wahrheit keine war. Sie konnte sie nur mit anderen teilen, wenn sie ihr glaubten. Doch die nur geglaubte Wahrheit war eine unsichere. Wann hörte der andere auf, sie anzunehmen?

»Ich treffe mich heute Abend mit Frodeleit in seinem Haus«, sagte er. »Ich allein.«

Marie stellte das Wasser ab und drehte sich zu ihm um. »Willst du ihn fragen, wie er heute Nacht in die Wohnung gekommen ist?«

»Mit Sicherheit auch das.«

»Lass es!« Sie stellte das Wasser wieder an. »Ich werde es mir eingebildet haben. Das wäre für dich doch eine Erklärung. Wenn man so viel Wein in sich hineinschüttet, ist das kein Wunder.«

»Das Fenster«, sagte Stephan. »Das Fenster stand offen.«

»Du hast es doch selbst aufgemacht, Stephan. Wir haben doch deswegen telefoniert.«

»Du verstehst nicht, was ich meine.«

»Nein, Stephan!«, unterbrach sie ihn. Sie warf den Brausekopf in die Ecke und stürmte aus der Dusche, rannte an ihm vorbei, warf sich aufs Bett, vergrub das Gesicht im Kissen und begann hemmungslos zu weinen. Er setzte sich zu ihr und streichelte sie. Die Sache musste endlich ein Ende finden.

»Warum hattest du nicht von innen abgeschlossen?«, fragte er weich.

»Warum? Warum? Wir hatten uns gestritten, Stephan. Ich habe getrunken. Vielleicht habe ich gehofft, dass du wiederkommst. Vielleicht habe ich es schlicht vergessen. Reicht das nicht als Erklärung? Muss ich schwören, dass es so war?«

»Aber du hattest doch Angst, dass er kommen könnte.«

Sie riss den Kopf aus dem Kissen. Ihr Gesicht war rot und nass. »Verdammt, Stephan, merkst du nicht, was er anrichtet? Wie sollte ich damit rechnen, dass er in die Wohnung kommt, wenn ich da bin? Ich war bescheuert, völlig naiv. – Natürlich: Wenn jemand in die Wohnung eindringen könnte, ist das Erste, dass man von innen abschließt. Ich bin völlig durcheinander. Lass uns jetzt nicht weiter darüber reden. Wir kaufen ein neues Schloss.«

Marie konnte nicht mehr glauben, dass er ihr glaubte.