8.
Eine knappe Woche später betrat Löffke Stephans Büro. Er hatte sich zuvor über das Haustelefon angemeldet und es eilig gemacht. Nachdem er eingetreten war, vergewisserte er sich, dass die Tür zum Sekretariat verschlossen war, das Diktiergerät unbenutzt auf dem Tisch lag und der Telefonhörer auf dem Gerät ruhte.
»Ich verlange von Ihnen über alles, was wir jetzt besprechen, absolutes Stillschweigen, Kollege Knobel. Sie waren im Bunker mein Anwalt. Sie sind es auch jetzt. Anwaltliche Schweigepflicht. Sind wir uns einig?«
»Selbstverständlich«, versicherte Stephan.
Löffkes Gesicht war schweißnass. Stephan merkte, dass er vor Erregung bebte. So wie jetzt sah er aus, wenn er in der Kanzlei etwas aufgedeckt hatte. Löffke galt als der Schnüffler, der akribisch alle Möglichkeiten nutzte, die Sekretariate und auch die angestellten Anwälte zu kontrollieren. In der Regel entging ihm weder jemand, der während der Arbeitszeit eine fachfremde Zeitung las, noch jemand, der seine Arbeitszeit mit Schiffe versenken im Internet vergeudete. Löffke wusste, dass in Zeiten sinkender Umsätze die Verwaltungsstruktur der Kanzlei verschlankt werden musste. Das Wort verschlanken nahm er indes nicht mehr in den Mund, seitdem im Intranet der Kanzlei eine Karikatur aufgetaucht war, die zeichnerisch gekonnt den dicken Löffke nackt mit einer dünnen Akte auf der Waage zeigte. ›Die Akte muss noch schlanker werden‹ stand in der Sprechblase. Er hatte den Urheber nie ausfindig machen können.
»Wir sind Partner der Sozietät«, antwortete Stephan und wählte damit dieselben Worte, die Löffke zu benutzen pflegte, wenn er absolute Vertraulichkeit einforderte.
Löffke zögerte einen Augenblick, dann griff er in seine Anzuginnentasche und überreichte Stephan wortlos einen Brief.
Der Brief war adressiert an ›Kanzlei Hübenthal & Knobel – Herrn Rechtsanwalt Hubert Löffke persönlich/vertraulich‹.
Sehr geehrter Herr Rechtsanwalt Löffke!
Der Tod meines Halbbruders wird, wie es aussieht, ungesühnt bleiben. Ich werde nicht beweisen können, dass sein Tod nicht die Verkettung unglücklicher Umstände ist, wie es die Polizei behauptet. Geht man also von dem offiziellen Ergebnis aus, werden Sie und Ihr Freund unbehelligt davonkommen. Frodeleit wird in Kürze zum Vorsitzenden ernannt werden. Ich fordere Sie auf, dies zu verhindern! Es ist nicht nur für mich und meine Familie, sondern gewiss auch für jeden Bürger, der auf Rechtsstaatlichkeit vertraut, unerträglich, dass Menschen wie Frodeleit ein hohes Richteramt bekleiden, ja, dass sie überhaupt Richter sein dürfen. So, wie Herr Frodeleit ein Schandfleck für die deutsche Justiz ist, sind Sie ein Schandfleck für die Anwaltschaft. Mein Halbbruder ist ein Opfer von Ihnen beiden geworden, aber er ist nur eines von vielen, und Ihre Opfer sind nicht nur diejenigen, die Sie als Mandanten betreuen (welch eigenartiges Wort in diesem Zusammenhang!) und über die Frodeleit gerichtet hat. Frodeleit und Sie haben unabhängig voneinander Menschen Schaden zugefügt. Jeder von Ihnen hat seine berufliche Stellung missbraucht und das Recht mit Füßen getreten, für das Sie sich einsetzen sollten. Es fällt leichter, Ihnen diese Missbräuche nachzuweisen als Frodeleit. Den Richter schützt seine Unabhängigkeit und seine Freiheit der Beweiswürdigung, die es ihm gestattet, auch unrichtige Urteile in eine äußerlich rechtmäßige Form zu kleiden. Auch Ihnen hätte mein Halbbruder längst nicht alle Machenschaften nachweisen können, die Ihr eigenes Berufsverständnis zu prägen scheinen. Sie sind durch und durch korrupt und ausnahmslos auf Ihren eigenen Vorteil bedacht. Eine Ihrer Spezialitäten sind unrechtmäßige Abrechnungen von Mandaten. Zumindest diese Verstöße hat mein Bruder nachweisen können und ich zähle nachfolgend ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige Namen von Mandanten auf, die Opfer Ihrer Machenschaften geworden sind: Hintermeier, Zobel, Flugo, Vierräter, Bansemir, Voßnacke.
Ich werde das von meinem Halbbruder hinterlassene Wissen an die Staatsanwaltschaft und an die Rechtsanwaltskammer weitergeben. Sie wissen, was Sie zu tun haben. Ihrem Kollegen Stephan Knobel habe ich vertraulich eine Kopie dieses Schreibens zukommen lassen. Er ist nach Überzeugung meines Halbbruders ein integrer und aufrichtiger Anwalt.
Britta Stein.
Stephan sah irritiert auf.
»Und? Haben Sie das Schreiben etwa nicht erhalten?«, fragte Löffke.
»Nein«, antwortete Stephan tonlos. »Ich hätte Sie doch sofort darauf angesprochen.«
»Sie erpresst mich, Knobel. Sie bringt die ganze Kanzlei in Gefahr.«
»In erster Linie sind Sie in Gefahr«, korrigierte Stephan. »Was hat es mit diesen Mandanten auf sich, die sie erwähnt? Und wie kommt sie an diese Namen?«
»Wenn ich das wüsste, wäre ich ein Stück weiter. Kann die Stein einen Zugriff auf unser PC-System haben?«
Stephan hob ratlos die Schultern. »Ich habe keine Ahnung. Sie wissen, wie wenig ich von diesen Dingen verstehe. Ist an den Vorwürfen denn etwas dran, Herr Löffke? Sie müssen jetzt ehrlich sein. Wir sind eine Kanzlei. Alle für einen, das sind doch Ihre eigenen Worte.«
Löffke verzog das Gesicht. Sicherlich benutzte er oft diese Redewendung, doch jetzt zwang sie ihn, sich zu offenbaren.
»Unterlaufen Ihnen nie Fehler bei den Abrechnungen?«, fragte er zurück.
»Fehler unterlaufen jedem. Aber hier geht es offensichtlich um Betrug.«
»Ich habe von dem Geld nichts«, verteidigte Löffke. »Es geht alles in den großen Topf. Sie wissen, wie viele hungrige Münder wir zu stopfen haben. Längst nicht jeder Anwalt bringt in unserem Laden das Geld ein, das er kostet.«
Löffke setzte sich vor Stephans Schreibtisch und schlug die Beine übereinander. Er sah seinen Kompagnon gespannt an. Für Löffke stand unzweifelhaft fest, dass er sich richtig verhalten hatte.
»Und Ihr ständiges Prahlen mit den eigenen Umsatzzahlen?«, hakte Stephan nach.
»Ist zugleich eine Motivation für die anderen, mir nachzustreben«, erklärte Löffke. »Jetzt tun Sie nicht so, als würden Sie nicht auch kräftig zulangen, wenn es um die Abrechnung geht. Die Leute wissen doch, dass Anwälte teuer sind. Meinen Sie, da kommt es auf 100 Euro mehr oder weniger an?«
Stephan sah auf die gegenüberliegende Bücherwand. Mit wie viel Liebe hatte er einst die Bücher in das Regal gestellt, stolz darauf, mit seiner Aufnahme als Sozius zugleich zum Chef aufzusteigen und in einem Büro residieren zu dürfen, das die Mandanten beeindruckte. Überall in der Kanzlei herrschte Ordnung. Alles war sauber geputzt und gepflegt. Staub wurde auch von den Büchern entfernt, die nur selten oder nie benutzt wurden. Hinter dieser reinlichen Fassade wucherte ein Geschwür wie Hubert Löffke. Stephan hatte ihn nie gemocht, von seinen unsauberen Methoden mehr geahnt als gewusst und manchmal weggeschaut, als sich seine Ahnungen zum Verdacht erhärteten. Löffke hatte manchmal sogar etwas Sympathisches an sich, wenn er seine allzu offensichtlichen Strategien in dem Glauben verfolgte, dass man seine wahren Absichten nicht durchschauen würde. Stephan hatte sich blind gestellt und Löffke saß nun in der Überzeugung vor ihm, dass er seine unlauteren Methoden wie selbstverständlich gutheißen würde.
»Ich schäme mich für Sie«, sagte Stephan leise. »Und ich weiß, dass es so nicht mehr weitergehen wird.«
Löffkes Augen flackerten nervös. »Was ist plötzlich los mit Ihnen, Knobel?«
»Hat Britta Stein recht?«, fragte Stephan.
Löffke schwieg.
»Also: Sie hat recht«, folgerte Stephan.
»Sie meint es ernst, oder?«, fragte Löffke gereizt.
Stephan nickte. »Ich vermute ja.«
»Hat es Sinn, ihr Geld anzubieten? Was meinen Sie?« Löffke griff nach der Zigarettenschachtel.
»Hier nicht!«, fauchte Stephan.
Löffke pflegte in seinem Büro ständig zu rauchen und insbesondere dann eine Zigarette anzuzünden, wenn sich ein Geschäft anbahnte. Er steckte die Zigarette wieder ein.
Stephan schüttelte verständnislos den Kopf. »Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass Britta Stein an Geld interessiert ist.«
»Sie meinen, wir sollten es nicht einmal versuchen?«, fragte Löffke kindlich naiv.
»Zwecklos! Sie waren doch in ihrem Haus, als wir Bromscheidt besuchten. In diesem Haushalt geht es nicht um Geld, Herr Löffke.«
»Wenn sie ernst macht, bin ich erledigt – und damit auch die Kanzlei«, erwiderte Löffke matt. »So etwas überleben wir nicht.« Er biss sich nervös auf die Lippen.
»Sie werden es nicht überstehen – die Kanzlei schon«, hielt Stephan ruhig dagegen. »Wir kündigen einfach den Sozietätsvertrag.«
»Das meinen Sie nicht im Ernst, Knobel! Wir sind wir – auch in schlechten Zeiten. Sie wissen, dass ich seit Jahren hier den höchsten Umsatz mache. Ohne mich stirbt der Laden.«
In der Tat wies Löffkes Bilanz jährlich die höchsten Umsätze aus. Er war, wie er selbst gern über sich sagte, der Macher. Aber nun war klar, worauf der Erfolg beruhte.
»Sie hängen mit drin«, frohlockte Löffke. »Alle hängen mit drin. Mit mir ertrinken alle. Hinter mir gibt es nur versenkte Schiffe.«
Er war sich nicht zu schade, die Kanzlei, in deren Dienst er immer alles zu tun vorgab, ohne Wimpernzucken zu opfern, wenn es ihm an den Kragen ging. Das Wir-Gefühl, an das Löffke unentwegt mit großen Worten appellierte und doch letztlich nur sein Ego streicheln sollte, forderte er im Niedergang ernsthaft ein. Löffke würde beim Rückzug alles zerstören. Er war zur Kapitulation bereit und würde sie zu einer Riesenhavarie ausschlachten, die alle in den Strudel zog. Löffke war in die Enge getrieben. Jetzt wurde er wirklich gefährlich.
»Sie wissen, was Britta Stein von Ihnen erwartet?«, fragte Stephan.
»Ich soll Achims Beförderung verhindern«, antwortete Löffke. »So ist es ihren Worten zu entnehmen.«
Stephan nahm den Brief in die Hand und überflog die Zeilen auf der Suche nach der entsprechenden Passage.
»Ja«, nickte er bestätigend, »so steht es in Britta Steins Brief.«
»Ich kann die Beförderung nicht verhindern und ich will es auch nicht«, erwiderte er trotzig.
»Aber Sie könnten es, wenn Sie nur wollten«, widersprach Stephan.
Löffke sah ihn verständnislos an.
»Was ist wirklich in dem Stollen passiert?«, fragte Stephan weich. »Sie können es mir ruhig sagen. Denn entweder finden wir eine Antwort auf diese Frage oder die Kanzlei ist, wie Sie sagen, erledigt. Ich muss bekennen, dass ich nicht in Ihrer Haut stecken möchte, Löffke!«
Der Kontrahent saß angespannt vor Stephans Schreibtisch.
»Rauchen Sie nur. Der Qualm vergeht wieder.«
Doch Löffke griff wider Erwarten nicht zur Zigarette.
»Es gibt bei der Polizei ein Protokoll und das gilt«, beharrte er. »Es gibt nichts zu ergänzen und nichts zu berichtigen.«
»Es ist die Wahrheit des Protokolls, Herr Löffke, ich habe das verstanden. Und ich weiß, dass Sie und Frodeleit bis ins Detail den Geschehensablauf abgesprochen haben. Sie haben sich strategisch gut positioniert. Denn Sie wissen ebenso wie Frodeleit, worauf es bei der Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage ankommt. Sie haben es natürlich vermieden, bis ins Detail deckungsgleiche Schilderungen abzugeben. Jeder Anfänger weiß, dass Menschen unterschiedlich wahrnehmen und dementsprechend unterschiedlich akzentuieren. Die Aussagen sind umso glaubhafter, wenn sie im Detail voneinander abweichen. Und das haben Sie und Frodeleit meisterlich umgesetzt. Ich habe mir Ihre Aussagen von der Polizei vorlesen lassen, nachdem ich selbst ausgesagt hatte. Sie stellen den Sachverhalt im Wesentlichen kongruent dar, aber Sie weichen in unbedeutenden Einzelheiten voneinander ab. Da, wo es spannend wird, nämlich an der Stelle, wo Sie Büllesbach aufspüren, beschränken Sie sich auf Schlaglichter, und das gelingt Ihnen vorzüglich, nicht zuletzt natürlich vor dem Hintergrund, dass das Licht der Taschenlampe auch nur Schlaglichter erlaubte. Wenn man Ihre Aussagen studiert, dann sind Sie irgendwann – Sie beide reden von plötzlich – auf Büllesbach getroffen, der Sie in Angriffshaltung erwartete. Wie soll das gehen, Herr Löffke? Mittlerweile wissen auch Sie, dass Büllesbach schwer krank war. Wahrscheinlicher wäre doch, dass Büllesbach nach dem Stromausfall geflüchtet wäre. Mit dem Ausfall seiner elektrischen Anlage, insbesondere der Lichtschranken, hatte er doch sein ganzes Droh- und Gewaltpotenzial verloren. Dieser arme Wicht soll also auf Sie gewartet haben, um Sie anzugreifen?«
»Sie waren nicht dabei«, erwiderte Löffke knapp.
»Dann kam es irgendwie zum Handgemenge«, fuhr Stephan fort. »Wesentlich und übereinstimmend in Ihren Aussagen ist, dass Frodeleits Taschenlampe zu Boden fiel.«
»So war es auch«, bekräftigte Löffke.
»Und dann trat und schlug man sich im Dunkeln«, folgerte Stephan.
»Sie wissen selbst, dass es dort unten pechschwarz ist, wenn Sie keine Lichtquelle haben«, sagte Löffke.
»Aber die Taschenlampe war doch nur zu Boden gefallen«, hielt ihm Stephan vor. »Auch wenn sie nur an die Wand oder wohin auch immer leuchtete: Es war entgegen Ihrer Angaben nicht ganz schwarz. Sie sahen doch etwas.«
»Sie waren nicht dabei«, wiederholte Löffke. »Und seien Sie froh, dass Sie nicht dabei waren. Sie urteilen vom grünen Tisch aus.«
Stephan lächelte. »Aber diese Art des Urteilens ist Ihnen doch nicht fremd. Sie kennen doch die Spruchpraxis des Herrn Frodeleit nur zu gut. – Wie leben Sie mit der Schuld, Herr Löffke? Ein Mensch ist ums Leben gekommen, weil er mit seinem Kopf heftig an einen scharfkantigen Stahlträger gestoßen ist. Wie kam es zu diesem massiven Stoß, Herr Löffke?«
»Ich wäre froh, wenn ich es selbst wüsste.« Löffke rang nach Luft. »Sie wissen doch, dass es heftige Schläge gab. Auch Achim und ich haben reichlich Hämatome.«
»Vielleicht haben Sie sich gegenseitig traktiert, um es nach einer Schlägerei aussehen zu lassen. Wer wen geschlagen oder getreten hat, lässt sich im Nachhinein doch gar nicht mehr feststellen. Geben Sie wenigstens zu, dass Ihnen Büllesbachs Tod nicht ungelegen kam. Er wusste zu viel.«
»Es ist nicht so, wie Sie glauben, Herr Knobel«, begehrte Löffke auf. »Es gab keine Absprachen. Wozu auch? – Im Übrigen geht es um Bagatelldelikte.«
»Merkwürdig, dass Frodeleit genau dasselbe sagt. Er hat Ihnen doch sicher davon berichtet, dass ich ihn im Gerichtsgebäude aufgesucht habe. Haben Sie Ihre Linie abgestimmt?«
Löffke errötete und schwieg.
»Sie schulden mir noch immer eine Antwort«, bohrte Stephan nach. »Wie gehen Sie mit der Schuld um?«
»Dass ein Mensch ums Leben gekommen ist, ist grauenhaft und wird immer in meiner Erinnerung bleiben. Aber Achim und ich haben keine rechtliche Verantwortung. Man hat das Verfahren zu Recht eingestellt. In dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten, diesen Leitspruch kennt doch jeder. In korrekter Anwendung dieses Satzes musste davon ausgegangen werden, dass unsere Version richtig ist. Und sie ist richtig, Herr Knobel, ich schwöre es.« Er schwitzte.
»In dubio pro reo ist ein Grundsatz, dessen Anwendung gerade auf Frodeleit wie Hohn erscheint. Warum ist Frodeleit eigentlich auf dem Rückzug noch einmal in den Stollen gegangen, in dem wir übernachtet haben?«
»Das ist er nicht«, widersprach Löffke.
»Aber so steht es im Protokoll«, log Stephan. »Ich erinnere mich genau.«
Löffke zögerte und sah Stephan lauernd ins Gesicht. »Sie bluffen, Knobel.«
Stephan schüttelte den Kopf.
»Doch, Sie bluffen«, lächelte Löffke entspannt. »Es steht nicht im Protokoll.«
»Sie sind in der Tat gut präpariert«, staunte Stephan. »Aber nur so können Sie sich retten: Jeder von Ihnen muss eisern bei der Version bleiben, die er zu Protokoll gegeben hat. Doch das wird Britta Stein und ihrem Ehemann nicht gefallen. Sie wird Sie köpfen. Denn Ihre Abrechnungsbetrügereien sind nachweisbar. Man muss nur Ihre Akten prüfen. Vermute ich richtig, dass die Namen, die Britta Stein genannt hat, nur die Spitze des Eisbergs sind?«
Löffke griff nun doch zur Zigarette. Das Feuerzeug schnippte. Er tat einen tiefen Zug, blies den Rauch durch die Nase und faltete ein Blatt Papier zu einem Aschenbecher.
»Es gibt noch mehr Akten, ja«, gab er zu. »Ich frage mich nur, wie die Stein an die Daten gekommen ist. Ich hätte wissen müssen, dass die Computer nicht sicher sind. Man hört ständig so was. Eigene Dummheit.«
»Auch hier sind Sie also eher Opfer als Täter«, schloss Stephan.
»Ich bin Realist, Knobel. Es geht um die Kanzlei. Ich sagte es bereits.«
»Wir werden allen betrogenen Mandanten das zu viel bezahlte Geld zurückerstatten«, entschied Stephan. »Sie werden die Mandanten anschreiben und mitteilen, dass Sie sich verrechnet haben.«
»Und dann? Sie glauben doch nicht, dass Sie damit die Halbschwester von Büllesbach zufriedenstellen. Außerdem betrifft es viele Mandate«, setzte Löffke kleinlaut hinzu.
»Sie sind ein Schwein«, stellte Stephan fest.
Löffke zog unbeirrt an seiner Zigarette. »Im Moment haben Sie Oberwasser, Knobel! Aber irgendwann geht es wieder andersherum – und dann wird es Ihnen leidtun, was Sie gerade gesagt haben.«
»Bringen Sie Frodeleit zu Fall und ich denke, Britta Stein wird zufrieden sein«, beharrte Stephan. »Die betrogenen Mandanten entschädigen wir, wie ich es gerade vorgeschlagen habe.«
»Sie sind wahnsinnig, Knobel«, entrüstete sich Löffke.
»Sie haben keine Wahl«, erwiderte Stephan ruhig. »Dass Ihnen und Frodeleit nicht nachgewiesen werden kann, ob und wie Sie Büllesbach malträtiert haben, werden wir nun genau umgekehrt nutzen.«
»Das heißt?« Löffke runzelte die Stirn.
»Sie werden Frodeleit bei der Staatsanwaltschaft der vorsätzlichen Tötung bezichtigen. Sie werden ihn anschuldigen und darstellen, wie er Büllesbachs Kopf mit aller Wucht gegen den Stahlträger geschlagen hat. Gehen Sie damit auch noch an die Presse! Beschuldigen Sie ihn öffentlich!«
Stephan redete sich in Fahrt. »Ja, Löffke, machen Sie es so! Verraten Sie dieses Schwein!«
»Und dann?«, schrie Löffke.
»Dann wird sich Frodeleit revanchieren und Sie anzeigen«, erklärte Stephan. »Er wird wahrscheinlich das Gleiche mit Ihnen machen! Die Staatsanwaltschaft wird die skandalöse Einstellung des Verfahrens zurücknehmen und neu ermitteln. Man wird ohnehin nicht das Gefühl los, dass sich der Umstand förderlich auf die schnelle Erledigung des Verfahrens ausgewirkt hat, dass ein vor der Beförderung zum Vorsitzenden stehender Richter und ein Rechtsanwalt aus einer angesehenen Kanzlei in diesen Fall verstrickt sind.«
»Soll heißen?«, brüllte Löffke.
»Soll heißen«, fuhr Stephan fort, »dass man, wenn sich tatsächlich der Fall nicht weiter aufklären lässt, in Bezug auf Frodeleit in dubio pro reo davon ausgehen wird, dass Sie Büllesbach getötet haben und in Bezug auf Sie in dubio pro reo annehmen muss, dass Frodeleit der Täter war, soweit Sie es nicht beide gemeinsam waren, aber das würde ja keiner von Ihnen behaupten. So kommen Sie beide wieder rechtlich davon, aber der Makel, dass Frodeleit ein Tötungsdelikt begangen haben könnte, wird ihn die Karriere kosten. Oder sind Sie anderer Meinung, Herr Löffke?«, fragte Stephan kalt lächelnd.
Löffkes rotes Gesicht glänzte. »Achim ist mein Freund«, bellte er. »Ich bezichtige ihn nicht einer Tötung, die er nicht begangen hat – und die auch ich nicht begangen habe. Was Sie einfach nicht wahrhaben wollen, Knobel: Es war ein Unglücksfall. Das ist die reine Wahrheit.«
»Selbst wenn es die Wahrheit sein sollte: Sie interessiert nicht. Insbesondere wird sie Britta Stein und ihren Ehemann Peter Stiezel nicht interessieren. Ihren Freund Frodeleit interessiert die Wahrheit oft genug auch nicht. Er verurteilt diejenigen, die er verurteilen will. Er ist einer der Juristen, die in jedem gesellschaftlichen und politischen System Karriere machen. Er ist ein willfähriger Technokrat. Er würde in einer Diktatur mit akribischer Wortwahl und feinsinniger Argumentation alle Unrechtsgesetze anwenden. Die Frodeleits sind die übelsten Systemdiener. In der Nachschau muss man sagen, dass Bromscheidts geplantes Projekt eines der sinnvollsten Projekte ist, die man sich für die Kulturhauptstadt vorstellen kann. Achim Frodeleit ist das Paradebeispiel eines skrupellosen Richters, der in der Ausstellung Justiz und Gewissen‹, würde es sie denn geben, einen zentralen Platz verdient hätte. Sie glauben gar nicht, wie ekelhaft ich diesen Typus finde, der ja leider kein Einzelfall ist. Die Frodeleits dieser Gesellschaft sind die wirklich Gefährlichen. Ein Frodeleit ist intelligent und wortgewandt. Er argumentiert scharfsinnig und widerspruchsfrei, trägt mit Würde seine Robe mit Samtbesatz und darunter das frisch gebügelte reinweiße Hemd – und natürlich den Langbinder. Das ist Ihr Freund, Herr Löffke! Und die Frauen pflegen jenseits der großen Männerfreundschaft ihren jour fixe, trinken Sekt, lesen Frauenzeitschriften und ergehen sich in dümmlichem Geschwätz. Ihre Dörthe ist eine wirklich nette Frau, Herr Löffke. Unten im Stollen hatte ich den Eindruck, dass Sie sich recht nahe waren. Aber wahrscheinlich war das nur das Resultat des Leidensdrucks. Da unten herrschte eine andere Wirklichkeit, jetzt ist wieder alles anders.«
»Sie vergreifen sich, Knobel!« schrie Löffke.
Stephan hatte registriert, dass hinter dem mattierten Glasfenster zu seinem Sekretariat jemand stand. Seine Sekretärin würde den schreienden Löffke hören, aber sie würde auch Stephans immer lauter werdenden Worte verstehen.
»Sie wissen, was Sie zu tun haben«, schloss Stephan. »Britta Stein wird Sie zur Strecke bringen, wenn Frodeleit nicht gestoppt wird. Da bin ich mir sicher.«
Löffke stand auf. Er drückte die Zigarettenkippe auf Stephans Schreibtisch aus. Der blaue Dunst waberte durch das Büro.
»Ich werde das Gefühl nicht los, Knobel, dass Sie in diese Geschichte verwickelt sind. Wenn das so ist, gnade Ihnen Gott.« Er sah Stephan durchdringend und mit blitzenden Augen an. In seinen Schläfen pochte der hohe Blutdruck.
»Es geht hier nur um Frodeleit und die Kanzlei«, antwortete Stephan ruhig. »Nach dieser Geschichte werden wir beide unser Verhältnis klären, Herr Löffke!«