2.
Kurz darauf verließen sie Bromscheidts Villa.
Die aus dem Pool aufsteigenden Dampffahnen wehten wie geisterhafte Windschläuche in die sternenlose Nacht. Marie stieg zu Stephan ins Auto. Durch die Windschutzscheibe beobachtete er Bromscheidt, der Löffke bat, seinen Wagen hinter das Haus zu fahren.
Er hörte, wie Bromscheidt sagte: »Meine Frau wird gleich nach Hause kommen. Sie ist behindert und darauf angewiesen, direkt vor dem Eingang parken zu können.«
Nachdem Löffke den Wagen abgestellt hatte, folgten sie Bromscheidts weißem Van, der vor ihnen schaukelnd den Berg nach Syburg hinauffuhr.
»Bromscheidt scheint ja viel Geld zu haben«, meinte Marie. »Das noble Haus, der dampfende Pool, das riesige Grundstück …!«
»Vielleicht hat er von Haus aus Geld«, sagte Stephan.
»Was hältst du von dem Projekt?«
Stephan zuckte mit den Schultern. »Es hört sich interessant an. Aber ich weiß noch immer nicht, wie er es konkret umsetzen will. Wie soll man die Namen von Richtern oder von Prozessen kennen, die keine Schlagzeilen gemacht haben? Die weitaus meisten Fälle finden in den Medien keine Erwähnung. Wenn sich dort Ungerechtigkeiten verstecken, wird man sie kaum auffinden. Aber Bromscheidt wirkt sehr entschlossen. Ich verstehe nur nicht, warum er sich gerade von Löffke so viel verspricht. Wenn ich jemanden für ein wissenschaftliches Projekt suchen würde, bei dem es auf fundierte und detaillierte Arbeit ankommt, fiele mir Löffke als Letzter ein.«
»Ich habe eher den Eindruck, dass Bromscheidt an Frodeleit Gefallen gefunden hat«, sagte Marie. »Es war ein schöner Zufall für ihn, über Löffke an ihn herangekommen zu sein. Aber ich mag Frodeleit nicht. Er ist ein glatter Karrierist. Der ROLG wird zum VROLG«, frotzelte sie. »Hat Löffke dir gegenüber schon mal von ihm erzählt?«
»Löffke schwärmt gern von Frodeleit«, wusste Stephan. »Er ist sein Spezi. Die beiden sind ganz dick miteinander. Aber ich habe ihn vorher nie gesehen.«
»Dass die so miteinander können!«, wunderte sich Marie. »Löffke ist doch ein ganz anderer Typ. Und dass die Frauen miteinander auskommen, verstehe ich auch nicht. Dörthe Löffke scheint ja ganz nett zu sein. Aber diese Verena gefällt mir überhaupt nicht.«
»Sie ist sehr darauf aus, die Karriere ihres Mannes zu unterstützen«, erwiderte Stephan.
»Ich finde, wir sollten an dem Projekt nicht mitarbeiten, Stephan. Es geht im Zweifel um sehr viel Arbeit, die letztlich an uns hängen bleiben wird. Löffke und Frodeleit werden sich mit den Früchten der Arbeit schmücken, aber in der Sache nicht viel tun wollen. Löffke, weil er für solche Arbeit zu faul ist, und Frodeleit, weil er nicht in den Karrieren anderer Richter rumschnüffeln und Dinge zutage fördern will, die seinem Fortkommen hinderlich sind. Und der kleine Vorteil für mich ist es nicht wert. Und dir hilft das Projekt auch nicht, Stephan! Du hast Löffke doch längst durchschaut. Dass es mit ihm keine berufliche Zukunft gibt, weißt du doch längst.«
Stephan nickte. Natürlich hatte Marie recht. Und sicher ahnte sie, dass er sich damit schwertat, die Kanzlei zu verlassen, die auch seinen Namen trug und ihm immerhin ein stattliches Einkommen bescherte. Allen Auseinandersetzungen mit dem Rivalen Löffke zum Trotz: Die Arbeit machte Stephan immer noch Spaß. Löffkes ständige plumpe Anfeindungen sowie sein unverhohlener Neid auf die deutlich jüngere und hübschere Marie, seine aus Missgunst geborenen Intrigen, das alles unterlag im Laufe der Zeit einem Abstumpfungsprozess. Löffkes Verhalten war kalkulierbarer geworden, und Stephan hatte allmählich in gewisser Weise sogar Freude daran gefunden, seinen Widersacher zu provozieren und auflaufen zu lassen. Ja, ein schlauer Psychologe würde vielleicht den Spieß sogar umdrehen und behaupten, dass er Löffke durchaus mochte und die Auseinandersetzungen zwischen ihnen ohnehin nur von kurzer Dauer und am nächsten Tag vergessen waren.
»Wir sollten zunächst dabeibleiben«, entschied er, und Marie schwieg daraufhin.
Kurz bevor sie die Innenstadt erreicht hatten, überholte Stephan Bromscheidts Auto und parkte sein Auto vor Maries Haus, bevor sie in den weißen Van umstiegen.
Löffke schilderte gerade wortreich, dass er sein Geschäftsergebnis in diesem Jahr noch einmal steigern wolle, Marie verdrehte überdrüssig die Augen. Stephan setzte sich mit ihr ganz nach hinten und hielt still ihre Hand. Er wusste, dass Marie Männer vom Schlage eines Hubert Löffke niemals würde ertragen können. Er hingegen konnte einen solchen Menschen aushalten. War er toleranter als Marie oder war sie nur ehrlicher und geradliniger?
Bromscheidt parkte am Hinterausgang des Hauptbahnhofes. Von hier aus waren es nur wenige Schritte bis zu der in der Nazizeit berüchtigten Alten Steinwache, doch als sie sich auf den Weg dorthin machen wollten, schien Bromscheidt eine andere Idee zu kommen: »Ich würde Ihnen vorher gern noch einen anderen ungewöhnlichen Ort zeigen, den ich ebenfalls in das Projekt mit einbeziehen möchte.«
Auf Frodeleits Nachfrage legte Bromscheidt bedeutungsvoll seinen Zeigefinger auf die Lippen und sagte nur: »Lassen Sie sich überraschen! – Es ist nicht weit von hier. Folgen Sie mir einfach! Ich verspreche Ihnen nicht zu viel. Es sind nur wenige 100 Meter.« Mit diesen Worten eilte er durch den Fußgängertunnel im Hauptbahnhof voraus, dass sie Mühe hatten nachzukommen, verließ das Gebäude durch den vorderen Eingang, stieg die gegenüberliegende Freitreppe hoch und bat sie, ihm in die Schmiedingstraße zu folgen, wobei er sich mehrfach umdrehte und mantramäßig immer wieder rief »Es ist nicht weit!«
Schließlich blieb er vor einer unscheinbaren Stahltür stehen und fingerte einen Schlüsselbund aus seiner Hosentasche.
»Wozu Sie alles Schlüssel haben«, staunte Löffke. »Ich fragte mich schon, wie Sie um diese Uhrzeit in die Alte Steinwache gelangen wollten. Es ist jetzt fast zehn. Die Stadt ist ja schon wie ausgestorben.«
»Ich habe bereits reichlich vorgearbeitet«, erklärte Bromscheidt. »Es hat schon viele Gespräche mit städtischen Stellen gegeben: mit dem Kulturbüro, dem Ordnungsamt und anderen mehr. Das Projekt ist, wenn man so will, längst in der Umsetzung. Und somit verfüge ich auch über viele Schlüssel. – Jetzt aber«, er schloss die graue Stahltür auf, »folgen Sie mir bitte in eine andere Welt.«
Er hielt die geöffnete Tür fest, betätigte innen einen auf dem Putz montierten Lichtschalter und wartete, bis Neonröhren mit ihrem kalten Licht aufflackerten.
Löffke trat ein, zögerte und blieb überrascht stehen. »Das Treppenhaus führt ja nach unten.«
»Ja, das haben Sie richtig beobachtet«, lächelte Bromscheidt. »Jetzt kommen Sie erst mal rein!«
Nun betraten auch Dörthe und die Frodeleits und nach ihnen Stephan und Marie den kleinen staubigen Vorraum.
»Wo sind wir?«, fragte Dörthe.
»Ich mache es noch spannend«, vertröstete Bromscheidt die Gruppe geheimnisvoll und schloss hinter ihnen die Tür.
Sie standen auf einem kleinen Podest, von dem aus eine Stahltreppe nach unten führte. Bromscheidt zog sein Handy aus der Tasche und legte es auf einen kleinen seitwärts stehenden, schlichten Holztisch.
»Bitte legen Sie Ihre Handys neben meines«, sagte er. »Wir besichtigen jetzt ein Stück der Dortmunder Unterwelt. Man darf dort keine elektrischen Geräte bei sich haben, weil die Elektronik Gase entzünden könnte.«
»Gase?«, wiederholte Verena schrill.
Bromscheidt wehrte beschwichtigend ab: »Bitte, es ist nur eine Vorsichtsmaßnahme und eine Auflage der hiesigen Feuerwehr. Legen Sie die Geräte einfach ab! Man kann unten ohnehin nicht telefonieren. Wir kommen gleich hierhin zurück. Es passiert nichts!«
»Was denn für Gase?«, fragte Verena weiter.
»Es ist wie im Bergwerk«, sprang Löffke ein. »Da darf man auch keine Handys mitnehmen. – Müssten wir aber nicht auch Helme tragen?«
»Müssten wir«, nickte Bromscheidt. »Aber wir gehen einfach so nach unten. – Es passiert nichts«, wiederholte er.
»Sagen Sie: Geht es hier zur Hitler-U-Bahn?«, erkundigte sich Löffke. »Ich habe gehört, dass es in Bahnhofsnähe diesen Tunnel geben soll. – Ist es dieser Tunnel?«
Seine Augen leuchteten erregt.
»Sie sind auf der richtigen Spur«, blieb Bromscheidt unbestimmt.
»Ich weiß nicht, wovon die Rede ist«, sagte Frodeleit. »Hubert, was meinst du mit der Hitler-U-Bahn?«
»Der Tunnel hat mit der heutigen U-Bahn nichts zu tun. Soweit ich weiß, gibt es unter der Stadt Bunkeranlagen in Form langer Tunnel, die teilweise schon vor dem Zweiten Weltkrieg angelegt wurden. Der Bevölkerung wurde erzählt, es seien Tunnel für eine spätere U-Bahn. Aber in Wirklichkeit waren die Anlagen Schutzräume für die Menschen im Bombenkrieg.«
»Sie wissen viel, Herr Löffke«, staunte Bromscheidt und vergewisserte sich, dass alle Handys auf dem Tisch lagen.
»Folgen Sie mir nach unten«, rief er. »Ich erkläre Ihnen unten mehr.«
Er nahm einen Stoffbeutel mit klobigen Taschenlampen vom Tisch und ging voran.
Der Weg führte über eine Stahltreppe in einem engen Schacht weiter nach unten. Ihre Schritte hallten auf den eisernen Stufen mit einem unheimlichen metallischen Klang nach. Die trockene Luft roch abgestanden. Die in etlichen Metern Abstand voneinander auf den nackten Beton montierten Neonröhren erleuchteten den Schacht nur notdürftig. Im kalten Lichtschein traten die Schalreste wie dicke, auf den Wänden klebende Narben hervor.
»Wir sind jetzt rund 15 Meter unter der Erde«, erklärte Bromscheidt, als sie unten angekommen waren. »Was die wenigsten wissen: Dortmund verfügt über das größte unterirdische Bunkersystem Deutschlands. Alle würden vermuten, dass sich eine solche Anlage in Berlin befindet. Aber das ist ein Irrtum. Der größte unterirdische Bunker Deutschlands befindet sich tatsächlich hier!«
Er trat wie ein Reiseführer vor die Gruppe und wies mit ausgestreckten Armen in beide Richtungen, in denen sich gähnend dunkle Röhren anschlossen. »Über vier Kilometer reichen die bis zu sechs Meter hohen Gänge des alten Luftschutzbunkers unter der Innenstadt. Bestimmt kennen Sie einige der Zeitungsartikel, die immer wieder darüber berichten, dass geplant sei, die unterirdischen Anlagen einer touristischen Nutzung zuzuführen. Aber diese Ideen sind bislang an verschiedenen rechtlichen Problemen gescheitert. Jetzt, im Kulturhauptstadtjahr, bietet sich die Möglichkeit, zumindest einen Teil der Stollenanlage zu Ausstellungszwecken zu nutzen. Wie Sie sehen, sind die Tunnel ziemlich ausgeräumt. Es befinden sich kaum noch technische Einrichtungen darin, nicht einmal mehr eine Beleuchtung. Teilweise existieren noch Rohrleitungen, mehr nicht. Man muss sich vorstellen, dass bis zu 80.000 Menschen hier unten Schutz vor den Bomben finden sollten. Die Anlagen haben ohne Zweifel etwas Mystisches. Es wäre reizvoll, sie für bestimmte kulturelle Zwecke wieder zum Leben zu erwecken. Vielleicht gibt es jetzt endlich einen Anstoß in diese Richtung.«
Bromscheidt nahm drei Taschenlampen aus dem Stoffbeutel und übergab jeweils eine an Löffke und Frodeleit. Die dritte behielt er für sich.
»Hier weht der Hauch der Geschichte.«
Frodeleit sah sich ehrfurchtsvoll um, als Bromscheidt seine Taschenlampe anknipste und der Lichtstrahl sich vorn in dem dunklen Tunnelgewölbe verlor.
»Es hätte tatsächlich ein U-Bahn-Tunnel werden können«, erklärte Bromscheidt weiter und ließ das Licht seiner Taschenlampe durch das Gewölbe tanzen. »Wie Sie sehen, handelt es sich um einen röhrenartigen Querschnitt. Der Tunnel ist bergmännisch ausgebrochen worden. Die Wände sind mit Stahlprofilen gesichert, teilweise hat man auch betoniert.«
»Hier wollen Sie unsere Ausstellung präsentieren? – Und ich vermute, viel lieber als in der Alten Steinwache«, fasste Löffke neugierig nach.
»Viel lieber!«, gestand Bromscheidt. »Stellen Sie sich vor:
Die Besucher laufen den Tunnel entlang und gelangen, sagen wir mal, alle 50 bis 100 Meter an eine Präsentation als Informationsinstallation.«
»Das ist ja wie ein Kreuzweg«, fiel Frodeleit ein.
»Der Vergleich ist nicht unpassend«, stimmte Bromscheidt zu. »Es ist eine Gelegenheit, ein historisch interessantes bauliches Umfeld mit unserer Thematik zu verbinden. Der Tunnel symbolisiert diese Dunkelheit auf der einen und den Weg nach vorn auf der anderen Seite. Vergessen Sie nicht, dass das Interesse an den Bunkeranlagen in der Bevölkerung sehr groß ist. Der Tunnel wird ein Publikumsmagnet sein. Wir sollten diesen Marketing-Aspekt nutzen.«
»Unbedingt!«
Der Begriff Marketing beflügelte Löffkes Fantasie.
Sie mochten fünf, vielleicht auch zehn Minuten gegangen sein, ohne dass einer ein Wort sagte. Der Gedanke, dass sich hier während des Krieges Tausende von Menschen zusammenzwängten, während oben die Bomben auf die Stadt hagelten, beschäftigte alle, und sie suchten im Lichte der Taschenlampen unwillkürlich nach Spuren dieser dramatischen Stunden, als Heerscharen von Menschen im Bunker verzweifelt Schutz suchten. Doch Bromscheidt hatte recht: Bis auf einige an der Wand entlanglaufende Rohre war der Tunnel leer. Alle weiteren Installationen waren entfernt, ebenso alle Gegenstände, die die Menschen hier unten möglicherweise zurückgelassen hatten.
In kindlicher Neugier hielten sie Ausschau nach Spuren dieser wirren Zeit. Vergeblich. Obwohl der Tunnel eigentümlich neutral war, wirkte er bedrohlich und fremd – ein stummer Zeuge einer düsteren Vergangenheit. Der Krieg war förmlich zu fühlen.
Bromscheidt leuchtete flüchtig auf seitlich angebrachte eiserne Zaunflügel. »Ein Bauzaun«, erklärte er. »Es sind immer wieder Leute in den Stollen eingebrochen; daraufhin hat man den Tunnel in einzelne Sektionen aufgeteilt. Man kann ja verstehen, dass all dies einen Reiz ausstrahlt.«
Mit diesen Worten richtete er die Lampe in die Höhe und sie stellten fest, in einen mehrere Meter hohen Raum gelangt zu sein, die ihre Stimmen übermäßig hallen ließ, sodass sie ihnen selbst monströs fremd erschienen.
»Es ist so etwas wie eine Kreuzung«, fuhr Bromscheidt fort und wies in einen nach rechts durch eine Stahltür abzweigenden kleineren Querstollen mit deutlich kleinerem Profil.