17.

Stephan erreichte Frodeleits Haus in Lücklemberg kurz vor halb neun abends. Er hatte sein Auto in der Seitenstraße geparkt und ging die letzten Meter zu Fuß. Die Frodeleits besaßen einen verklinkerten Bungalow im Wendehammer einer Sackgasse. Eine schmale Treppe aus Waschbetonstufen führte hinauf zur gläsernen Wohnungstür. Ein dicker Wollvorhang versperrte den Blick durch die großflächige, bräunlich getönte Scheibe. Oberhalb und unterhalb fiel etwas Licht nach draußen. Von innen hörte Stephan ein undeutliches Stimmengewirr, dazwischen auch kurzes Gelächter. Frodeleits Gäste, dachte er. Stephan drückte die Klingel und wartete. Es tat sich nichts. Er klingelte wieder. Innen wurde laut gelacht. Er griff zu seinem Handy. Frodeleits Nummer war ihm nicht bekannt. Er fragte die Telefonauskunft, doch Frodeleits waren dort nicht registriert. Das Stimmengewirr schwoll von der Seite her an, so, als hätte jemand dort ein Fenster geöffnet. »Wir müssen die Sträucher nachschneiden«, hörte er Frodeleit heraus. Es war, als ob Bierflaschen in einen Kasten fielen. Dann wurde wieder gelacht. Stephan klingelte ein letztes Mal, dann ging er zur Straße zurück und hielt sich links, entlang einer kleinen Hecke, die das Grundstück einfriedete. Die Hecke führte im rechten Winkel von der Straße weg, von einem Pfad begleitet auf den hinteren Grundstücksteil. Stephan ging weiter. Links führte eine Außentreppe in den Keller.

Dann stand er auf der geräumigen Terrasse. Die Stimmen und das Gelächter waren unverändert laut, doch er sah niemanden. Er stolperte über einige herumliegende Holzscheite, die offenbar für den Kamin bestimmt waren. Stephan blieb irritiert stehen. Eine große Panoramascheibe links und eine Schiebetür einige Meter vor ihm, die rechtwinklig zum Fenster stand, schlossen die Terrasse ein, die von dem Flachdach überragt wurde. Hinter der Schiebetür und hinter dem Fenster hingen ebenfalls Vorhänge. Woher kamen die Stimmen? Jetzt hörte er sie noch deutlicher als auf der Straße. Stephan sah sich unsicher um. Zur Gartenseite hin sah er eine dunkle Wand aus hohem, dichtem Gebüsch, davor eine kleine Rasenfläche, die im Mondlicht bleich schimmerte. Er hörte ein Klopfen an der Scheibe. Erschrocken wandte er sich um und suchte die großflächige Scheibe ab. Hinten, kurz vor der angewinkelten Schiebetür, fiel ein schmaler Lichtstreif nach draußen. Der Vorhang bewegte sich etwas. Stephan sah, dass die Tür nicht ganz geschlossen war. Er schlich dorthin, fasste an den Türgriff, schob die Tür und dann den Vorhang etwas zur Seite. Vor ihm stand ein gedeckter Tisch. Eine Kerze auf einem langstieligen Ständer schob sich in seinen Blick, daneben eine Schüssel mit buntem Salat. Der Tisch war feierlich gedeckt, eine große weiße Decke fiel bis zum Boden.

»Hallo?«

Er wagte keinen Schritt nach vorn. Die Stimmen schienen nicht aus dem Wohnzimmer zu kommen, vor dem er stand. Links hinten konnte er die Diele sehen. Musste dort nicht die Wohnungstür sein, an der er vergeblich geklingelt hatte? Er öffnete die Tür etwas weiter. Da war noch ein anderes Geräusch. Es klagte gegen die heiteren Stimmen an. Wieder einige Lachsalven, aber das andere Geräusch stach dazwischen. Es kam woanders her, vom Tisch. Stephans Blicke irrten suchend umher. Die Kerzenflamme flackerte. Ein Luftzug strich ihn von hinten. Er wich zurück, wandte sich um, doch indem er es tat, fiel ein Stuhl an der gegenüberliegenden Seite des Tisches um. Das Tischtuch glitt ein Stück nach hinten weg; es schien, als würde es von einem Strudel verschluckt. Die Kerze fiel um und das Besteck klirrte. Stephan beugte sich im Reflex über den Tisch. Die Hand, die sich ihm entgegenstreckte, war blutig. Stephan schrie auf. Verena lag gekrümmt auf dem Teppich hinter dem Tisch. Ihr Pullover war von Blut durchtränkt, das Gesicht zur Fratze verzerrt.

»Frau Frodeleit!«

Sie röchelte, die Hand fiel schlaff zurück. Stephan griff zitternd nach seinem Handy, doch bevor er es fassen konnte, merkte er den Schatten, der von hinten auf den Tisch fiel. Stephan griff intuitiv auf den Tisch, erfasste wie ein Automat ein Messer und umgriff es zittrig, so gut er konnte.

Frodeleit grinste. Er hatte eine Waffe in der Hand. »Auf Sie ist Verlass! Sie sind pünktlich. Ich mag diese Tugenden – und zugleich hasse ich sie. – Kennen Sie das? Tugenden haben den Muff der biederen Verlässlichkeit – man schätzt sie und zugleich bekennt man sich nicht offen zu ihnen.«

Er bedeutete Stephan mit einer Handbewegung, zur Seite zu gehen. Stephan hielt verkrampft das Messer.

»Es steht Ihnen nicht, Herr Knobel! Los, setzen Sie sich.«

Er deutete auf die Sitzecke hinter der Panoramascheibe.

»Los, legen Sie das Messer und Ihr Handy auf den Tisch!« Er fuchtelte mit der Waffe.

Stephan tat mechanisch, was er wollte. »Ihre Frau …!«

Frodeleit stellte sich in die Terrassentür und schloss die Tür, bis nur ein kleiner Spalt offen stand. »Verena geht es gut«, grinste er.

Stephan sah entgeistert, wie sie aufstand. Ihr fehlte nichts. Ihre Hand und ihr Pullover waren blutrot.

Sie lächelte. »Nun setzen Sie sich doch mit meinem Mann gemütlich hin!«

Verena verschwand in Richtung Diele. Kurz darauf hörte Stephan Wasser rauschen. Sie würde sich die rote Schminke im Bad abwaschen.

Frodeleit schob Stephan zur Sitzecke vor sich her. Sie nahmen Platz. Stephan war wie gelähmt.

»Wie es aussieht, sind Sie bei mir eingedrungen und haben mich bedroht, Kollege Knobel!«, resümierte Frodeleit. »Die Spurenlage ist eindeutig. Sie haben von außen die nur angelehnte Terrassentür geöffnet und hier ein Messer ergriffen, um mich zu bedrohen. Die Fingerabdrücke auf der Klingel werden wir wieder abwischen und dann selbst ein wenig bei uns klingeln. Wir machen uns hier ja wechselseitig auf, wenn wir beim Einkauf waren.« Er grinste wieder.

»Was wollen Sie?«, fragte Stephan tonlos.

»Sie wollten mich für die Fantasien Ihrer Freundin zur Rechenschaft ziehen, Kollege Knobel. Deshalb sind Sie hier. Sie können es nicht ertragen, dass Frau Schwarz nervlich durchdreht. Vielleicht wollten Sie hier den ominösen dunklen Mantel finden. Wer weiß? Ich befinde mich in einer Notwehrlage, Herr Knobel! Sie sind hier eingedrungen. Denken Sie an die Spuren!«

»Sie haben mich reingelockt.«

Frodeleit hob die Augenbrauen. »Es waren Stimmen von unserem letzten Sommerfest. Mögen Sie auch diese Atmosphäre der Sommerfeste, wenn alles stimmt? Fröhliche Gäste, leckeres Bier, Köstlichkeiten vom Grill, draußen sitzen bis in die Nacht, lauer Sommerwind. Das ist Genuss, Kollege Knobel, oder irre ich mich? – Wir lassen diese Aufnahmen sonst während unserer Abwesenheit automatisch als Schutz gegen Einbrecher laufen. Zusammen mit der wechselnden Beleuchtung ist es nicht ohne Wirkung, glaube ich.«

Er lachte. »Es machte uns großen Spaß, Sie zu erwarten. Haben Sie die kleine Kamera links oben vom Eingang entdeckt? Wir haben Sie beobachtet, Herr Knobel!«

Stephan blieb still.

»Eine Notwehrlage«, wiederholte Frodeleit. »Stellen Sie sich vor, ich würde Sie jetzt erschießen. Was sagen die Spuren über Sie, Herr Knobel? Meine Frau war ja gar nicht zu Hause. Der rote Pullover wird irgendwo weitab von hier entsorgt. Den findet keiner. Die rote Fingerfarbe verschwindet spurlos. Auf dem Teppich findet sich kein Tropfen Farbe. Und Faserspuren, die davon zeugen, dass meine Frau dort einmal gelegen hat …?« Er lachte. »Was wird passieren, wenn ich Sie erschießen werde? Glaubt man mir die Notwehrlage?«

»Es ist aberwitzig!«

»Aberwitzig?« Frodeleit tat enttäuscht. »Das ist nicht aberwitzig, Herr Knobel. Wenn die Justiz gegen sich selbst ermittelt, gelten andere Grundsätze. Es gibt hinreichend Beispiele. Und es gibt sogar Fälle, in denen Richter in fragwürdiger Notwehrlage gehandelt haben. Schauen Sie in die Geschichte. Denken Sie an den Fall aus den 8oer-Jahren, als ein Dortmunder Amtsrichter aus dem vergitterten Fenster im ersten Stock seines Hauses auf einen Betrunkenen schoss, der sich in seinem Garten befand und den der Kollege für einen Einbrecher hielt. Lesen Sie die Zeitungen von damals nach! War es wirklich Notwehr? Ich weiß es nicht. Aber ich behaupte, dass die Justiz vor dem Gesetz besser wegkommt als der Normalbürger. Jeder Richter denkt doch: Der, über den ich urteile, ist einer wie ich. Da kommt automatisch eine Sympathie auf, finden Sie nicht?«

»Es wird zu denken geben, wenn Sie binnen kürzester Zeit in zwei Verbrechen verstrickt sind. Erst Büllesbach und dann ich, das werden Sie nicht erklären können, Herr Frodeleit. Nicht einmal Sie.«

»Sie sind dem Wahn erlegen, dass ich Büllesbach umgebracht habe, Herr Knobel. Aber das ist nicht wahr. Gleichwohl erpressen Sie mich und Löffke mit diesem bloßen Verdacht. Wir haben ihn nicht getötet. Aber Sie töten mich, Herr Knobel. Sie töten meine Karriere. Justizkarrieren können allein schon durch Gerüchte zerstört werden. Deshalb war es ratsam, die Bewerbung um den Vorsitz zunächst zurückzuziehen. – Und jetzt versteigen Sie sich in den Glauben, ich bedrohe Ihre Freundin.«

»Sie waren es, Herr Frodeleit! Marie bildet es sich nicht ein. Und Sie waren auch nicht nur in der U-Bahn-Haltestelle, sondern auch in ihrer Wohnung.«

»In der Wohnung der Frau Schwarz?« Frodeleit legte die Stirn in Falten. »Das müssen Sie mir erklären, Kollege Knobel.«

»Sie haben ihr eine vermeintliche Stellenzusage geschickt und diese dann wieder aus der Wohnung geholt. Dass Marie sich bewirbt, wussten Sie aus unserem ersten Gespräch mit Büllesbach. Da hat Löffke es erwähnt. Es ist mir erst jetzt wieder eingefallen. Und einen Briefbogen der Bezirksregierung Arnsberg zu besorgen, dürfte für Sie nicht schwer sein. Irgendwo in Ihrem Justizpalast in Hamm finden sich auch Briefe der Bezirksregierung, deren Briefbogen Sie herauskopiert haben.« Stephan nickte. »Ja, ich bin mir sicher, Sie waren auch gestern Abend in ihrer Wohnung. Ich weiß es.«

»Was wollen Sie denn eigentlich wissen, Herr Knobel?«

Stephan schwieg.

»Sie können nur bluffen, weil Sie es nicht wissen können, Herr Knobel. Sie sind einer gefährlichen Idee aufgesessen.«

Frodeleit betrachtete nachdenklich seine Waffe.

»Es ist ein Erbstück meines Vaters, wissen Sie. Nichts Besonderes, aber tauglich. Als Richter sollte man so etwas im Haus haben. Selbstverständlich mit Waffenschein. Den habe ich. – Also, Herr Knobel! Ich werde Sie, glaube ich, nicht erschießen, aber ich will den Vorfall aktenkundig haben. Ich will dokumentiert haben, dass Sie hier eingedrungen sind. Rufen Sie Ihren Anwalt an! Holen Sie Löffke hinzu!«

Er stand auf, holte Stephans Handy, reichte es ihm und blieb mit der Waffe neben ihm stehen.

»Wir klären das, Herr Knobel! Holen Sie Löffke und niemand anderen!«

Stephan drückte die entsprechende Kurzwahltaste. Nach dem Gespräch nahm ihm Frodeleit das Handy wieder ab.