5.
Stephan und Marie wurden am nächsten Montag als Zeugen vorgeladen.
»Ein mehr als ungewöhnlicher Fall«, eröffnete der Beamte die Vernehmung. »Auch wenn Sie ebenso wie Frau Löffke und Frau Frodeleit nicht mitbekommen haben, wie die Geschichte im Stollen zu Ende ging, brauchen wir Ihre Aussagen, um die Sache abschließen zu können. Wir wissen, dass die elektrische Anlage durch einen Kurzschluss in dem Stollen, wo Sie vorher die Nacht verbracht haben, lahmgelegt wurde. Und zwar ausgelöst durch eine ausgelaufene Wasserflasche, deren Inhalt in einen Heizlüfter gelangt ist. Herr Frodeleit war kurz vorher in diesen Stollen gelaufen, nachdem sich die Situation in der Halle wohl zugespitzt hatte. Soweit wir wissen, ist er dort hineingegangen, um nachzudenken. Wie er und Herr Löffke berichtet haben, hatte Büllesbach den beiden vorgeworfen, gemeinsam zu seinem Nachteil gehandelt zu haben.«
Stephan wunderte sich über die gestelzte Ausdrucksweise des Beamten, doch dieser fuhr unbeirrt fort: »Herr Löffke, der ihn in einem Verfahren wegen Leistungserschleichung verteidigt hatte, soll ihn in Absprache mit dem damaligen Richter, Herrn Frodeleit, verraten und seine Verurteilung hingenommen haben, obwohl er immer wieder beteuert habe, das Lösen der Fahrkarte lediglich vergessen zu haben, also kein Vorsatz vorläge. Wir haben die damaligen Akten inzwischen beschaffen können. Tatsächlich ist Büllesbach vom damaligen Richter Frodeleit wegen dieses Delikts zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Aus Büllesbachs Umfeld wissen wir, dass er über diese Sache nie hinweggekommen ist und immer wieder damit gedroht hat, eines Tages die, wie er sich ausdrückte, Verräter und Rechtsbeuger zur Verantwortung zu ziehen. In diesem Zusammenhang nannte er die Namen seines Anwalts Löffke und des Richters Frodeleit.«
»Welches Umfeld meinen Sie?«, fragte Stephan dazwischen.
»Seine Halbschwester Britta Stein und deren Mann. Sie sind übrigens Eigentümer des Hauses, in das Sie Büllesbach am Abend der Tat eingeladen hat. Büllesbach sollte während ihrer Abwesenheit das Haus hüten. Das machte er schon seit Jahren. Britta Stein und Peter Stiezel, sein Schwager, sind jedes Jahr von November bis Februar in ihrem Haus auf Fuerteventura. Büllesbach zog gewöhnlich für diese Zeit in das Haus, pflegte und bewachte die Anlage und kümmerte sich um alltägliche Dinge. Auch noch während seiner Krankheit.«
»Krankheit?«, fragte Marie.
»Büllesbach war krebskrank«, erklärte der Beamte. »Nach der Prognose der Ärzte hätte er nicht mehr lange gelebt. Die Chemotherapien schlugen nicht an.«
»Deshalb hatte er keine Haare«, nickte Stephan. »Und deshalb sah er so käsig aus.«
»Wir vermuten, dass ihn diese Prognose auch zur Tat getrieben hat. Er wollte in seinem Leben noch mit den Personen abrechnen, die sich, wie er es nannte, gegen ihn verschworen hatten.«
»Haben Sie mal daran gedacht, dass er mit seinen Behauptungen recht haben könnte?«, fragte Marie weiter.
»Recht?« Der Beamte zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Ich denke, man sieht allein an seiner Tat, wozu er fähig war. Es ist schon merkwürdig, wenn jemand Rechtsstaatlichkeit für sich reklamiert und gleichzeitig den Rechtsstaat mit massiver Freiheitsberaubung tritt. Sehen Sie, wir haben doch alle Aufzeichnungen von Büllesbach ausgewertet. Es ist ohne jeden Zweifel, dass er Frodeleit und Löffke vorführen wollte. Wir dürfen doch nicht ernst nehmen, was Frodeleit und Löffke in ihrer Not da unten gesagt haben. Büllesbach hat Frodeleit gegen Löffke gehetzt, um anschließend Frodeleit zu opfern. Er ist ganz geschickt vorgegangen. Unser Psychologe sieht es nicht anders. Alles, was der Richter dem Anwalt und der Anwalt dem Richter vorgeworfen hat, ist doch aus der Angst erwachsen, dass Büllesbach ihnen etwas antun könnte. In so einer Zwangslage gesteht man schnell Taten, die man nicht zu verantworten hat. Frodeleit und Löffke haben hierzu auch schon eindeutig ausgesagt. An ihrer Glaubwürdigkeit bestehen keine Bedenken. Löffke ist Ihr Kollege, Herr Knobel! Ihre Kanzlei hat einen untadeligen Ruf. Das mit den Gebühren haben wir noch nicht weiter überprüft. Löffke gilt in Anwaltskreisen als gut, aber teuer. So ist das eben. Und über Herrn Frodeleit brauchen wir auch keine weiteren Worte zu verlieren. Sie wissen, dass er in Kürze zum Vorsitzenden am Oberlandesgericht berufen werden soll. Wir haben in der Personalakte die dienstlichen Beurteilungen über Frodeleit gelesen: alles erstklassig. Man geht allgemein auch davon aus, dass der Vorsitz beim Oberlandesgericht nicht das Ende der Karriere sein wird. Wer weiß, was aus dem noch alles wird«, meinte der Beamte. »Eine solche Koryphäe wird vielleicht noch Gerichtspräsident oder so was. Bei solchen braucht man gar nicht weiter tief zu graben. Auf solche Leute wartet die Justiz. Untadelige Menschen also, die wie Sie in die Hände eines Wahnsinnigen geraten sind. Ausgeliefert einem Terrorsystem, aufgebaut aus elektronischen Bauteilen und Metallteilen aus dem Handel im Wert von vielleicht 1.000 Euro.«
»Es gab also keine wirkliche Gefahr?«, fragte Marie.
Der Beamte lachte. »Nein, es gab zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr. Büllesbach hatte, durchaus mit erheblichem Geschick, alle möglichen elektronischen Effekte eingesetzt. Die Lichtschranken waren echt, aber sie lösten nur weitere Spielereien wie den Funkenregen an der metallischen Sperre aus, kombiniert mit einem Brummen, wie man es vom Gewitter her kennt, wenn sich der Blitz auflädt. Wenn man so etwas hört, denkt man natürlich an elektrische Starkstromüberschläge. Es macht Ihnen wirklich keiner einen Vorwurf, dass Sie alle darauf hereingefallen sind. Büllesbach war ein begabter Hobby-Elektroniker und Handwerker. In früheren Jahren war er bei der Berufsfeuerwehr der Stadt Dortmund. Damals war die Feuerwehr noch für den Zivilschutz und damit für das unterirdische Bunkersystem zuständig. Aus dieser Zeit heraus besaß er noch Schlüssel. – Wissen Sie: Wenn man einen Menschen wirklich bedrohen will, droht man ihm am besten mit Stromschlägen. Terror funktioniert immer dann am besten, wenn man mit Mitteln arbeitet, die nicht sichtbar sind. Strom, Gas oder auch der schrille Pfeifton, den Büllesbach eingesetzt hat.«
»Und der Kurzschluss?«, wollte Stephan wissen.
»Das war in der Tat ein technischer Schwachpunkt«, erklärte der Beamte. »Frodeleit war also in dem besagten Stollen. Er hatte überlegt, wie man weiter vorgehen sollte. Es zeichnete sich ab, dass Büllesbach seinem Ziel nahe war, Frodeleit und Löffke gegeneinander aufzubringen und sie sich förmlich zerfleischen könnten. Frodeleit hatte einen Schluck Wasser aus einer Flasche genommen und sie dann unverschlossen wieder in den Kasten gestellt. Offensichtlich ist die Flasche aber nicht in ihr Fach gerutscht, sondern hat sich oben verkantet, ist umgefallen und ausgelaufen. Der alte Heizlüfter lag daneben auf dem Boden. Das Wasser ist auf dem etwas abschüssigen Boden in den Stollen gelaufen und hat den Kurzschluss im Gerät ausgelöst. Herr Frodeleit erinnert sich, dass er die Flasche in den Kasten tun wollte, aber er weiß nicht mehr, ob und wann die Flasche umgefallen ist. Er war aufgeregt und wollte in die Halle zurück. Das ist nachvollziehbar, im Übrigen aber auch egal. Frodeleit hat den Kurzschluss ausgelöst und das war, wie Sie wissen, der Anfang vom Ende und letztlich Ihr aller Glück! Büllesbach hat den Fehler gemacht, seine Anlage nicht mit einer Sicherung zu versehen und darüber hinaus alle elektrischen Geräte an eine Quelle anzuschließen. Das ist natürlich stümperhaft bei so viel elektrischem Verständnis. Aber solche Dinge sind nicht ungewöhnlich. Denken Sie daran, wie oft sich Verbrecher bei einer im Übrigen akribisch gut vorbereiten Tat durch eine Dummheit verraten, die allen anderen als geradezu grotesk erscheinen muss. Auch das ist eine Frage, die wir nicht weiter aufklären können, aber auch nicht weiter aufklären müssen.«
Der Beamte holte Luft. »Jetzt sind wir also an der Stelle, die wir protokollarisch noch füllen müssen. Nach dem Stromausfall befanden Sie sich, bis die Taschenlampen gefunden wurden, alle noch in der Bunkerhalle. Dann haben Sie sich getrennt. Ihr Kollege Löffke und der Richter Frodeleit sind mit einer Taschenlampe losgegangen, um Büllesbach zu suchen. Zudem bestand die Sorge, dass die elektrische Anlage wieder in Betrieb gehen würde. Allen war klar, dass die Steuerzentrale nicht weit von der Halle entfernt sein konnte. Die Kabel führten an der Lichtschrankenanlage vorbei in den sich hinter der Halle fortsetzenden Hauptstollen. Dorthin sind Frodeleit und Löffke gegangen. Sie haben sich an dem Kabel orientiert.
Sie beide sind mit Frau Löffke und Frau Frodeleit in die andere Richtung gegangen, bis zu dem Ausgang, über den Sie tags zuvor in das Stollensystem eingestiegen sind. Die entscheidende Frage ist also: Haben Sie von der Auseinandersetzung zwischen Büllesbach und seinen Verfolgern etwas mitbekommen? Schreie oder sonst was?«
»Nein! Wir sind zügig gegangen, um so schnell wie möglich die Anlage zu verlassen«, antwortete Stephan.
Der Beamte notierte sich Stephans Worte.
»Und Sie?« Er blickte auf Marie. »Sie haben auch nichts gehört?«
Marie schüttelte den Kopf.
»Es hätte ja sein können«, meinte der Beamte.
»Was ist denn genau passiert?«, fragte Stephan. »Wir wissen nur, dass Büllesbach durch einen schweren Schlag gegen den Kopf, als er gegen eine Wand oder einen Stahlträger gelaufen ist, zu Tode kam.«
»Natürlich stellt sich die Frage, warum Herr Frodeleit und Herr Löffke nicht sofort mit Ihnen nach draußen gegangen sind«, sagte der Beamte. »Aber mir ist auch klar, was beide in diesem Moment beschäftigt hat: Wenn man durch einen technischen Zufall die Gelegenheit bekommt, den Peiniger zu stellen, der im Begriff war zu fliehen, dann bleibt man ihm auf den Fersen. Wenn man so gedemütigt worden und noch bei Kräften ist, will man das Schwein doch stellen, das einem diese Schmach zugefügt hat. Vor allem, wenn zu vermuten stand, dass Büllesbach keine Waffe bei sich hatte. Der Ausfall der Technik hatte ihn nackt gemacht. Es bestand also die reale Chance, ihn zu stellen. Herr Löffke und Herr Frodeleit mussten nicht weit gehen. Vielleicht 50 Meter weiter befindet sich ein weiterer Querstollen. Ganz am Anfang dieses Stollens hatte sich Büllesbach eingerichtet. Er hatte eine kleine Steuerzentrale gefertigt, von der aus er seine elektrischen Foltergeräte ein- und ausschalten konnte. Von dort führte ein weiteres Versorgungskabel etwa 400 Meter bis zu einem anderen Ausgang. Dort, hinter der nächsten Stahltür, hatte Büllesbach einen Generator aufgestellt, der die Anlage speiste. Von seinem Steuerpult aus war Büllesbach über Mikrofon und Lautsprecher technisch zugeschaltet. Die Kamerabilder wurden auf einen Bildschirm übertragen. Auch diese Spielereien haben im Endeffekt kein Vermögen gekostet.«
»Was geschah dann?«, wollte Stephan wissen.
»Büllesbach saß nach dem Stromausfall ebenfalls im Dunkeln. Zwar besaß auch er eine Taschenlampe, aber er fürchtete, sie zu benutzen, weil man ihn in der tiefen Dunkelheit sofort bemerkt hätte. Er hoffte also darauf, dass alle über die andere Seite wieder ins Freie gelangen wollten. Dann wäre er, so vermuten wir, über den Ausgang, in dem er den Generator platziert hatte, geflüchtet. Aber es kam anders. Frodeleit und Löffke näherten sich. Frodeleit trug die Taschenlampe. Büllesbach bemerkte natürlich ihr Kommen und ergriff die Flucht. Er stolperte aus dem Querstollen und lief im Hauptstollen weiter in Richtung Ausgang. Jetzt, als er flüchtete, konnten Herr Frodeleit und Herr Löffke sicher sein, dass er unbewaffnet war, und sie rannten ihm hinterher. Büllesbach muss dann seine Lampe verloren haben. Sie lag jedenfalls gut 100 Meter vor dem Ort, wo wir ihn letztlich fanden. Er muss weiter in die Dunkelheit gerannt sein. Möglicherweise hat er sich zunächst auch an die Stollenwand gedrückt in der Hoffnung, dass seine Verfolger an ihm vorbeilaufen würden. Klar war, dass er nicht entkommen konnte, denn ohne Licht, das wissen Sie selbst, sehen Sie da unten keinen Zentimeter weit. Als Frodeleit und Löffke ihn fanden, kam es zu einem Handgemenge. Büllesbach hat Herrn Löffke in den Unterleib getreten und Herrn Frodeleit ins Gesicht geschlagen. Wir nehmen an, dass er sich nicht nur den beiden widersetzen, sondern auch deren Taschenlampe an sich bringen wollte. Was dann im Einzelnen geschah, lässt sich nicht aufklären. Herr Frodeleit und Herr Löffke haben reichlich äußere Verletzungen davongetragen, so wie Büllesbach auch. Wie er mit dem Kopf gegen einen stählernen Versteifungsbogen geschlagen ist, haben wir nicht ermitteln können, denn in dem Handgemenge fiel auch Herrn Frodeleit die Lampe aus der Hand. Es kann viel passieren, wenn im Dunkeln Freund und Feind nicht mehr auseinanderzuhalten sind. Und die Angst spielt in solchen Situationen selbstverständlich eine große Rolle. Wer will da sagen, er hätte anders gehandelt? Es ist wahrscheinlich eine Verkettung unglücklicher Umstände. Kriminaltechnisch können wir nicht aufklären, wessen Faust in wessen Körperteil geschlagen hat. Auch können wir nicht ermitteln, wer wen wann zuerst geschlagen hat. Menschliche Körper sind nicht in jeder Hinsicht gute Spurenträger. Aber wir wollen allem voran nicht vergessen, dass es besser Büllesbach als die beiden anderen getroffen hat. Es ist ein bisschen so, als habe sich die Gerechtigkeit selbst vollzogen.«
Der Beamte lächelte maliziös.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Marie.
Der Beamte hatte den Unterton ihrer Empörung wahrgenommen.
»Wir wollen nicht vergessen, wer der Täter ist und wer die Opfer sind, Frau Schwarz. Nichts weiter. Es ist selten genug, dass wir in einer Strafsache Zeugen haben, die von ihrer beruflichen Disposition her mit dem Recht verbunden und deshalb über jeden vernünftigen Zweifel erhaben sind.
Manchmal ist die Sachlage doch recht einfach zu beurteilen. – Ich darf also zusammenfassen: Sie, Frau Schwarz, und Sie, Herr Knobel, haben nichts mitbekommen.«
»Ja«, antworteten beide.
Der Beamte nickte. »Ich habe mir auch nichts anderes gedacht. Frau Löffke und Frau Frodeleit haben auch nichts anderes sagen können. Aber ich dachte mir: Immerhin sind die beiden die Ehefrauen. Und Sie wissen ja, Herr Knobel, es kann schließlich immer mal sein, dass die Frauen zu sehr im Lager ihrer Männer stehen und entsprechend aussagen.«
Er lächelte.
»Es sollen nur alle Eventualitäten ausgeschlossen werden. Ich fertige das Protokoll schnell aus. Sie brauchen dann nur noch zu unterschreiben.«