45

 

Am nächsten Tag stehe ich früh auf und lasse mir das Essen aufs Zimmer bringen. Ich habe einiges zu tun, wenn ich mein Leben wieder so führen möchte, wie ich es mir vorstelle. Also schnappe ich mir das Netbook und wähle mich ins Internet ein. Danach schreibe ich eine E-Mail an Marc, meinen ehemaligen Eiskunstlauftrainer, und frage ihn, ob sein Angebot, die Jugend zu trainieren, noch gelte.

Es ist fast Mittag, als ich mit dem zufriedenen Gefühl, einiges erreicht zu haben, meine Arbeit beende. Ich habe mir eine Pause verdient. Zum Glück ist das Mar y Sol nicht weit von hier, und so nutze ich die Gelegenheit, unter Leute zu kommen.

Eine Platte mit Tapas steht vor mir, als ich unter den Palmen sitze und der riesigen Fähre zusehe, die gerade andockt. Kurze Zeit später verlassen die Passagiere das Boot, und ich beobachte, wie sie von Bord gehen. Ohne es zu merken, halte ich nach einem bekannten Gesicht Ausschau. Idiotin, beschimpfe ich mich, als mir auffällt, auf wen ich warte. Christian. Ich hoffe, dass er mir folgt. Einen Kniefall vor mir macht und um Vergebung bittet. Wie kann man nur so blöd sein?

Kopfschüttelnd konzentriere ich mich wieder auf meine Zeitung oder versuche es zumindest, denn meine Gedanken kreisen um andere Themen. Ich muss unbedingt meine Mutter anrufen, ich habe mich seit mehreren Tagen nicht mehr bei ihr gemeldet. Allein der Gedanke daran lässt mich aufstöhnen. Ich habe keine Lust, mir lange Vorträge über ein Leben nach Ron anzuhören. Sie hat mich in den letzten Tagen regelmäßig mit Vorschlägen bombardiert, wie ich Männer kennenlernen kann. Vor allem wohlhabende Männer, denen nicht nur an meinem Geld gelegen ist.

Nein. Die Telefonate mit meiner Mutter sind schon dann anstrengend genug, wenn es nur um die Farbe der Vorhänge geht.

Schade, dass Anna nicht hier ist. Eigentlich hatte ich gehofft, sie zu treffen. Aber sie ist für eine Woche in Barcelona. Sie muss dort einige Boutiquen besuchen und neue Konditionen für ihre Modeschmuck-Kollektion aushandeln.

Also bin ich ganz auf mich allein gestellt. Anstatt an den Strand zu gehen, habe ich beschlossen, mir ein wenig Luxus zu gönnen. Ich werde mir eine Ferienwohnung kaufen. In einer Stunde habe ich einen Termin mit einem Makler, der mir eine Zweizimmerwohnung am Cala Gracio zeigen will. Das ist nicht weit von Annas Haus entfernt. Angeblich soll die Wohnung einen wunderschönen Blick auf das Meer haben.

Zum ersten Mal seit Langem verspüre ich so etwas wie freudige Erwartung, als ich zu dem kleinen Apartmenthaus hinaufschaue. Das Gebäude ist auf einer Felsklippe erbaut, von hier hat man eine traumhafte Aussicht über die kleine Badebucht. Noch bevor ich einen Fuß in die Räume gesetzt habe, beschleicht mich ein Gefühl: Das ist es! Genau das, was ich gesucht habe!

Und ich habe recht. Ich gehe nur wenige Schritte in das Wohnzimmer hinein, und schon breitet sich das Mittelmeer in seiner ganzen glitzernden, azurblauen Pracht bis zum Horizont aus.

„Ich nehme es“, sage ich und breite die Arme aus, drehe mich in dem Raum und sauge die Atmosphäre in mich ein. Am liebsten würde ich wie Christian auf den Händen laufen, nur um meiner Freude Ausdruck zu verleihen. Bei dem Gedanken an ihn erstirbt mein Lächeln. Ich vermisse ihn.

 

Es ist früh für spanische Verhältnisse, als ich von meinem Hotel zur Hafenpromade hinabsteige. Das Nachtleben hat noch nicht begonnen, und auch in den Cafés ist nicht allzu viel los. Die Mittagshitze ist einer lauen Brise gewichen, die mich sanft streichelt. Die Stadt, die kurz zuvor in einer verschlafenen Siesta versunken war, erwacht nur langsam zum Leben.

Ich setze mich in eine der Hafenbars und bestelle eine Flasche Rotwein. Wenn ich die getrunken habe, werden die Männer um mich herum bestimmt attraktiver aussehen. Ich habe schon drei Gläser hinter mir, als es allmählich lebendiger wird. Die bunten Nachtfalter, die die Promenade später beleben werden, sind zwar noch nicht unterwegs, dafür aber strömen jede Menge Touristen in die Altstadt.

Mein Kellner ist ein junger Bursche. Er sieht nicht schlecht aus, und ich schenke ihm ein strahlendes Lächeln. Mit ungerührter Mine stellt er den Teller mit meinem Essen vor mich hin. Okay, dann eben nicht.

„Ist hier noch frei?“, unterbricht eine männliche Stimme meine Überlegungen. Eine bekannte männliche Stimme. Christian steht vor mir und grinst mich an. Mein Herz macht einen Satz, aber ich unterdrücke die Freude. Erinnere mich daran, dass ich wütend auf ihn bin. Ich habe genug von Männern, die mich belügen.

„Nein. Hier ist besetzt“, erwidere ich mit einem eisigen Lächeln und schaue weg. Ignoriere ihn, tue so, als seien die drei Engländer am Nebentisch die faszinierendsten Männer, die ich je gesehen habe. Der Idiot soll bloß nicht denken, dass ich froh bin, ihn zu sehen.

„Gut.“ Christian zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich.

„Hörst du schlecht?“

„Nein, aber ich bin hier, um mit dir zu reden.“

„Vergiss es.“ Ärgerlich stehe ich auf und werfe ein paar Geldscheine auf den Tisch. Nur weg von hier, bevor ich anfange, mich in einen kreischenden Racheengel zu verwandeln.

„Bleib stehen.“

„Nein.“

„Tamara. Bleib stehen.“ Christian packt mich am Arm. Wütend drehe ich mich zu ihm um.

„Du hast mir gar nichts zu sagen. Lass mich los, oder ich schrei um Hilfe.“

 Statt einer Antwort drängt er mich mit dem Rücken an eine Hauswand, hält meine Handgelenke in eisernem Griff fest und beugt sich über mich, als wolle er mich küssen.

„Tu’s doch“, flüstert er. Ich versuche, mich aus seinem Griff herauszuwinden, aber ich habe keine Chance. Dann eben doch Schreien. Er hat es ja nicht anders gewollt. Aber er ist schneller als ich, legt eine Hand über meinen Mund.

„Hör mir gut zu“, zischt er in mein Ohr. „Ich lasse dich jetzt los und du wirst dich benehmen.“ Christian klingt, als ob er es ernst meint. Er nimmt seine Hand vorsichtig weg.

„Und was tust du, wenn ich mich nicht benehme?“ Kann ich mir nicht verkneifen zu fragen.

„Bitte. Mach es mir nicht so schwer.“

Ich starre ihn wütend an und verschränke die Arme vor der Brust. Er atmet einmal tief durch. Dann nimmt er meine Hand.

„Komm. Ich lade dich auf ein Glas Wein ein und erzähle dir, was passiert ist.“

„Auf deine Lügen kann ich verzichten.“

„Es sind keine Lügen“, sagt Christian und schaut mir in die Augen. Ich erwidere den Blick, will ihn dazu zwingen, zuerst wegzuschauen, seine Schuld zuzugeben, aber den Gefallen tut er mir nicht. Stattdessen beugt er sich wieder über mich. Sein Gesicht kommt näher, ein Lächeln umspielt seine Mundwinkel. Schnell drehe ich mich weg.

„Du wolltest mich einladen“, erinnere ich ihn.

 

„Wie hast du mich gefunden?“, lautet meine erste Frage, als wir an dem kleinen Tisch einer Bar in der Altstadt sitzen. Hier ist nicht so viel los wie am Hafen. Nur wenige Tische stehen auf dem schmalen Gehweg, auf dem sich die Fußgänger mühsam vorbeiwinden.

Ohne etwas zu sagen, nimmt Christian meine Handtasche und fängt an, darin zu kramen.

„Sag nicht, dass ich schon wieder auf diesen Trick reingefallen bin.“

„Doch. Sieht ganz danach aus.“ Triumphierend hält er einen kleinen GPS-Sender in die Höhe.

Ich schüttele den Kopf. „Ich glaube es nicht.“

„Das Dumme ist nur dein ungesunder Hang zu teurer Kosmetik. Es hat Ewigkeiten gedauert, bis endlich wieder ein Signal durchkam.“ Der Mann hat noch immer keine Ahnung, dass er von der teuersten Make-up Kollektion redet, die je produziert wurde.

„Es war nur zu deiner Sicherheit. Wirklich“, setzt er hinzu, als er meinen skeptischen Gesichtsausdruck bemerkt. „Aber es war sehr praktisch, vor allem, nachdem du von der Bildfläche verschwunden bist.“

„Wenn ich nicht so friedliebend wäre, würde ich dich jetzt umbringen“, seufze ich. „Wie kann man nur so blöd sein und zweimal auf den gleichen Trick reinfallen? Erzähle mir lieber, was passiert ist, bevor ich vollkommen frustriert bin.“

Christian lehnt sich gemütlich in seinem Stuhl zurück und streckt die Beine von sich.

„Dein Stiefbruder Reinhard hat uns engagiert. Er wollte Ron überprüfen lassen, bevor sie ihn in den Vorstand aufnehmen. Eine Routinesache. Nichts Großes, wir bekommen des Öfteren Aufträge von der Bank deines Vaters. Vor allem hochrangige Angestellte werden zuerst von uns überprüft, bevor er sie einstellt.“

„Ist das nicht gegen den Datenschutz?“

Christian zuckt mit den Schultern. „Die entsprechenden Personen müssen vorher eine Einverständniserklärung unterschreiben. Das ist heutzutage die normale Einstellungsprozedur. Anscheinend hat auch Ron diese Erklärung unterschrieben.“

„Nicht sehr klug von ihm. Er musste doch wissen, dass ihr ihm auf die Spur kommen könnt“, wende ich ein.

„Ich schätze, er hat sich sicher gefühlt. Immerhin ist er sehr raffiniert vorgegangen. Ohne deine Hilfe hätte ich seine Konten niemals aufgespürt. Zuvor hatte ich nicht mehr als Vermutungen. Dabei schien es anfangs noch einfach zu sein, gleich in den ersten Tagen gab uns einer unserer Informanten einen Tipp. Das Problem war die Beweise für Rons kriminelle Machenschaften zu finden. Und dann verschwand mit einem Mal Barelli. Ein Angestellter in Rons Bank. Leider erfuhr ich davon erst, als du die Leiche schon im Garten vergraben hattest.“

„Ich habe keine Leiche vergraben“, wende ich ein, aber Christian winkt mit einem Grinsen ab.

„Wenn du es sagst. Es kann dir ohnehin niemand nachweisen. Aber trotzdem …“ Christian schüttelt den Kopf und lacht. „Mann, wenn mir das einer erzählt hätte, ich hätte es nicht geglaubt. Verbuddelt die Tochter eines Bankers eine Leiche im Garten.“

„Du bist eben ein fantasieloser Langweiler“, fauche ich, aber Christian lacht nur und fährt in seiner Erzählung fort.

„Ich bin mir also von Anfang an ziemlich sicher, dass Ron nicht astrein ist, und beginne, in seiner Vergangenheit zu graben, aber auch das bringt nicht viel zutage. In meiner Verzweiflung fange ich an, ihn zu beobachten. Allerdings erst, nachdem er Barelli schon ermordet hat. Was ich damals noch nicht wusste. Ich bekomme nicht viel heraus, und die Sache wird frustrierend. Wenn unser Informant nicht schon in der Vergangenheit absolut zuverlässig gewesen wäre, hätte ich die Untersuchung abgebrochen. So aber bleibe ich dran und merke, wie sich Rons Verhalten allmählich ändert. Er wird nervös und er hat keine Ahnung, wo du steckst. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass du mit Reinhard verwandt bist. Ihr habt in eurer Familie den unglücklichen Hang zu unterschiedlichen Nachnamen. Da Ron mit einem Mal fast panisch zu sein scheint, beschließe ich, dich aufzuspüren, in der Hoffnung, so an weitere Informationen zu kommen. Also fange ich an, nach dir zu suchen. Wir haben in jedem größeren Hotel in Frankfurt einen Kontaktmann, es war also nicht schwer, dich im Mainhatten aufzuspüren. Als mich mein Kontaktmann anrief, um mir von deinem Aufenthalt dort zu erzählen, erwähnte er auch, dass du einen Callboy bestellt hast.“ Christian grinst – schon wieder.

Ich trete ihm heftig gegen das Schienbein. Das hätte ich schon längst tun sollen. Er zieht eine Grimasse und tastet vorsichtig die Stelle ab, an der ich ihn getroffen habe. Zufrieden lächele ich ihn an.

„Wenn du wissen willst, was aus Ron geworden ist, solltest du das lieber lassen.“

„Ron kann meinetwegen zur Hölle gehen.“

„Tss, tss. Dabei wird es gerade erst spannend.“

„Ach, findest du?“

„Ja, oder möchtest du nicht wissen, was in der ersten Nacht, die wir miteinander verbracht haben, passiert ist?“

Schade, dass ich ihn bereits getreten habe, am liebsten würde ich es noch einmal tun. Als würde er meine Gedanken lesen, bringt er seine Beine in Sicherheit.

„Das mit dem Schlafmittel tut mir leid. Ehrlich, aber ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte.“

Ein Schlafmittel also. Deshalb konnte ich mich an nichts mehr erinnern. „Ist das nicht illegal? Eine Unschuldige mit einem Schlafmittel zu betäuben, nur um mehr über ihren Freund herauszufinden? Und wie kamst du so schnell an das Zeug heran?“

„Naja, sagen wir es so. Wenn das herauskommt, bin ich meinen Job los. Allerdings würde mein Wort gegen deines stehen. Und was das Rezept für das Mittel angeht: Ich habe meinen Eltern einen kurzen Besuch abgestattet. Wenn meine Mutter je davon erfährt, dass ich an ihrem Medizinschrank war, ermordet sie mich.“

Ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus. „Ich würde gerne einmal deine Mutter treffen!“

„Kein Problem. Wenn du nichts verrätst, verrate ich auch nicht, was du mit dem Toten gemacht hast.“

Darüber brauche ich nicht lange nachzudenken: vor allem, weil ich weiß, dass er recht hat.

„Okay. Aber nur, weil du mir leid tust und nicht, weil ich irgendetwas zu verbergen habe.“

„Ja, klar. Soll ich weitererzählen?“

„Natürlich. Was glaubst du, warum ich meine Zeit mit dir verschwende?“ Ich lehne mich zurück und verschränke die Arme vor der Brust, kippele mit dem Stuhl ein wenig nach hinten, so wie er es immer macht. „Wozu die Maskerade? Warum hast du mich nicht einfach gefragt, anstatt mir mit dieser Callboy-Nummer zu kommen?“

„Ich war nicht sicher, welche Rolle du in dem Ganzen spieltest. Es schien mir einfacher, dich schlafen zu lassen und mir die Dateien auf deinem Computer anzusehen. Ich weiß, es klingt übel, wenn ich es so erzähle, aber die Zeit drängte und …"

Christian fährt sich mit den Händen durch die Haare und seufzt.

„Es war eine blöde Idee. Ich handelte spontan, denn ich wusste dank meiner Nachforschungen von deinem Schlafmittelkonsum. Ron hatte es bei einem Telefonat, das ich mitbekam, erwähnt. Und da dachte ich, es sei nicht so schlimm. Auf eine Tablette mehr oder weniger komme es auch nicht mehr an.“ Christian schüttelt den Kopf. „Ich war ein Idiot. Und es tut mir leid.“

Stille dehnt sich zwischen uns aus. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Was Christian getan hat, erscheint mir kaltblütig und irgendwie respektlos. So, als sei ich ein Mensch, der in seinen Augen nicht viel wert ist. Jemand, dem man eben mal eine Droge verabreicht, weil ich ja ohnehin schon … Ohne mein Zutun bricht der Gedankengang in meinem Kopf ab. Stattdessen sehe ich mich mit Christians Augen. Die Verlobte eines Bankers, der in üble Machenschaften verwickelt ist. Die plötzlich verschwindet, nur um dann in der Suite eines Nobelhotels wieder aufzutauchen. Die sich einen Callboy aufs Zimmer bestellt und regelmäßig Schlaftabletten nimmt.

Vielleicht hätte ich an seiner Stelle ebenso gehandelt, denn mit einem Schlag kommt es mir so vor, als würde ich mich selbst nicht besonders wertschätzen.

Welcher Mensch nimmt Schlaftabletten, nur um die Vorbereitungen der eigenen Hochzeit durchzustehen? Und dann die Sache mit dem Callboy. Ich werde rot, wenn ich daran denke, wie ich damals mit dem Portier gesprochen habe, Christian die Tür öffnete, bereit, mich in ein bezahltes Abenteuer zu stürzen.

„Ist alles in Ordnung?“ Christian sieht mich besorgt an. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich schon ohne etwas zu sagen am Tisch sitze.

„Nein. Nichts ist in Ordnung“, antworte ich. „Aber das ist nicht so wichtig. Für mich bleibt nur noch eine Frage offen: Wer hat Barelli ermordet? War es Ron?“ Angst schwingt in dieser Frage mit. Es ist schlimm genug, mit einem Kriminellen verlobt gewesen zu sein, aber mit einem Mörder? Innerlich bete ich, jemand anderes habe Barelli umgebracht. Auch, wenn es dafür zu spät ist. Ein Blick zu Christian hinüber genügt, um meine Gebete verstummen zu lassen. Ich kenne die Antwort.

„Es tut mir leid. Aber ja, es war Ron.“

Ich schließe die Augen, als könne ich so die Gefühle, die mich mit einem Mal überrollen, bewältigen. Aber es gelingt mir nicht. Ich habe fünf Jahre meines Lebens einem Lügner, Betrüger und Mörder geopfert und ich habe nie etwas gespürt. Nie vermutet, Ron könne zu solchen Taten fähig sein. Wie konnte ich nur so dumm sein? Wie …?

Christians Hand auf meinem Arm unterbricht meine Gedanken. „Es ist nicht deine Schuld.“ Als ich nicht antworte, umfasst er mein Gesicht mit beiden Händen und zwingt mich, ihm in die Augen zu sehen. „Tamara, du kannst nichts dafür, dass Ron der Mensch ist, der er ist.“

„Aber ich hätte spüren müssen, was für ein Ungeheuer er ist. Wie konnte ich all die Jahre mit ihm zusammen sein, ohne zu merken, wie schlecht er ist? Wie konnte ich ihn lieben?“

„Tamara“, Christian sieht mich eindringlich an. So, als wolle er mit seinem Blick bis in meine Seele vordringen. „Ron ist ein Psychopath. Solche Menschen haben keine Schuldgefühle. Er fühlt sich im Recht, in allem, was er tut. Du kannst nichts dafür. Glaube mir.“

Obwohl ich höre, was er sagt, kann ich es nicht glauben. Tief in mir sitzt die Überzeugung, dass ich es hätte wissen müssen. Wieder schließe ich für einen Augenblick die Augen, versuche dem inneren Chaos Herr zu werden.

„Wie geht es weiter?“, frage ich, als klar wird, wie nutzlos dieser Versuch ist. „Warum hat Ron Barelli umgebracht?“

„Barelli war kurz davor, Rons Machenschaften aufzudecken. Aus diesem Grund musste er sterben.“

„Und ich hatte schon gehofft, es sei Eifersucht gewesen“, sage ich in dem kläglichen Versuch zynisch zu wirken.

„Nein, es war keine Eifersucht. Rons Affäre mit Madeleine war kühl kalkuliert. Er versuchte, über sie an weitere Informationen zu kommen. Er brauchte sie, um herauszufinden, was Barelli wusste. Durch sie erlangte er Zutritt zu Barellis Haus und hat dies genutzt, um in seinen Unterlagen zu schnüffeln. Außerdem diente sie ihm als Alibi in der Nacht, in der er Barelli ermordete. Ron hat sich übrigens an deinen Schlaftabletten bedient, um sie zu betäuben.“

„Warum wundert mich das nicht?“ Ich vergrabe den Kopf in den Händen und starre die Tischplatte an.

„Möchtest du in dein Hotel zurück?“ Christian klingt besorgt. Aber ich kann jetzt nicht aufhören. Ich muss Antworten auf die Fragen bekommen, die in meinem Kopf kreisen. Erst muss ich alles wissen. Dann kann ich Ruhe finden … oder auch nicht.

„Das Blut auf meinem Pullover. Das war Ron, nicht wahr?“

„Ja, er …“

„Er wollte mir den Mord anhängen“, beende ich den Satz für Christian.

„Das war seine Absicht. Aber du hast es ihm nicht leicht gemacht.“

„Wenigstens etwas“, murmele ich.

„Du hast Ron zehn Jahre seines Lebens gekostet. Mindestens.“ Christian grinst mich an. Seine Augen fordern mich auf, meinen Lebensmut zu finden. Ich ringe mir ein schiefes Lächeln ab. Eine Überzeugung beginnt sich, in mir zu regen. Ich habe einen Fehler begangen, als ich mich in Ron verliebte. Aber ich konnte nicht ahnen, was für ein Mensch er war. Und ich werde mich nicht von ihm unterkriegen lassen. Ich werde nicht den Rest meines Lebens mit Selbstzweifeln und Vorwürfen verbringen, denn das habe ich nicht verdient.

„Ron tätigte den anonymen Anruf bei der Polizei. Er wusste, du würdest durch die Schlaftabletten erst spät aufwachen. Die Polizisten sollten die Leiche finden, den blutigen Pullover entdecken. Und natürlich die Tatwaffe, denn er hatte sichergestellt, dass sich auf dieser deine Fingerabdrücke befinden würden. Doch dann lief alles anders als geplant. Als es Mittag wurde, war Ron bereits panisch. Er konnte dich nicht anrufen und fragen, was mit der Leiche passiert sei. Aber dank deiner SMS wusste er, wo du warst. Er sandte seinen Mann in die Tiefgarage. Er sollte dich überfahren, denn Ron hatte beschlossen, statt dir Madeleine zum Sündenbock zu machen. Jeder sollte denken, du hättest eine Affäre mit Barelli gehabt und Madeleine habe aus Eifersucht ihren Mann und dich umbringen lassen. Ein schlecht durchdachter Plan, aber Ron war, wie gesagt, panisch. Er wusste nicht, was du mit Barelli angestellt hattest. Er befürchtete, du könntest mithilfe der Polizei eine Aktion gegen ihn planen.“

„Dieser Mistkerl. Dieses verdammte, verlogene, miese Arschloch. Am liebsten würde ich ihn umbringen“, bricht es aus mir hervor. Die Wut fühlt sich gut an. Besser als die Verzweiflung, die mich eben noch gepackt hielt.

„Ja. Das hätte ich auch gerne getan. Nachdem ich von seinen Machenschaften erfuhr.“

„Aber warum hat er seine Chance nicht ergriffen, als Blondie und Rambo mich im Hotel fanden?“

„Oh, das? Das ist der Teil der Geschichte, der mir am besten gefällt.“ Christian lacht und kippelt mit seinem Stuhl nach hinten. „Ron konnte dich nicht einfach umbringen lassen. Erst musste er herausfinden, was du mit seinem Geld angestellt hattest. Ich wette, er hat gekocht vor Wut, als er seine Konten sah.“

Zum ersten Mal seit Christians Enthüllungen breitet sich ein ehrliches Grinsen auf meinem Gesicht aus. „Dann habe ich wenigstens einmal etwas richtig gemacht in unserer Beziehung.“

Aus irgendeinem Grund fühle ich mich besser. Ich war in einen Psychopathen verliebt. Okay. Aber immerhin habe ich es ihm so schwer wie möglich gemacht, mit seinen Verbrechen davonzukommen.

„Warum hast du mir nicht gesagt, dass du Detektiv bist? Du hättest mir sagen können, dass Reinhard dich beauftragt hat“, stelle ich ihm endlich die Frage, die mir noch auf der Seele brennt.

„Ich ...“ Jetzt ist es Christian, der auf seinem Stuhl schaukelt, gefährlich auf zwei Beinen balanciert. „Also … Die Wahrheit ist …“

„Christian, könntest du zur Sache kommen?“

„Ich wollte dich um mich haben“, gibt er endlich zu.

„Du wolltest … Oh.“ Nachdenklich betrachte ich mein Weinglas. Diese Wendung kommt unerwartet. Ich hatte mich bereits mit dem Gedanken abgefunden, auf einen weiteren Mistkerl hereingefallen zu sein. Hatte meine Gefühle für Christian in die hinterste Ecke meines Bewusstseins verbannt.

„Würdest du mit mir zurück nach Frankfurt gehen?“

Mit einem Ruck werde ich aus meiner Traumwelt herausgerissen. Natürlich, er will seinen Auftrag abschließen.

„Nein. Ich werde noch etwas hier bleiben, aber du kannst die Akte schließen und deine Rechnung einreichen“, sage ich und stehe auf.

„Warte.“ Christian hält mich am Handgelenk fest. „Tamara, bitte. Das hat sich nicht so angehört, wie ich es gemeint habe.“

„Und wie hast du es gemeint?“

„Ich wollte dich fragen, ob du … mit mir ausgehen würdest. Mich weiter sehen möchtest.“

Mit einem Seufzer mache ich einen Schritt nach hinten, befreie mein Handgelenk aus seinem Griff. „Christian, ich brauche Zeit. Ich habe gerade erfahren, dass ich einen Mörder und Verbrecher geliebt habe. Ich … scheine nicht gerade gut darin zu sein, den Charakter eines Menschen zu beurteilen.“

„Das verstehe ich. Aber du solltest nicht dein ganzes Leben von einem Fehler bestimmen lassen.“

„Es ist nicht mein ganzes Leben. Nur … ich glaube, ich brauche einfach ein paar Wochen, um mir darüber klar zu werden, was ich will. Welche Art von Beziehung richtig ist für mich und wie ich wieder … Vertrauen fassen soll.“

Christian nickt. Er sieht traurig aus, was mir irgendwie gut tut. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich nicht auch in ihm getäuscht habe. Er wurde immerhin von meinem Stiefbruder engagiert. Und er weiß, wie wohlhabend meine Familie ist.

„Wie kommt es, dass du dir einen Ferrari leisten kannst und diese Wohnung?“ Die Frage bricht aus mir heraus, noch bevor ich darüber nachgedacht habe. Es ist wichtig für mich, die Antwort zu kennen. Ein Puzzleteil an die richtige Stelle zu setzen. Vielleicht weiß ich dann, was für ein Mensch er ist.

„Ich gebe es nicht gerne zu, aber ich bin ein Sohn reicher Eltern.“ Christian sieht mir in die Augen, als er diese Worte spricht. Er lässt meinen Blick nicht los, und ich weiß plötzlich, was er mir damit sagen will. Und dann drehe ich mich um und gehe, obwohl alles in mir bei ihm bleiben will.

 

Trau niemals einem Callboy!
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