41
„Wo bist du gewesen?“, fährt mich Christian wütend an.
„Die gleiche Frage könnte ich dir stellen. Wo warst du, als ich von Emilie zurückgekommen bin? Wenn du schon arbeiten musst, hättest du mir wenigstens eine Nachricht hinterlassen können.“
„Und wenn du deine Nachrichten regelmäßig abhören würdest, hättest du gewusst, wo ich bin.“
„Oh.“ Schuldbewusst krame ich in meiner Handtasche. Christian hat recht, das Symbol, welches neue Nachrichten anzeigt, blinkt.
„Dieses verflixte Gerät zeigt mir immer erst Stunden später an, dass ich eine Voicemail erhalten habe“, verteidige ich mich. „Trotzdem dachte ich, du arbeitest in diesen Tagen nur für mich. Dafür bezahle ich dich schließlich“, greife ich ihn an, denn das ist besser, als meine Fehler zuzugeben.
„Ich dachte, ich darf abends ausgehen, oder hast du mich Tag und Nacht gebucht?“ Mit einem sarkastischen Lächeln schaut er mich an.
„Ja …, nein …, also ich dachte, …“ Toll, jetzt habe ich mich in eine stotternde Idiotin verwandelt.
„Nur zu deiner Information, ich war gestern Abend mit meinem Vater in der Spielbank.“
„Bis fünf Uhr morgens?“ Die Worte rutschen mir unüberlegt heraus. Warum nur kann ich nicht erst denken und dann reden?
„Ja, Vater ist ein passionierter Spieler. Reicht dir das jetzt, oder soll ich dir eine detaillierte Aufstellung liefern?“
„Vergiss es.“ Wütend drehe ich mich um. Mein dämliches Verhalten ist schlimm genug, Christians Sarkasmus aber bringt mich zur Weißglut. „Es ist ohnehin Zeit, von hier zu verschwinden. Ich packe meine Sachen und gehe in ein Hotel.“
„Warte.“ Christian steht auf und packt mich am Arm. „Sei nicht gleich so wütend. Es tut mir leid.“
Ich zögere, bin hin und hergerissen. Einerseits möchte ich bleiben, andererseits aber habe ich den Eindruck, dass unser Zusammenleben immer komplizierter wird.
„In einem Hotel bist du nicht sicher. Ron sucht dich. Ich bin ihm heute Nachmittag hinterhergefahren. Er hat ein Haus in Eschborn beobachtet.“
„Ein Haus in Eschborn? Das lag nicht zufällig Im Hofgraben?“
„Genau. Weißt du, wer dort wohnt?“
„Meine Mutter.“ Ich muss mich setzen. Dass Ron das Haus meiner Mutter beobachtet, gefällt mir nicht. „Was wollte er dort?“
„Ich glaube, er wird unruhig. Er kann dich nicht mehr aufspüren. Wahrscheinlich hat er gehofft, dich über deine Mutter zu finden. Er stand etwa zwei Stunden vor ihrem Haus, dann ist er weiter nach Bad Soden gefahren.“ Ich nicke. Und ich weiß auch genau, was Ron in Bad Soden gemacht hat.
„Er hat vor Madeleines Haus geparkt, und ich bin wieder zurück nach Frankfurt gefahren. Ich habe mir Sorgen gemacht, weil ich dich nicht erreichen konnte.“ Christian sieht mich auffordernd an. Anscheinend ist es jetzt an mir zu erzählen, was ich den Rest des Tages getan habe. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass er diese Neuigkeiten nicht besonders gut aufnehmen wird.
Und richtig …
„Bist du von allen guten Geistern verlassen? Was, wenn er dich entdeckt hätte? Da tun wir alles, damit Ron nicht weiß, wo du dich aufhältst, und dann hast du nichts Besseres zu tun, als in dem Vorgarten seiner Freundin herumzuturnen.“
„Du warst nicht da“, versuche ich mich zu rechtfertigen, aber ich komme nicht weit.
„Na und? Es ist ja nicht so, als ob die Aufnahmen nicht noch ein paar Stunden hätten warten können. Ob du die heute oder morgen machst, ist egal. Das Einzige, was zählt, ist, dass er dich nicht auch noch umbringt.“
So gesehen hat er vielleicht sogar recht. Aber trotzdem …
„Ich bin es leid, hier herumzusitzen und darauf zu warten, dass sich mein Leben von selbst ordnet. Die letzten Tage waren die Hölle für mich, und da sagst du, es komme auf einen Tag mehr oder weniger nicht an. Ich bekomme bei jedem Schatten an der Wand eine Panikattacke, mein Ex-Freund ist möglicherweise ein Mörder, ich werde verfolgt und wohne bei einem Callboy. Glaubst du, das macht mir Spaß?“
Statt einer Antwort seufzt Christian und fährt sich mit den Händen durch die Haare. Ich bereue meinen letzten Satz, so hatte ich es nicht gemeint. Eigentlich doch, aber ich wollte es ihm nicht auf diese Art und Weise an den Kopf werfen. Vor allem, weil ich froh bin, hier sein zu dürfen.
„Wenn es dich nicht stört, schaue ich noch etwas fern“, sage ich endlich, denn die gespannte Atmosphäre nagt an meinen Nerven. Und außerdem weiß ich nicht, was ich sonst sagen soll. Eigentlich sollte ich mich entschuldigen, aber ich weiß nicht, wie. Ich kann schlecht sagen, ich hätte es nicht so gemeint, denn das wäre gelogen.
„Fühl dich wie zu Hause“, erwidert Christian und schaut mich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an. Mir wird unbehaglich zumute. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, er sei an mir interessiert. An mir als Frau, aber das ist Unsinn. Er hilft mir, weil ich ihn dafür bezahle. Aus keinem anderen Grund. Also stehe ich auf und gehe ins Wohnzimmer, zappe durch die Programme, bis ich einen Film entdecke, den ich sehen möchte. Der Gladiator mit Russell Crowe.
Kurze Zeit später sitzt Christian neben mir, legt die Beine auf den Couchtisch und starrt interessiert auf den Bildschirm. Obwohl er mich nicht beachtet, habe ich nach einer Weile den Eindruck, als würde sich die Luft elektrisch aufladen. Dass die meiste Zeit halbnackte Männer über den Bildschirm flimmern, ist nicht hilfreich. Mehr als einmal schweift mein Blick zu ihm ab, und ich ertappe mich bei der Vorstellung, mit ihm im Bett zu liegen.
Christian scheint von all dem nichts zu bemerken. Nach einer Weile hat er genug von dem Film, denn er nimmt eine Zeitschrift vom Couchtisch und beginnt zu lesen.
„Stört dich der Fernseher nicht beim Lesen?“, frage ich ihn nach ein paar Minuten, denn mir ist nicht entgangen, wie er immer wieder mit dem Lesen aufhört, auf den Bildschirm starrt, um dann mit der Lektüre fortzufahren. Ich kann es ihm nicht verdenken: Wenn ich eine Zeitschrift studieren würde, die Global Economy Journal heißt, würde ich auch lieber auf den Bildschirm schauen. Mich wundert nur, dass er beim Lesen nicht einschläft.
„Was?“ Christian sieht mich irritiert an. Scheinbar ist er mit Konzentration bei der Sache gewesen. „Nein, der Fernseher stört mich nicht. Ich mache das immer so.“
„Du liest, wenn der Fernseher läuft?“
„Ja, dann habe ich nicht den Eindruck, etwas zu verpassen.“ Anscheinend sieht er mir an, wie seltsam diese Erklärung für mich klingt. „Solange der Fernseher läuft, kann ich jederzeit hinsehen, wenn etwas Gutes kommt. Da verpasse ich nichts.“
„Warum kaufst du dir nicht einfach eine Programmzeitschrift und suchst dir die Filme aus, die du sehen möchtest?“
Christian zuckt mit den Schultern. „Dann ist die ganze Überraschung weg.“
„Wenn du meinst. Und was ist an der globalen Wirtschaft so spannend? Vor allem wenn du eigentlich Der Gladiator sehen könntest?“
„Ich bleibe gerne auf dem Laufenden“, antwortet er und verbirgt sich wieder hinter dem Magazin. So einfach kommt er mir nicht davon. Seitdem ich in seinem Arbeitszimmer war, brennt mir ohnehin die Frage auf der Seele, warum sich ein Callboy für diese Themen interessiert.
„Brauchst du das für deinen Beruf? Ich meine, stehen da vielleicht Tipps drin, wie du Frauen noch besser verwöhnen kannst? So nach dem Motto Die neuesten erogenen Zonen oder wie Sie mit Finanzmanipulationen zum ersten Orgasmus kommen?“ Das war etwas ironisch, aber ich habe den Eindruck, dass ich Christian aus der Reserve locken muss, wenn ich mehr erfahren möchte. Außerdem bin ich neugierig. Sehr neugierig.
„Nein, so etwas steht nicht drin. Warum? Glaubst du, ich sollte meine Fähigkeiten verbessern? Du hast mir einen ganz zufriedenen Eindruck gemacht.“
Dumm nur, dass ich mich an nichts erinnern kann. „Es war ganz okay“, gebe ich zu, ganz so, als ob ich wüsste, wovon ich rede. Ich kann nur hoffen, dass die Nacht mit ihm kein Desaster war. „Das erklärt aber noch lange nicht, weshalb du dich für so etwas interessierst“, stelle ich fest, um das Gespräch wieder in sichere Bahnen zu lenken.
„Ich hab's mal studiert, das ist alles“, murmelt er und hofft wohl, mich damit zufriedenzustellen. Eigentlich sollte er die weibliche Psyche besser kennen.
„Du hast Betriebswirtschaftslehre studiert? Aber du hast das Studium nicht beendet? Oder wurde ich von einem BWLer verwöhnt, der eigentlich etwas anderes machen könnte, als Frauen zu beglücken?“ Die letzte Frage war nicht ernst gemeint. Aber an Christian scheint diese Ironie spurlos vorbeizugehen.
„Warum nicht? Ist allemal interessanter als die neuesten Änderungen im Steuerrecht, findest du nicht?“
„Als Nächstes erzählst du mir, du hast einen Doktortitel. Aber dafür bist du zu jung.“ Kritisch starre ich ihn an. Irgendetwas an seinem Gesichtsausdruck irritiert mich. Man könnte fast meinen, er amüsiert sich, und zwar auf meine Kosten. „Sag mir, dass ich nicht mit einem Doktor der BWL im Bett war.“
„Würde dich das stören?“
„Ob mich das stören würde? Einen langweiligen BWLer dafür zu bezahlen, Sex mit mir zu haben?“
„Ich hatte nicht den Eindruck, dass du dich gelangweilt hast.“ Christian sieht mich mit einem dieser Blicke an, die eine Frau ausziehen. Dabei lächelt er amüsiert. Mir war es lieber, als er auf den Bildschirm geschaut hat, denn mir wird heiß. Es wird Zeit, von diesem Thema wegzukommen.
„Wie kannst du einen Doktortitel haben? Du bist ein Callboy!“
„Was soll ich sagen?“ Christian breitet die Arme aus. „Ein bisschen Bildung hat noch niemandem geschadet.“
„Haha. Sehr witzig. Außerdem siehst du viel zu jung aus, um schon einen Doktortitel zu haben.“
„Wie alt schätzt du mich denn?
„Keinen Tag älter als siebenundzwanzig.“
„Nicht schlecht. Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt.“
„Dann bist du also so was wie eine Intelligenzbestie?“
„Nein, so viel klüger als der Durchschnittsmensch bin ich nicht.“
„Wie klug?“
Christian zuckt mit den Schultern. „Meinen Studienabschluss habe ich mit Summa-cum-Laude gemacht, aber das ist nichts Besonderes. Irgendwie muss man sich ja hervortun, um eine Doktorarbeit zu bekommen.“ Das sagt er so, als würde er das Thema am liebsten gleich wieder fallenlassen. Dabei wird es jetzt erst interessant.
„Was machst du dann als Callboy? So ein kleines Wunderkind wie du muss doch eine Menge Geld verdienen!“
Christian seufzt. Anscheinend merkt er, dass er so einfach nicht davonkommt. Und damit hat er vollkommen recht.
„Weißt du, wie langweilig das ist, wenn man sein ganzes Leben lang nichts anderes macht, als zu lernen und zu arbeiten? Ich hatte es satt, perfekt zu sein. Ich wollte Spaß haben, Frauen kennenlernen, Freunde haben. Nur das machen, was ich machen will. Mir darüber klar werden, was ich wirklich will. Verstehst du das?“
„Hört sich nicht so an, als ob du viel Spaß gehabt hättest.“
„Eben. Und mit den Frauen war es noch schlimmer. Ich kam meistens gar nicht erst dazu, eine Beziehung anzufangen, weil ich keine Zeit hatte. Erst habe ich mich auf mein Abitur konzentriert, dann aufs Studium, danach auf die Arbeit. Wenn ich mal eine Beziehung einging, war das nie von langer Dauer. Die Damen fanden alle, ich hätte nicht genug Zeit für sie.“
„Vielleicht war das nicht der einzige Grund.“
„Ach ja. Was glaubst du denn, woran es lag?“
„Hast du schon einmal daran gedacht, es könnte an deiner Art liegen?“ Ich grinse ihn an. Den kleinen Seitenhieb konnte ich mir nicht verkneifen.
„Wie meinst du das?“
„Christian. Wir sitzen hier nebeneinander auf der Couch und schauen fern. Und was machst du? Du liest eine langweilige Fachzeitschrift! Wenn du das interessanter findest als mich, kann ich dir auch nicht helfen.“
Mist. Verdammt. Das hatte ich nicht sagen wollen. Christian ist meine vorschnelle Antwort nicht entgangen. Mit einem Grinsen legt er die Zeitung weg, beugt sich zu mir hinüber. Zur Sicherheit rücke ich ein Stück von ihm ab. Er soll nicht glauben, dass das eine Einladung war.
Aber so leicht lässt er sich nicht abschütteln.
„Hast du Angst vor mir?“ Seine Augen funkeln, als er mich beobachtet. Warum muss ich mich immer in diese Situationen manövrieren?
„Pffh. Träum weiter“, entgegne ich cool und konzentriere mich wieder auf Russell Crowe. Der ist wenigstens in sicherer Entfernung.
„Na, dann wird es dir ja nichts ausmachen, wenn ich etwas näher komme.“
Als sei ich tief in das Geschehen auf dem Bildschirm versunken, antworte ich nicht, versuche die Tatsache zu ignorieren, dass er jetzt direkt neben mir sitzt.
„Kannst du nicht ein bisschen Platz machen?“, murmele ich und versuche, noch etwas abzurücken. Aber es geht nicht, ich müsste mich auf den Boden setzen, um noch weiter von ihm wegzukommen.
„Ich dachte, du langweilst dich. Hast du nicht selbst gesagt, ich könnte etwas Besseres tun, als Zeitschriften zu lesen?“
„Das war nur ein Beispiel. Um dir deutlich zu machen, was deine Verflossenen gestört haben könnte.“
„Und? Stört es dich auch?“ Diese letzten Worte flüstert er. Er lehnt sich zu mir herüber, seine Augen halten meinen Blick fest, scheinen nach einer Antwort auf eine unausgesprochene Frage zu suchen. Und dann langsam, ganz langsam, als wollte er sicher sein, dass ich mir genau überlegen kann, ob ich von ihm geküsst werden will, streifen seine Lippen mein Haar, wandern zu meinen Ohren. Verweilen.
„Ich kann mir einiges vorstellen, was ich wesentlich interessanter fände“, flüstert er. Und dann küsst er mich. Wie von selbst schlingen sich meine Arme um seinen Hals. Ich will ihn nicht loslassen, nie wieder … Nie wieder? Mit einem Ruck setze ich mich auf. Ich muss verrückt sein. Ich habe mir geschworen, nichts mit ihm anzufangen. Nicht schon wieder auf den falschen Mann hereinzufallen.
„Du hast recht. Lass uns hochgehen. Hier ist es zu eng“, Christian hat offensichtlich nicht gemerkt, dass sich meine Stimmung geändert hat. Er steht auf und zieht mich hinter sich her, bleibt am Fuß der Treppe stehen. Küsst mich, während in meinem Kopf die Fragen durcheinanderwirbeln. Nur, um sich in wenigen Sekunden in nichts aufzulösen. Er küsst so gut. Und es ist ja nicht so, als müsste ich ihn gleich heiraten. Ich weiß genau, worauf ich mich einlasse. Es ist nur ein kleines Abenteuer.
Bevor ich weiter nachdenken kann, liege ich auch schon nackt auf dem Bett, während sich Christian gerade die Jeans auszieht. Mit einem zufriedenen Seufzer schließe ich die Augen, atme seinen Duft ein. An so etwas könnte ich mich gewöhnen.
Und dann klingelt das Telefon.
„Ignorier es“, murmelt Christian und küsst meinen Bauch.
Die Melodie von Mission Impossible ertönt. Sein Handy.
„Verdammt.“
„Lass es klingeln“, raune ich und ziehe ihn wieder zu mir hinab.
Der Säbeltanz. Ein zweites Handy. Frustriert starre ich die Zimmerdecke an. Das kann nicht wahr sein!
„Wie viele Handys hast du?“
„Zu viele.“ Christian drückt mir einen Kuss auf die Stirn, und ich weiß, dass damit unsere Nacht beendet ist. „Tut mir leid, ich muss da rangehen.“
Noch bevor ich etwas entgegnen kann, ist er weg. Enttäuscht liege ich im Bett und frage mich, warum ein Callboy ein Handy hat, dessen Anrufe er beantworten muss. Mir fällt nur eine Antwort auf diese Frage ein, und sie gefällt mir nicht.