18
Noch bevor ich Nana sehe, höre ich Ginos überschwängliche Begrüßung.
„Bella, Bellissima! Madonna!“ Sämtliche Köpfe im Restaurant drehen sich Richtung Eingang. Und sie werden nicht enttäuscht. Wie immer ist Nanas Auftritt spektakulär. Flankiert von zwei reinrassigen Dalmatinern, deren Halsbänder selbst in der sanften Beleuchtung des Restaurants funkeln, als wären sie mit Diamanten besetzt, strebt sie meinem Tisch zu. Selbstverständlich dem besten Tisch im Restaurant. Nana würde sich niemals dazu herablassen, mit dem zweitbesten zufrieden zu sein. Nicht, dass Gino es wagen würde, daran auch nur zu denken.
Nanas kurzer Weg bis zu mir wird von seinem Redeschwall begleitet. Nie habe ich so viele „Madonnas, Signorinas, Bellas und Bellissimas“ gehört, wie in diesen wenigen Minuten. Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass Gino einen zusammenhängenden Satz von sich gegeben hat. Es klingt eher wie die Anbetung einer Göttin. Und so ähnlich sieht Nana auch aus.
Sie ist eine Vision in weißem Leder. Ich kenne nur wenige Menschen, die ein solches Outfit tragen können, ohne lächerlich zu wirken. Aber meine über siebzigjährige Großmutter gehört dazu.
Bei mir angekommen, begrüßt sich mich mit zwei gehauchten Küssen auf die Wange und setzt sich. Wie durch Zauberhand erscheint ein Eiskühler neben unserem Tisch. Sekunden später halten wir beide ein gefülltes Glas in der Hand.
„Schatz, du siehst erschöpft aus“, stellt sie fest, nachdem wir das Begrüßungsritual hinter uns gebracht haben.
„Ich weiß. Es ist nur, die Sache mit Ron nimmt mich ganz schön mit“, gebe ich mit einem Seufzer zu.
„Vergiss ihn. Er ist es nicht wert, dass du seinetwegen traurig bist. Sei froh. Ron zu verlassen, war richtig. Aber das weißt du ja bereits.“ Mit einem Lächeln hebt sie ihr Glas. „Auf die Liebe!“
Mit einer Grimasse, die man mit viel Wohlwollen ebenfalls als Lächeln deuten könnte, nehme ich einen Schluck. Die Liebe ist so ziemlich das Letzte, worauf ich trinken will.
„Mach nicht so ein Gesicht“, werde ich prompt von ihr ermahnt. „Etwas Besseres, als die Trennung von Ron konnte dir nicht passieren. Die Welt ist voll faszinierender, gut aussehender Männer.“
Nana hat gut reden mit ihrem jugendlichen Liebhaber, denke ich, behalte diese Überlegung aber für mich. Noch bin ich nicht bereit, um mit ihr über „Liebe im Alter“ zu diskutieren.
„Versprich mir eines“, unterbricht sie meinen Gedankengang. „Versprich mir, dass du der Liebe eine Chance geben wirst. Und zwar bald. So schnell wie möglich.“
„Also, ich weiß nicht. Ich brauche erst einmal Zeit …“
„Papperlapapp, Zeit. Niemand braucht Zeit. Glaube mir, die Jahre vergehen schneller, als du denkst, und ehe du dich versiehst, bist du alt.“
„Nana, ich bin noch nicht bereit, das Risiko einzugehen, verletzt zu werden. Nicht, nachdem Ron mich zum Narren gehalten hat und ich gerade dabei bin, meine Hochzeit abzusagen.“ Bei dem Gedanken an das, was mir noch bevorsteht, nehme ich einen weiteren großen Schluck Champagner. Wenn mein Leben so weitergeht, werde ich zur Alkoholikerin.
„Versprich es mir“, drängt sie. Mit einem Seufzer gehorche ich.
„Okay, ich verspreche, dass ich der Liebe wieder eine Chance geben werde“ … vielleicht in zehn Jahren.
„Und zwar, sobald du ihr begegnest“, fährt Nana fort, als hätte sie meine Gedanken gelesen.
„Okay, so bald wie möglich“, stimme ich zu. Das kann ich leicht versprechen, denn es wird nicht so schnell passieren. Da bin ich mir sicher.
Mit einem sanften Klirren stoßen wir darauf an. Wie perlende Seide gleitet das Getränk meine Kehle hinab. Wenn das Leben immer so angenehm wäre! Mit Nana in einem schönen Restaurant sitzen, Champagner trinken und so tun, als würde die Zukunft etwas Gutes für mich bereithalten.
„Und in der Zwischenzeit solltest du dir so viel Spaß gönnen wie möglich“, setzt sie ihre Belehrungen in Sachen Lebensweisheit, Männer und Liebe im Allgemeinen, fort. Inzwischen sind wir beim Espresso angelangt.
„Nana, ich weiß, dass du recht hast, aber glaube mir, im Moment habe ich kein Interesse. Ich will nur in Ruhe gelassen werden.“
„Dann wenigstens eine Affäre, wenn du dich schon nicht verlieben willst.“
Christian.
Wie auf Kommando taucht sein Name in meinen Gedanken auf. Aber das ist keine Affäre, sondern eine bezahlte Dienstleistung, an die ich mich noch nicht einmal erinnern kann. Trotzdem. Während Christian bei mir war, habe ich mich so gut, wie lange nicht mehr gefühlt. Voller Leben. Energiegeladen. Schön. So, als sei ich begehrenswert.
„Tamara. Hörst du mir zu?“ Nana sieht mich fragend an. Was sie wissen wollte, ist mir ein Rätsel, denn ich war mit den Gedanken woanders.
„Ja, ähm … Genau“, stimme ich in der Hoffnung zu, das Richtige zu sagen. Ich hätte zugeben können, dass ich nicht bei der Sache war, an etwas anderes gedacht habe. Aber dann will sie wissen, was mir durch den Kopf ging, und das möchte ich selbst Nana gegenüber nicht zugeben. Es soll mein kleines Geheimnis bleiben, mit wem ich mich neuerdings vergnüge.
„Schön, dann wäre das also geklärt. Es freut mich, dass du Carlos kennenlernen willst!“
Carlos? Wer ist Carlos? Panik steigt in mir auf. Carlos kann nur Nanas neuer Freund sein. Wenn meine Mutter erfährt, dass ich mich bereit erklärt habe, ihn zu treffen, wird sie mich jeden Tag mit Telefonanrufen bombardieren und mir bis an mein Lebensende Vorhaltungen machen.
Aber vielleicht gibt es eine andere Möglichkeit. Vielleicht kann ich ihr klarmachen, mein Treffen mit Carlos sei eine gute Idee gewesen. Wie soll ich Nana einen Mann ausreden, den ich nie getroffen habe? Wenn ich ihr davon abraten soll, muss ich mich vorher überzeugen, dass er tatsächlich nicht der Richtige für sie ist. Genau! Mit einem zufriedenen Seufzer lehne ich mich wieder zurück. Auf diese Art und Weise kann ich wenigstens so tun, als würde ich mein Versprechen ernst nehmen und tatsächlich versuchen, Nana zu den Ansichten meiner Mutter zu bekehren.