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Stunden später bin ich auf dem Weg nach Bad Soden, der Stadt, in der ich aufgewachsen bin. Christian hat unter seinem Namen für mich ein Auto gemietet. Dieses Mal habe ich mich für einen Audi TT entschieden. Ich wollte schon immer einen TT haben, aber Ron war der Meinung, alles was nicht Mercedes oder BMW heißt, sei unter seiner Würde …, und damit auch unter der Würde seiner zukünftigen Frau.

Jetzt aber lasse ich mir den Wind ins Gesicht blasen, denn es ist eine wunderschöne laue Sommernacht. Christian hat mir ein Cabrio besorgt, und so kann ich das Wetter in vollen Zügen genießen.

Der GPS-Sender, den er an Rons Auto befestigt hat, zeigt als letzte Adresse eine Straße in Bad Soden in der Nähe des Reitstalls an. Zuvor hat ihn sein Weg in ein kleines Hotel im Frankfurter Westend geführt. Nachdem ein Zwanzig-Euro-Schein den Besitzer gewechselt hat, habe ich erfahren, dass er sich dort ein Zimmer gemietet hat. Nachdenklich fahre ich weiter. Mit dieser Entwicklung habe ich nicht gerechnet. Ich war mir ziemlich sicher, Ron würde bei seiner Freundin wohnen. Was aber will er hier? Vor allem um diese Tageszeit? Es ist kurz nach zwölf Uhr nachts, was normale Besuche ausschließt.

Ich rausche am Eschborner Kreuz vorbei und nehme wenig später die Ausfahrt nach Bad Soden. Es dauert nicht lange, und ich biege in die Kronberger Straße ein, fahre den Hügel zum Reitstall hinauf. Und dann geht es auch schon links in das Wohngebiet, in dem etliche Villen zu finden sind. Kein Wunder, denn der Blick über das Rhein-Main-Gebiet bis nach Frankfurt ist atemberaubend.

Obwohl ich das Ganze am liebsten so schnell wie möglich hinter mich bringen würde, halte ich mich an die Geschwindigkeitsbegrenzung. Krieche mit 30 Stundenkilometer durch das Wohnviertel und fahre langsam an der Adresse vorbei, die als letzte vom GPS-Sender aufgelistet wurde. Drehe am Ende der Straße um, fahre wieder an dem Haus vorbei. Nichts. Keine Spur von Rons Mercedes.

 

„Vielleicht hat er sein Auto in einer Garage abgestellt“, keucht Christian neben mir.

Es ist fünf Uhr morgens, und wir flitzen durch die Frankfurter Innenstadt. Christian behauptet, ich hätte ihn geweckt, als ich ruhelos in seinem Wohnzimmer auf und ab gelaufen bin. Nachdem ich von meiner gestrigen Erkundungstour zurückkam, konnte ich nicht schlafen. Die neue Entwicklung beschäftigte mich zu sehr.

Mittlerweile bin ich sicher, dass Ron alle wichtigen Unterlagen in seinem Bürosafe aufbewahrt. In diesen Dingen ist er sehr vorsichtig, würde solche Dokumente nicht mit in ein Hotel nehmen. Nachdem ich fast einen Trampelpfad in Christians Teppich gelaufen hatte, kam er herunter. Die Haare noch vom Schlafen zerzaust. Er war es, der den Vorschlag machte, die frühe Stunde zu nutzen und meinem neuen Hobby zu frönen. Schließlich bin ich seit Kurzem die stolze Besitzerin von Rollerblades.

Fast schwerelos sausen wir durch die Stadt, die noch immer schlafend vor uns liegt. Es sind kaum Autos unterwegs, und so können wir auf der Straße laufen, rasen in einem irrwitzigen Tempo die Bockenheimer Landstraße entlang.

„Also, was meinst du?“, fragt Christian, nachdem ich seine vorherige Bemerkung nicht kommentiert habe. Das Bild eines Garagentors taucht vor meinem inneren Auge auf. Eines sehr großen Garagentors. In dem niedrigen Bau, der direkt an das Haus anschließt, haben mindestens zwei Autos Platz.

„Du hast recht, das Haus hat eine Doppelgarage. Wahrscheinlich hat Ron seinen Mercedes dort abgestellt.“

„Was machen wir jetzt? Sehr viel schlauer als vorher sind wir nicht geworden.“ In seinen Worten schwingt eine unausgesprochene Anklage mit. Er ist sauer, weil ich ohne ihn nach Bad Soden gefahren bin. Schließlich sei es sein Job, auf mich aufzupassen, meinte er.

„Wir wissen jetzt immerhin, wo die Drei Linden Straße ist.“ Mit einem Grinsen schaue ich zu ihm hinüber.

„Toll, das hätten wir auch durch Google Maps herausfinden können.“

Zufrieden registriere ich, dass er anfängt zu schwitzen. Dieser Mann hat eine enorme Kondition. Ich dachte schon, er würde die Anstrengung überhaupt nicht bemerken, die mich jetzt dazu zwingt, das Tempo zu verlangsamen. Dabei tue ich so, als würde ich die Alte Oper bewundern, die vor uns liegt.

„Gut, du Superhirn. Was schlägst du vor?“

„Das ist einfach“, erwidert er und grinst mich an. „Du bezahlst mich dafür, dort hinzufahren und Ron nachzuspionieren. Mich kennt niemand, also wird auch niemand auf die Idee kommen, ich würde ihn beobachten.“

„So langsam geht mir das Geld aus. Du bist ganz schön teuer.“

„Mach dir keine Sorgen. Das ist noch in den tausend Euro drin, die du mir bezahlt hast. Schließlich hatte ich schon lange nicht mehr so viel Spaß.“

 

Schließlich hatte ich schon lange nicht mehr so viel Spaß. Christians Worte kreisen durch meinen Kopf, als ich vor Nanas Haustür stehe. Ich wünschte, ich könnte das Gleiche sagen, aber ich habe Angst vor diesem Abend. Heute werde ich Carlos kennenlernen. Nanas „jugendlichen“ Liebhaber, wie meine Mutter sagen würde.

Die Tür wird von Nanas Haushälterin geöffnet, und ich trete ein. Stimmengewirr und die Klänge eines Klaviers dringen bis in die Halle vor. Mit einem tiefen Atemzug gehe ich in den Wintergarten hinüber, dort werde ich Nana und ihre Gäste finden. Ich kenne mich aus, denn es ist nicht meine erste Einladung zu einer von Nanas kleinen Dinnerpartys. „Klein“ bedeutet, etwa zwanzig handverlese Freunde und Bekannte, während das Wort „Dinnerparty“ dafür verantwortlich ist, dass ich eine Lagerfeld-Kreation trage und meinen Schmuck aus dem Banksafe geholt habe. Jetzt komme ich mir vor wie ein teuer dekorierter Weihnachtsbaum.

Egal. Wichtig ist, diesen Abend zu überstehen und mir ein Bild von Carlos zu machen … Und dann werde ich mit Nana reden.

„Schatz. Wie schön dich zu sehen!“ Nana umarmt mich und hüllt mich in eine Wolke teuren Parfüms ein. Dann nimmt sie meine Hand. „Komm. Ich muss dir Carlos vorstellen.“ Ihr Gesicht leuchtet, als sie seinen Namen sagt, und ich treffe eine Entscheidung. Nana ist glücklich. Wenn es dieser Mann schafft, ein solches Strahlen in ihr Gesicht zu zaubern, muss er etwas richtig machen, und ich werde die Letzte sein, die Nana ihre Freude verdirbt.

Während ich diesen inneren Monolog führe, zieht Nana mich in einen Seitenraum. Dort, in ein Gespräch versunken, finden wir zwei Männer.

„Liebling. Ich möchte dir jemanden vorstellen“, spricht Nana einen der beiden an. Etwas verwundert registriere ich die grauen Haare, als sich der Angesprochene zu mir umdreht. Das kann nicht Carlos sein. Dieser Mann ist mindestens sechzig Jahre alt, wenn nicht älter.

„Es ist mir ein Vergnügen. Sie müssen Tamara sein. Nana hat schon so viel von Ihnen erzählt. Mein Name ist Carlos de Ballesteros.“

Glücklicherweise übernimmt meine Erziehung die Regie. Wie von selbst murmele ich die richtigen Worte, schüttele seine Hand und ziehe mich kurz darauf zurück, um meine Gedanken zu ordnen. Dann aber muss ich lachen. Nana hat es mal wieder geschafft: Sie hat meine Mutter zur Weißglut gebracht, indem sie sie annehmen ließ, Carlos sei jünger als ich. Ich muss grinsen, wenn ich mir vorstelle, wie meine Mutter dem „jugendlichen Liebhaber“ zum ersten Mal begegnet.

 

Trau niemals einem Callboy!
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