5
Die Leiche muss weg. Zumindest so weit, dass sie von der Terrasse aus nicht mehr zu sehen ist. Ich komme mir vor wie ein chinesischer Kuli. Jetzt weiß ich, wie es sich anfühlt, fette Touristen in einer Rikscha durch die Gegend zu kutschieren.
Wieder das Klingeln. Verdammt. Fünf Meter noch. Plötzlich ein Geräusch, das mir eine Gänsehaut über den Rücken jagt.
Die Türschlösser öffnen sich. Eines nach dem anderen. Da unser Eingang wie Fort Knox gesichert ist, dringen die Geräusche bis hier auf die Terrasse. Das kann nur meine Mutter sein.
Zwei Meter noch.
Der große Balken, der quer über der Tür liegt, quietscht. Den sollte Ron schon seit über einem Jahr ölen.
Eineinhalb Meter.
Jetzt fehlt nur noch das obere Schloss. Das Geräusch ist eigentlich zu leise, um es zu hören. Ich könnte schwören, dass ich das leise Klicken trotzdem wahrgenommen habe. Jetzt ist sie drin.
Ein Meter.
Mit einem heftigen Ruck zerre ich die Plane die letzten Zentimeter um die Ecke. Lasse das Ende los und sprinte ins Haus. Fast schlitternd komme ich vor meiner Mutter zum Stehen. Diese mustert mich ungläubig von oben bis unten. Fängt wieder oben an, öffnet den Mund, um etwas zu sagen. Schließt ihn. Ist offensichtlich sprachlos. Ein Wunder.
„Tamara, wie siehst du denn aus?“
Leider hat ihre Sprachlosigkeit nicht lange angehalten. Mit einer Hand wische ich mir den Schweiß von der Stirn und versuche mit der anderen, meine Haare in Form zu bringen. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass das ein aussichtloses Unterfangen ist. Als ich den Gartenhandschuh anschaue, entdecke ich schwarze Striemen. Bei meinem Glück zieht sich jetzt eine schwarze Spur durch mein Gesicht. Ich bin mir fast sicher, dass die Entdeckung einer Leiche meine Mutter weniger geschockt hätte als mein derzeitiges Aussehen.
„Ich hatte noch im Garten zu tun.“
„Aber das macht doch sonst immer Ron!“
„Der kommt erst am Mittwoch und ich wollte schon einmal den Sperrmüll herrichten ...“
„Muss das sein? Du siehst aus …, ich weiß gar nicht, wie ich es ausdrücken soll. Du siehst unmöglich aus. So aufgelöst habe ich dich noch nie erlebt.“
„Es ist heiß und schwül. Was glaubst du denn, welchen Eindruck jemand hinterlässt, der bei diesem Wetter Lei … Sachen durch die Gegend zerrt?“
„Kein Grund, pampig zu werden. Am besten duschst du erst einmal, dann zeige ich dir die Muster.“
„Du wolltest doch erst morgen kommen?“
„Ich musste direkt an deinem Haus vorbei. Da macht es ja keinen Sinn, morgen noch einmal die Umwelt zu verschmutzen.“
Ja, klar. Natürlich! Unser Haus liegt mitten in einem Wohngebiet. Meine Mutter hat keinen anderen Grund als einen Besuch bei mir, um hier vorbeizufahren.
„Und jetzt dusche endlich.“ Sie rümpft die Nase. „Du riechst ganz verschwitzt.“
Super. Der Gedanke, meine Mutter mit einer Leiche allein zu lassen, die nur wenige Meter von ihr entfernt hinter der Garage liegt, erfüllt mich mit Schrecken. Sie hat einen siebten Sinn, einen eingebauten Radar, die sie alles entdecken lassen, was ich vor ihr verbergen will. Dann fällt mein Blick auf ihre Schuhe. Cremefarbene Stilettos. Vielleicht ist mir Gott heute doch noch gnädig.
„Und sollte nicht längst eure Putzfrau da sein? Hier sieht es aus, wie …“ Der Blick meiner Mutter fällt auf den Hocker, der im Rahmen meiner Aufräumaktion umgefallen ist, mitsamt der Leiche …
„Und was ist das?“ Sie zeigt auf den Blumenkübel. Verdammter Mist. Es entgeht ihr aber auch nichts. Sie hätte Polizistin werden sollen.
„Das war die Katze. Von unserem Nachbarn. Muss sich über Nacht hier hereingeschlichen haben. Ich bringe das verdammte Vieh um.“
„Tamara!“ Meine Mutter schaut mich erschrocken an. Nicht weil ich die Katze umbringen will, sondern weil ich geflucht habe. Das tue ich sonst nie … jedenfalls nicht in ihrer Gegenwart.
„Naja, es ist aber auch ein blödes Mistvieh.“ Upps.
„Ich glaube, du duschst jetzt besser. Du weißt ja gar nicht, was du redest.“
Ich kann es zwar nicht sehen, aber ich weiß genau, dass sie mir mit einem Kopfschütteln hinterherschaut. Egal. Meine Kräfte für eine weitere Konfrontation sind erschöpft. Eigentlich war der Tag noch ganz in Ordnung, als es nur um die Leiche und mich ging.
Als ich in den Spiegel schaue, kann ich das Entsetzen meiner Mutter verstehen. Ich sehe wie eine Irre aus. Vor Kurzem hatte ich noch so etwas wie eine Frisur, jetzt aber stehen mir die Haare in wilden Locken vom Kopf ab. Über meine Wange ziehen sich zwei schwarze Streifen, die von zwei ebenso schwarzen Augenringen ergänzt werden. Ich hatte wohl mit meiner Vermutung recht: Als ich den Beamten so hastig die Tür öffnete, war ich tatsächlich nur zur Hälfte geschminkt. Die gute Nachricht ist, dass das bei meinem derzeitigen Zustand kaum auffällt.
Mit einem Seufzen mache ich mich daran, den Schaden zu beheben. Dann höre ich die Türklingel. Nicht schon wieder. Trotzdem mache ich mit meiner Reinigungsaktion weiter. Wenn jemand mit ungebetenem Besuch fertig wird, dann meine Mutter.
„Tamara? Der Herr hier sagt, er soll neue Türschlösser anbringen“, sagt meine Mutter, nachdem ich wieder unten bin.
Neben meiner Mutter steht ein Mann in einem dunkelblauen Overall. Express Schlüsseldienst prangt in roten Buchstaben auf seiner Brust. Tatsächlich.
„Sollten Sie nicht erst in einer Stunde da sein?“
Mit einem Grinsen zeigt er auf den Firmennamen. „Wir sind die Schnellsten und Besten“, verkündet er.
Toll. Ausgerechnet heute kommt ein Handwerker zu früh. Ich kann den fragenden Blick meiner Mutter spüren. Ich weiß, wie es in ihrem Gehirn arbeitet. Dafür werde ich eine gute Erklärung brauchen.
„Sämtliche Schlösser an der Eingangstür müssen ausgewechselt werden. Wie lange wird das dauern?“
Nachdenklich mustert er das, was auch einen Banksafe hätte sichern können. Ich kann es ihm nicht verdenken, ich fand es auch etwas übertrieben von Ron, als er, zusätzlich zum vorhandenen Türschloss und unserer Alarmanlage, ein Sicherheitsschloss und einen Riegel installieren ließ.
„Zwei Stunden. Mindestens.“
Zwei Stunden? „Ich gebe Ihnen hundert Euro extra, wenn Sie es in einer Stunde schaffen.“
Er grinst. „Okay. Ist so gut wie erledigt.“
„Tamara, bist du noch zu retten? Willst du euer Geld mit allen Mitteln aus dem Fenster werfen?“ Uff. Sparsam bis in den Tod. Selbst wenn es nicht ihr eigenes Geld ist. Wenigstens hat sie das von dem eigentlichen Thema abgelenkt.
„Ich habe heute keine Zeit. Das habe ich dir doch schon gesagt. Wo sind die Muster?“
Mit zweifelndem Blick und einem Kopfschütteln packt sie die Stoffe aus. Ich atme innerlich auf. Geschafft. Die Leiche ist außer Sichtweite und meine Mutter mit den Gedanken bei ihrem Lieblingsthema, der Einrichtung und Neugestaltung unseres Hauses. Auch wenn ich nicht weiß, wie ich auf die dämliche Idee kam, noch vor unserer Hochzeit das Wohnzimmer neu dekorieren zu wollen.
„Findest du nicht, dass dieses zarte Lila ganz wundervoll zu eurer weißen Couch passen würde?“
„Äh. Ja ... Nein. Wir wollen eine schwarze Couch kaufen. Schwarz und viel Chrom.“ Da sieht man das Pulver für die Fingerabdrücke nicht drauf.
Meine Mutter sieht mich entgeistert an. „Schwarz und Chrom? Aber du hasst Schwarz und Chrom!“
„Ich finde, unsere Einrichtung ist viel zu konservativ. Schwarz und Chrom sind gerade enorm in, und dazu passen silberfarbene Vorhänge.“ Mit diesen Worten schiebe ich sie Richtung Tür. „Tut mir leid, ich hätte dir früher sagen sollen, dass ich meine Pläne geändert habe, aber der Gedanke ist mir erst heute Morgen gekommen.“ Nachdem ich eine Leiche gefunden habe und im Geiste schon die freundlichen Polizeibeamten sehe, die mich in Handschellen abführen. „Du musst jetzt wirklich gehen. Der Florist kann jeden Augenblick kommen, der Caterer ...“ Wer noch? Irgendwen hatte ich doch heute Morgen noch aufgezählt.
„Gut. Aber wir telefonieren heute Abend. Irgendetwas stimmt nicht mit dir, Tamara. Geht es dir wirklich gut?“
Mist. Niemand ist schlimmer als meine Mutter, wenn sie sich Sorgen um mich macht. „Ja, ja. Alles in Ordnung. Mir geht es blendend. Nur ein bisschen gestresst heute. Bin froh, wenn die Woche hinter mir liegt.“
Endlich. Sie ist weg.
Der Schlosser werkelt wie ein Wilder an unserer Tür herum. Der ist bestimmt auch bald fertig.