34

 

„Was soll das?“ Beunruhigt starre ich in das schwarze Wasser. Leise flüsternd fließt der Main an uns vorbei. Die dämmrigen Laternen der Uferpromenade malen düstere Kreise auf das Wasser.

„Du stellst zu viele Fragen und erzählst zu wenig.“ Christian macht eine auffordernde Handbewegung. „Los, steig aus! Und nimm deine Handtasche mit.“

„Sage mir erst, was du vorhast.“

Ohne zu antworten, knallt Christian die Fahrertür zu und öffnet kurz darauf meine Beifahrertür. „Raus jetzt, bevor ich wirklich wütend werde.“

„Nein.“

„Okay, dann eben nicht.“ Christian nimmt meine Handtasche, wirft die Autotür zu und geht die Uferpromenade hinab. Zögernd steige ich aus. Anscheinend hat er nicht vor, mich umzubringen, auch wenn ich mir vor wenigen Minuten noch in diesem Punkt nicht so sicher war. Neugierig folge ich ihm. Bleibe an einem der Picknicktische stehen und sehe zu, wie er den Inhalt meiner Handtasche ausleert.

„Was soll das?“

Mit einem Seufzer schaut er zu mir auf. „Ist Ron ein Hellseher?“

„Nein.“

„Siehst du, das dachte ich mir.“ Christian wühlt in dem Kleinkram herum, der vor ihm auf dem Tisch liegt. „Wozu braucht ihr Frauen all das Zeug?“

Meine Knie zittern noch immer von der Fahrt, und so setze ich mich, bevor er es bemerken kann. „Sagst du mir endlich, was du vorhast?“

„Wie wäre es, wenn du für ein paar Sekunden deine grauen Zellen benutzt?“

„Meine letzten grauen Zellen sind auf der Fahrt hierher draufgegangen.“

„Wie glaubst du, schafft es der liebe Ron, dich jedes Mal zu finden?“

Es juckt mir in den Fingern, alles wieder einzuräumen, als ich mit ansehen muss, wie er meine teure Platinkollektion von Shiseido achtlos zur Seite schiebt. Der Mann hat ja keine Ahnung, was das alles gekostet hat.

„Ich weiß es nicht. Am Anfang dachte ich, es sei die Kreditkarte, aber die habe ich nach dem Vorfall im Mainhatten weggeworfen. Antonio meint, sie hätten mich über mein Handy geortet, aber das habe ich mittlerweile auch gewechselt. Vielleicht hat er einfach nur Glück.“

„Viel zu aufwendig, die Ortung über das Handy“, murmelt Christian, ohne aufzusehen. Dann hält er eine Münze hoch. Hat er jetzt völlig den Verstand verloren?

„Weißt du, was das ist?“ Christian legt etwas auf den Tisch, das auf den ersten Blick wie ein Ein-Euro-Stück aussieht, und schiebt den Rest meiner Sachen in die Tasche zurück.

„Ein Euro?“

„Nein. Das ist kein Geld, sondern der Grund, weshalb wir jetzt ganz schnell von hier verschwinden werden.“

Noch bevor ich antworten kann, steht er auf und geht zum Auto. Der Mann macht mich verrückt. Trotzdem folge ich ihm. Lieber sterbe ich in einem Ferrari, als dass ich darauf warte, von einer dunklen Gestalt in den Main gestoßen zu werden.

 

„Ron hat dir einen GPS-Sender untergejubelt. So kann er über das Internet verfolgen, wo du gerade bist. Auf die Hausnummer genau“, erklärt Christian, während wir durch Frankfurt rasen.

„So ein Mistkerl.“ Ein GPS-Sender. Wie hat Ron es geschafft, den in meine Handtasche …? Ein Bild steigt vor meinem inneren Auge auf. Der Tag, an dem ich in seinem Büro war. Der Tag, an dem Ron so überraschend freundlich war, mich umarmt und zum Abschied geküsst hat.

„Aber das war nach dem Mainhatten.

Christian schaut zu mir hinüber. Mir wäre es lieber, er würde auf die Straße achten, denn er rast mit fast 180 Stundenkilometern durch die Stadt. „Sie haben mich doch schon vorher im Mainhatten aufgespürt“, füge ich als Erklärung hinzu.

 „Du hast gerade erzählt, dass du dort mit Kreditkarte bezahlt hast, oder habe ich das falsch verstanden? Das war doch der Grund, weshalb du sie danach zerstört hast.“

„Ja.“ Ich werde rot, wenn ich daran denke. Jedes Kind weiß, man sollte niemals mit Kreditkarte bezahlen, wenn man auf der Flucht ist. Aber damals wusste ich noch nicht, dass ich verfolgt wurde.

 

Mit quietschenden Reifen hält Christian vor dem Hauptbahnhof. Und dann dreht er sich zu mir um und lächelt. Und dieses Mal ist es ein richtiges Lächeln. Eines, das mein Herz höherschlagen lässt. Bei dem mir heiß und kalt wird.

„Und jetzt werden wir den lieben Ron durch Deutschland reisen lassen“, sagt er mit einem Grinsen.

Mit laut hallenden Schritten laufen wir Sekunden später durch das verlassene Bahnhofsgebäude. Einige müde Reisende und zwei Polizisten sind die Einzigen, die uns begegnen. An der Anzeigetafel bleibt er stehen und mustert die Einträge. „Hamburg hört sich gut an, nicht wahr?“

„Sehr gut sogar“, stimme ich zu. Wenig später stehen wir auf Gleis 3. Dort wartet schon der Zug, der in fünf Minuten in den Norden fahren wird.

„Warte hier!“ Christian nimmt den kleinen GPS-Sender und steigt ein. Glaubt er wirklich, ich stehe hier draußen alleine herum, nach allem, was passiert ist? Ich folge ihm, beobachte, wie er die Abteile mustert, bis er ein leeres gefunden hat. Bevor ich es erreiche, steht er wieder vor mir.

„Frauen!“ Christian schüttelt den Kopf und schiebt mich vor sich her. „Könnt ihr nie das tun, was man euch sagt?“

 

„Es tut mir leid“, sage ich wenig später, als wir wieder durch das nächtliche Frankfurt fahren.

„Wovon redest du?“

„Dass ich zu dir gekommen bin. Jetzt hat Ron deine Adresse. Sie werden auch zu dir kommen. Du bist nicht mehr sicher zu Hause.“

„Sie konnten dich nicht orten. Ist dir nicht aufgefallen, dass sie dich nicht jedes Mal aufgespürt haben? Sie hätten dich schon längst in Frankfurt gefunden, bevor du dich mit Ron verabredet hast, oder noch früher, als du mit dem Auto nach Barcelona gefahren bist.“

„Stimmt. Daran hatte ich nicht gedacht. Warum hat der Sender nicht funktioniert?“

Christian grinst. „Weil dein lieber Ron nicht mit den Waffen einer Frau gerechnet hat. Der arme Sender war umzingelt von diesen Metalldosen in deiner Tasche. Das Signal konnte nicht durchkommen, solange du das Zeug mit dir herumgeschleppt hast.“

Metalldosen? So nennt Christian die Platinkollektion von Shiseido, die mich ein kleines Vermögen gekostet hat? Das Geld war gut angelegt. Ich muss lachen, wenn ich mir Rons Gesicht vorstelle. Daran, wie er vor Wut bestimmt fast zerplatzt ist, wenn das Signal mal wieder tagelang verschwunden war, um dann für kurze Zeit aufzutauchen. Und dann wieder zu verschwinden. Und jetzt ist es auf dem Weg nach Hamburg. Mit einem zufriedenen Seufzer lehne ich mich zurück. Jetzt endlich kann ich die Fahrt genießen.

Meine Zufriedenheit findet ein abruptes Ende. Ich hätte es mir denken können.

„Warum hast du nicht die Polizei gerufen? Das ist doch das, was man normalerweise tut, wenn man eine Leiche findet“, fragt Christian.

Mist!

„Also. Das … ist kompliziert … Die Leiche war … mit einem Mal weg.“

„Die Leiche war weg? Für wie blöd hältst du mich?“ Mit einem Ruck kommt der Wagen zum Stehen. Christian beugt sich über mich und öffnet meine Tür. „Raus hier. Mit deinen Lügengeschichten will ich nichts zu tun haben.“

„Warte! Ich weiß, es klingt seltsam, aber lass mich erklären …“

„Da bin ich aber gespannt.“ Christian sieht mich abwartend an. Mir bricht der Schweiß aus. Jetzt rettet mich nur noch der hilflose Ansatz.

„Ich weiß auch nicht, was passiert ist. Ich … ich hatte so eine Angst.“ Das ist noch nicht einmal gelogen. „Ich wusste nur, dass da eine Leiche war. Und ich war panisch. Nachdem ich den Toten entdeckte, bin ich durch das ganze Haus gelaufen. Habe überall nachgeschaut, wollte sichergehen, dass sich außer mir niemand in dem Haus aufhält. Und als ich wiederkam, war er weg. Der Tote, meine ich.“

„Weg? Einfach so?“

„Ja. Ich weiß nicht, vielleicht habe ich mir das Ganze auch nur eingebildet. Ich hatte am Abend zuvor starke Schlaftabletten genommen. Vielleicht war alles nur ein schlimmer Traum oder Halluzinationen.“ Ich finde, ich war ziemlich überzeugend. Wenn ich die Leiche nicht selbst vergraben hätte, würde ich mir glauben.

„Und das soll ich dir abnehmen?“

„Ja.“ Mit einem treuherzigen Augenaufschlag blicke ich ihn an. „Genau so war es.“ Christian schüttelt den Kopf. Seufzt.

„Mach die Tür zu“, sagt er und gibt Gas. Mit einem zufriedenen Lächeln lehne ich mich zurück. Na also. Das war doch gar nicht so schwer.

 

Trau niemals einem Callboy!
titlepage.xhtml
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_000.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_001.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_002.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_003.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_004.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_005.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_006.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_007.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_008.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_009.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_010.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_011.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_012.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_013.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_014.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_015.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_016.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_017.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_018.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_019.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_020.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_021.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_022.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_023.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_024.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_025.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_026.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_027.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_028.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_029.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_030.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_031.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_032.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_033.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_034.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_035.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_036.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_037.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_038.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_039.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_040.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_041.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_042.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_043.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_044.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_045.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_046.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_047.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_048.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_049.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_050.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_051.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_052.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_053.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_054.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_055.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_056.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_057.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_058.html
CR!B859XS7B0H2W33FHHMX8WPVP5WVJ_split_059.html