34
»Peter? Peter!«
Tom, der über mir aufragte.
»Peter, verdammt, wann haben dir diese Pisspötte zum letzten Mal etwas zu essen gegeben? Du bist in Ohnmacht gefallen!«
Ich war nicht in Ohnmacht gefallen; ich war jede einzelne Sekunde lang bei Bewusstsein gewesen, während meine Beine nachgegeben hatten und die Wände des Wagens an mir vorbeigerauscht waren. An jenem Nachmittag auf dem sonnenbeschienenen Hügel, während Jee und Schatten in das Dorf gegangen waren, das sich unter uns ausbreitete, um Brot und Käse zu kaufen. Als Maggie gerufen hatte: »Wenn du also wirklich gehst, kannst du mir das nicht versagen. Das kannst du nicht, oh, das kannst du nicht …« Als ihr Körper warm und weich neben meinem gelegen hatte … Schwanger.
»Hier«, sagte Tom, »iss das!« Er hielt mir einen Apfel hin. »Das Essen steht hier herum, und du kippst um vor Hunger. Manchmal, Peter, denke ich, du hast nicht mal so viel Hirn wie ein Kaninchen.«
»Nein«, sagte ich, »habe ich nicht.«
Schwanger. Ich hatte niemals daran gedacht. Aber vielleicht Mutter Chilton: »Geh zurück dorthin, wo du dieses arme Mädchen zurückgelassen hast, das dich unerklärlicherweise liebt.« Hatte sie gewusst, dass Maggie mein Kind trug?
Neue Schuld drang auf mich ein. Ich hatte Maggie nicht nur in Haryllburg zurückgelassen, ich hatte sie auch schwanger zurückgelassen. Sie schien zurechtgekommen zu sein – Maggie kam immer zurecht –, aber das war keine Entschuldigung. Was hatte Mutter Chilton zu mir gesagt? »Du bist kein Staubkorn, das durch die leere Luft schwebt. Was du tust, hat Folgen …«
Tom sagte: »Nun, jetzt halt diesen Apfel doch nicht nur fest, Peter, iss ihn! Ich werde noch eine Weinflasche aufmachen.«
Mein Kind. Das Kind eines Hisafs, das von einer Frau aus dem Königinnenreich ausgetragen wurde. Wie ich selbst vor siebzehn Jahren. Wie meine Schwester, als meine Mutter im Kindbett gestorben war.
»Tom«, sagte ich rasch, »du kannst nicht mit mir kommen. Du musst zurückgehen und dich um Maggie kümmern.«
»Ich?«
»Ja. Es gibt sonst niemanden, verstehst du nicht? Ich bin hier ein Gefangener. Und ich …«
»Ich gehe nicht zurück und kümmere mich um Maggie. Was, glaubst du, bin ich, Peter, eine Hebamme? Du hast gesagt, dies ist …«, er beugte sich wieder dicht an mein Ohr, »… eine Rebellion, und wir werden du-weißt-schon-wen vergiften, und du willst, dass ich desertiere und mich um eine Frau kümmere?« Er rückte von mir ab und funkelte mich wild an. »Nein.«
»Aber sie hat niemanden, der …«
»Sie hat die Hüttenbewohner, bei denen ich sie gelassen habe. Sie kann dort arbeiten oder im Palast oder irgendwo – sie ist eine Arbeiterin, das ist sie! Zwei zu eins, dass sie wirklich irgendwo gut unterkommt. Außerdem, wenn ich bei ihr wäre, würde sie mir vermutlich weitere Töpfe an den Kopf werfen. Du hast ein zorniges Mädchen geheiratet, Peter. Darauf bin ich nicht neidisch, das sage ich dir.«
Maggie hatte gute Gründe, zornig zu sein. Aber es war klar, dass sich Tom nicht umstimmen ließ. Er streckte sich, gähnte ausgiebig, blickte sich im Wagen um. »Gemütlich, nicht? Ich glaube nicht, dass ich in den letzten beiden Tagen viel geschlafen habe. Nun, vielleicht eine Stunde lang. Ich werde einfach einen von diesen Teppichen ausrollen und … Du solltest auch schlafen, Peter; du wirst deine Kraft brauchen.« Er betrachtete meinen hageren Körper zweifelnd. »Nun, vielleicht nicht deine Kraft, aber deinen ganzen Verstand für … du weißt schon.«
»Tom …«
Aber er schlief schon. Sein massiger Körper nahm die Hälfte des Bodens unseres kleinen Wagens ein.
Ich stieg über ihn hinweg und schob den gelben Vorhang zur Seite. Das Fenster dahinter war vergittert. Es blickte auf die Stadt hinaus, aber die Steinmauern der Insel waren beinahe verborgen in der riesigen Staubwolke, die die Wagen, Tiere und Soldaten aufwirbelten.
Und Maggie? Folgte sie uns irgendwo hinter der Nachhut der Armee zu Fuß? Ich hätte es ihr durchaus zugetraut. In den letzten zweieinhalb Jahren war sie mir vom Palast in die Unbeanspruchten Lande gefolgt, vom Seelenrankenmoor nach Apfelbrück, von Apfelbrück zum Hügel bei Haryllburg, von Haryllburg zu diesem Treck. Auf der anderen Seite – sie trug nun das Kind in sich, auf das sie Rücksicht nehmen musste. Mein Kind.
Wenn es ein Junge war, würde er womöglich auch ein Hisaf sein.
Auf einmal hoffte ich innig, dass Maggie es nicht riskieren würde, mir zu folgen. Wenn mein Vater es schaffte, mich zu retten … Obwohl, wie würde er das tun, wenn er im Kerker des Palastes eingesperrt war? Tatsächlich hatte man ihn vielleicht schon hingerichtet, zusammen mit Lord Robert Hopewell und seinen beiden glücklosen Zellengefährten. Mein Vater war womöglich schon ein dauerhafter Bewohner des Landes der Toten. Aber das glaubte ich nicht. Er hatte sich eigens in den Kerker werfen lassen, um mit mir zu diskutieren, und er würde einen Plan haben, um wieder herauszukommen. Und er musste mich retten, ehe der Junghäuptling erkannte, dass ich ihm die Hexenkunst nicht beibringen konnte. Sonst würde man mich ins Land der Toten schicken, und mein Sohn würde ebenso vaterlos aufwachsen wie ich. Aber zumindest würde dieses Kind Maggie haben, die sich besser um ihn kümmern würde, als sich Tante Jo um mich gekümmert hatte.
Maggie, folge mir nicht weiter. Ich bin es nicht wert.
Zu meinen Füßen schnarchte Tom auf seinem dicken Teppich. Ich rollte noch einen aus, einen dichten, weichen Wollteppich mit Blumenmuster, und streckte mich neben ihm aus. Ich fühlte mich vollständig erschöpft und nahm an, dass ich nicht würde schlafen können. Ich hatte unrecht. In zwei Minuten war ich eingeschlafen, und in drei Minuten kam der Traum. Aber diesmal war er anders.
Nicht von Anfang an. Er begann wie immer. Ein flaches Hochlandmoor mit einem runden Steinhaus. In meinem Mund der Geschmack nach gebratenem Fleisch, saftig und fettig. In den Schatten jenseits meiner Fackel spüre ich Dinge, die man nicht sehen kann. Nicht menschliche Dinge, Dinge, denen ich in diesem Land und in jenem anderen jenseits des Grabes niemals begegnet bin. Unter ihnen ist die Gestalt einer Frau, und die Stimme, die aus dem Dunkel zu mir dringt, ist eine Frauenstimme, und ich kann das Glitzern einer juwelenbesetzten Krone sehen: »Roger. Hisaf.«
»Aber du bist tot.«
»Tot seit elf Jahren«, sagt sie und lässt das Lachen erklingen, bei dem mir die Knochen schaudern.
Bisher hatte der Traum dort immer geendet. Aber nun tritt meine Schwester aus dem Nebel, und ich sehe sie zum ersten Mal. Sie ist keine Frau, sondern ein Mädchen, wenn auch groß. Sie trägt ein einfaches lavendelblaues Kleid wie meine Mutter, aber ohne das Blut auf dem Rock. Ihre Augen sind die meiner Mutter, dunkelbraun, auch wenn die Augen meiner Schwester offen sind, wie es die meiner Mutter nie wieder sein werden. Jene Augen blicken wild; sie blicken wahnsinnig. Und sie spricht mich unmittelbar an, als würde ich den Traum neben ihr bewohnen.
»Du wirst keinen Erfolg haben, Roger. Auch sie nicht. Ich bin die Königin dieses Reiches, und welche Königin gibt willentlich ihren Thron auf? Eleanor hat es nicht getan, Caroline hat es nicht getan, Stephanie tut es nicht. Aber jetzt sind alle drei mein. So wie auch du es sein wirst.« Und wieder das Lachen, bei dem mir die Knochen schaudern.
Ich wachte schreiend auf. Tom schnarchte erstaunlicherweise weiter, und wenn jeder im Palast vor drei Jahren so fest geschlafen hätte, sodass niemand mich im Schlaf hätte sprechen hören, wäre ich jetzt nicht hier. Hier in diesem Treck, der sich in ein unbekanntes Land aufmachte, wo ich auf eine Rettung wartete, an die ich nicht glaubte, und von einem Phantom in einem Reich bedroht wurde, von dem mein Vater behauptete, dass ich den Pfad dorthin betreten durfte, und Mutter Chilton behauptete, ich dürfte es nicht.
Und ich war nicht dorthin gegangen. Meine Schwester war zu mir gekommen. Sie hatte den Schlaf benutzt, diesen kleinen Tod, um den Pfad in meinen Verstand zu betreten, da sie es körperlich nicht zuwege brachte. Sie hatte unmittelbar zu mir gesprochen. »Alle drei sind mein.«
Königin Eleanor, Königin Caroline – sie waren beide tot, ich hatte sie beide dort gesehen, im Land der Toten, ruhig und unwissend. Aber die kleine Prinzessin lebte, wurde von ihrem Bräutigam in einem der Wohnwagen entführt, die neben meinem herfuhren. Stephanie war nicht tot. Auf welche Weise gehörte sie also meiner verrückten Halbschwester?
»So wie auch du es sein wirst.«
Es dauerte lange, bis ich wieder einschlafen konnte. Als es so weit war, musste ich die ganze Nacht durchgeschlafen haben.
Blasses Licht fiel durch einen Spalt zwischen den gelben Vorhängen, und als ich sie zur Seite schob, ging gerade die Sonne auf. Wir hatten angehalten. Neben den Wohnwagen brannten Kochfeuer, über die sich emsig Leute aus dem Königinnenreich beugten. Waren sie Gefangene, Sklaven, Deserteure, Verräter, die den Wilden Gefolgschaft geschworen hatten? Ich hatte keine Ahnung.
Tom regte sich und wachte auf. »Verdammt, bin ich hungrig! Aber zunächst: Wo ist der Pisspott?«
Ich hatte ihn letzten Abend gefunden, hinter einem der zusammengerollten Teppiche. Ehe er benutzt werden konnte, öffnete sich die Tür des Wagens. Ein junger Wilder stand dort. Er sagte etwas Unverständliches und bedeutete mir, nach draußen zu kommen.
»Lass mich vorgehen«, sagte Tom, »falls du dich verteidigen musst.«
Ohne auf ihn zu hören, stieg ich die eine Stufe hinab. Tom fluchte und folgte mir. Man führte uns zu einer einwandfrei ausgehobenen Latrine und dann an eines der Kochfeuer, wo ein stiller Junge dicken Haferschleim in zwei Schalen goss und uns Krüge mit Bier aus einem der großen Fässer reichte. Der Wächter der Wilden beobachtete jede unserer Bewegungen, sein Gewehr in den Händen. Er beobachtete besonders Tom, der sich eher für den jungen Koch interessierte.
»Bist du aus dem Palast entführt worden, Junge?«
Der Junge blickte ihn an. Er war vielleicht vierzehn, in dem Alter, in dem ich Hartah getötet hatte. Der Junge sah aus, als könnte auch er morden. Er hatte kleine, eng zusammenstehende Augen, die vor Abscheu leuchteten, und ein verächtliches Grinsen auf dem breiten Mund. Toms Frage kam ihm eindeutig dumm vor. Dieser Junge war jemand, der sich immer auf die Seite des Siegers schlagen würde, ganz gleich, wer das sein mochte. Es gab andere wie ihn. Er wandte sich von Tom ab, ohne zu antworten, und fing an, den Haferschleimtopf mit Sand auszuscheuern.
Wir waren die Letzten, die aßen. Der Treck machte sich bereits für die heutige Tagesreise fertig. Weit vorn taten Staubwolken kund, dass der Hauptteil der Armee schon unterwegs war. Hinter der Nachhut ging die Sonne rot und golden auf. Unser Wächter bedeutete uns, zurück in den Wagen zu gehen.
»He, du«, sagte Tom zu ihm. »Wir können nicht den ganzen Tag dort drinnen bleiben. Mein … mein Meister braucht Bewegung. Kennst du das, Bewegung? Schau!« Er spielte vor, wie er an Ort und Stelle rannte, hochsprang, mit den Armen ruderte. Der Wilde richtete beunruhigt sein Gewehr auf ihn.
Ich packte Tom am Arm. »Hör damit auf. Er glaubt, du greifst ihn an.«
»Dann ist er ein Blödmann«, sagte Tom wütend. »Wenn ich ihn angreifen wollte, würde ich es tun. Hör zu, Peter, ich kann wirklich nicht den ganzen Tag in dieser Reiseschachtel bleiben. Ein Mann muss sich bewegen.«
Ich musste mich nicht bewegen. Mir schien es, als hätte ich mich monatelang bewegt. Alles in mir war erschöpft: Muskeln, Verstand, Herz. Wo war Maggie? War sie in Sicherheit?
Ich sagte: »Ich werde später nachfragen. Für den Augenblick, Tom, mach einfach, was sie sagen. Dazu würde uns auch George raten, wie du weißt. Tu alles, was der Feind will, bis der beste Augenblick gekommen ist.«
Tom nickte ernst. »Ich denke, du hast recht. Nun, zumindest haben wir etwas zu essen bekommen.« Gleichgültig ging er zurück zum Wagen, wobei er vergaß, dass er mein Diener war und mir eigentlich folgen sollte. Der Wilde wirkte verwundert, führte uns aber wieder zurück nach drinnen.
Jemand hatte sich ein wenig um den Wagen gekümmert. Die leeren Weinflaschen und Käserinden waren fort, an ihrer Stelle stand frisches Essen auf dem niedrigen Tisch. Der Nachttopf war ausgewaschen. Einer der Teppiche war wieder an der hinteren Wand des Wagens zusammengerollt worden.
Der Soldat sperrte uns ein, und ein paar Augenblicke später fuhr der Wagen ruckelnd an. Tom schob den Vorhang zur Seite, um aus dem vergitterten Fenster zu schauen. »Ich frage mich, in welchem Wagen die Prinzessin steckt. Verdammt, wenn ich daran denke, dass Tom Jenkins eine Prinzessin sehen könnte! Oh, das muss ihr Wagen sein, der Purpurne. ›Purpur für die Prinzessin‹ hat mein Vater immer gesagt, verdammt sei seine schwarze Seele. Hat dir deine Großmutter erzählt, dass der Häuptling der Wilden das kleine Mädchen tatsächlich geheiratet hat? Sie sind Barbaren, das ist gewiss. Glaubst du, dass es in den Wohnwagen irgendwelche Mädchen gibt? Nicht dass ich mit einer Verräterin am Königinnenreich ins Bett gehen würde, aber wenn ein Mädchen gefangen wäre … Natürlich ist das nicht sehr wahrschein… Was ist das?«
Tom sprang mit einer wilden Grimasse zum hinteren Teil des Wagens; eine Faust war geballt, die andere zerrte an dem zusammengerollten Teppich. Er rollte den Teppich mit einem Ruck aus und zog eine kleine Gestalt hervor, die zappelte und mit den Beinen strampelte.
Es war Jee.