15

»Tom«, sagte ich, ohne der Situation damit gerecht zu werden. Er hätte unterwegs sein sollen, um sich Georges imaginärer Rebellion anzuschließen. Ich hätte Zeit haben sollen, über das nachzudenken, was ich im Land der Toten gesehen hatte. Nichts war, wie ich es geplant hatte. »Tom …«

»Roger«, sagte er, und mein knurrender Bauch ballte sich zusammen wie eine Faust.

»Das ist dein Name, oder?«, fragte er. »Nicht ›Peter Forest‹. Roger irgendwie, und du hast mich die ganze Zeit belogen.«

Was konnte ich sagen? Er hatte recht. Ich hatte ihn angelogen, und aller Wahrscheinlichkeit nach musste ich ihn wieder anlügen. Meine Lügen mochten seinem eigenen Schutz gedient haben, aber es war klar, dass Tom nicht daran interessiert war, beschützt zu werden. Er hatte keine Ahnung von den Mächten, vor denen ich ihn hatte schützen wollen. Was diese Mächte anging, hatte ich allerdings genauso wenig Ahnung. »Tot seit elf Jahren …«

»Ich bin dem Pfad so schnell gefolgt, wie ich konnte«, fuhr Tom fort, »und gestern Nacht bin ich zu einem Bauernhof gekommen. Es waren nur zwei Frauen und eine Schar kleiner Kinder da; die Männer waren zu etwas aufgebrochen, das die ältere Frau eine ›lange Jagd‹ nannte. Es war ein ärmliches, dem Land nur mühsam abgerungenes Fleckchen Erde, aber sie haben mir etwas zu essen und einen Platz zum Schlafen im Ziegenstall gegeben.«

Nun konnte ich den Ziegengeruch an ihm wahrnehmen. Wolle saß aufrecht da und blickte zwischen uns hin und her.

»Aber ehe ich hinaus zum Ziegenstall gegangen bin, habe ich mich zu den Frauen und Kindern an ihren Herd gesetzt. Ich habe ihnen Holz geschlagen und Wasser geholt, und sie waren freundlich zu mir. Außerdem denke ich, dass sie um jede Gesellschaft froh waren.«

Natürlich waren sie das. Die Hütten in den wilden, unfruchtbaren Unbeanspruchten Landen lagen weit voneinander entfernt, und das Leben war sehr hart. Ich konnte es deutlich vor mir sehen: die Feuerstelle, in der die Scheite glühten, die der hübsche junge Fremde geschlagen hatte, der so offenherzig sprach. Die beiden zerlumpten Frauen, vorzeitig gealtert, ihre Männer fort auf der Jagd, wie sie Tom beim Reden zuhörten. Bewunderten, wie ihm das helle Haar in die Stirn fiel. Verlegen und doch neugierig wegen des Balzens, das so untrennbar zu ihm gehörte wie das Atmen. Die Kinder, die die Schatten umarmten und verwundert diesen Besucher aus einer anderen Welt anstarrten, genauso wie Jee einst Maggie und mich angestarrt hatte.

»Es war anfangs schwer, die Frauen dazu zu bringen, mir etwas von sich zu erzählen. Sie mögen keine Fremden. Aber schon bald habe ich zumindest die Jüngere zum Sprechen gebracht. Ihr Name war Karha, und die beiden waren Schwestern. Karha hat mir eine interessante Geschichte erzählt. Sie sagte, dass vor zwei Jahren ein Mann und eine Frau den ältesten Sohn ihrer Schwester gestohlen haben, einen Jungen namens Jee. Ihn einfach gestohlen. Sie hat mir den Mann beschrieben. Abgesehen davon, dass er zwei Hände hatte, sah der Mann genauso aus wie du. Ist das nicht ein merkwürdiger Zufall? Noch merkwürdiger sogar als zwei gleiche Hunde.«

Toms Zorn wuchs während seiner Erzählung. Ich musste einen Weg finden, diesen Zorn abzukühlen. »Tom, diese Beschreibung würde auf viele Männer passen, glaube ich …«

»Lüg mich nicht mehr an!«, schrie Tom. »Das nehme ich nicht hin! Du hast im Schlaf sowohl nach ›Jee‹ als auch nach ›Maggie‹ geschrien, und Maggie war der Name der Frau bei Roger! Das warst du!«

Im Schlaf geschrien – mein altes Problem. Was hatte ich noch gesagt?

»Und das ist nicht alles, was mir diese Frauen erzählt haben, Roger. Es gibt kein Wirtshaus zwei Tagesreisen von hier. Das nächste liegt sehr viel weiter entfernt. Die Frauen haben ihre hässlichen Bauernhöfe noch nie verlassen, aber die Männer schon, und daher wussten sie es. Und haben es mir erzählt. Vom Anfang bis zum Ende hast du mir nur Lügen aufgetischt!«

Er stand auf und kam auf mich zu. Ich war ihm nicht gewachsen; nicht einmal mit zwei Händen wäre ich ihm gewachsen gewesen. Toms riesige Hände ballten sich zu Fäusten, und ich machte mich auf einen Schlag bereit, ohne hoffen zu können, ihm zu entgehen.

Aber er schlug mich nicht. Als er so nahe war, dass der Geruch nach Ziegenstall uns beide wie Nebel umgab, verzog sich sein Gesicht plötzlich. Tränen quollen ihm aus den Augen.

»Weshalb hast du mich angelogen, Peter? Weshalb? Ich habe dich gemocht, ich dachte, wir würden zusammen Abenteuer erleben. Du hast mich zu George geschickt …«

Sein langsames Gehirn kam schließlich dahinter. Die Tränen verschwanden, und der Zorn kehrte zurück. »Gibt es überhaupt einen George? Ist auch George eine Lüge? So ist es, nicht wahr, du stinkender Bastard!« Tom hob die Faust. Den Rest hätte er vielleicht ertragen, aber nicht den Verlust von George.

»Nein!«, schrie eine Stimme. »Schlag ihn nicht!«

Tom wirbelte herum. Ein Mädchen stand dort, bettelte mit ausgestreckter Hand. Dann kam das Weiße in ihren Augen zum Vorschein. Tom, schnell wie eine Katze, sprang vor und fing sie auf, als sie fiel, gerade als Wolle begann zu heulen und zu heulen, als würde er nie mehr aufhören.

Sie war schön. Das war das Erste, was meinem verwirrten Verstand auffiel. Schwarzes Haar fiel ihr offen um die Schultern, die Haut war weiß wie Lilien, die Lippen beinahe so blass wie die Haut. Das Mädchen trug ein einfaches Kleid aus grauem Stoff, eine Schürze aus demselben Material und Stiefel aus gegerbtem Leder. Sowohl Kleid als auch Stiefel wirkten abgetragen, der Rockteil des Kleides hatte einen Riss. Tom legte sie auf den Boden.

»Wo ist sie hergekommen?«, fragte Tom. »Verdammt, ich habe sie nicht gehört! Weshalb hat Wolle nicht gebellt, bevor sie so nahe gekommen ist? Ruhig, du dummer Hund, es ist nur ein Mädchen!«

»Still«, sagte ich zu Wolle. Er hörte auf zu heulen und legte sich auf den Boden, den Kopf auf den Vorderpfoten. Aber ich hatte keine Zeit für gekränkte Hunde. »Tom, ist sie tot?«

»Nein. Nur ohnmächtig. Hol den Wasserschlauch.«

Er war bei seinem Gepäck. Ich reichte ihn Tom, der dem Mädchen sanft Tropfen ins Gesicht spritzte. Nach einem Augenblick regte sie sich in Toms Armen und öffnete die Augen. Ich spürte, wie ich die Luft ausstieß. Es waren Cecilias Augen. Das gleiche klare Grün, nicht Smaragd oder Moos oder irgendeine andere einfach zu benennende Schattierung. Aber dies war nicht Cecilia; dieses Mädchen war größer, weniger zart gebaut, obwohl nicht weniger schön. Sie war nicht Cecilia. Aber sie hatte Cecilias Augen.

Jene grünen Augen starrten mich unmittelbar an.

Tom sagte zärtlich: »Bist du wohlauf, meine Dame? Wie bist du hergekommen?«

»Ich … ich weiß nicht recht.« Ihre Stimme war sanft und kehlig, überhaupt nicht wie Cecilias Stimme. Und auch nicht die Stimme der gekrönten Frau aus dem Land der Toten – obwohl mir nicht aufgefallen war, dass ich dies befürchtet hatte, bis die Angst von mir wich.

Tom sagte: »Kannst du sitzen?«

»Ich kann stehen.« Sie zog sich hoch, auf seinen Arm gestützt, und lächelte ihn an. Wir starrten uns alle drei an. Mit einem Mal fiel mir auf, dass mein Glied hart wie Stein war, und wenn man seine Hosen betrachtete, ging es Tom genauso. Seine Stimme klang leise und traulich.

»Du hast gesagt, dass du nicht weißt, woher du kommst?«

Das Mädchen runzelte die Stirn. »Nein. Ich … ich kann mich nicht erinnern.«

»Das spielt keine Rolle«, sagte er. »Wie heißt du?«

»Fia.«

»Komm schon, das ist ein Anfang. Fia wie?«

Sie zögerte. »Das weiß ich nicht.«

»Dann brauchst du es auch nicht zu wissen. Fia reicht.« Er ließ sein gefährlichstes Grinsen für sie aufblitzen. »Ich bin Tom Jenkins. Und das ist …« Er machte ein finsteres Gesicht, als er sich an den Betrug erinnerte. Es war schwierig für Tom, mehr als eine Sache auf einmal im Kopf zu behalten, aber der Verrat war noch da, scharf und gefährlich wie ein Schwert, und ich wusste, dass ich es in die Scheide bringen musste, eher er wieder auf mich losging. Er schloss spitz mit: »Roger.«

Das Mädchen machte vor jedem von uns einen Knicks.

Toms Mund ging auf, genauso wie meiner, aber unzweifelhaft aus unterschiedlichen Gründen. Er war überrascht, dass jemand vor ihm, Tom Jenkins, dem einstigen Hirten und Trottel, einen Knicks machte. Ich war überrascht, dass ein Mädchen, das in der Art und Weise der Unbeanspruchten Lande gekleidet war und sprach, diese höfische Geste beherrschte. Bestimmt hatte keine andere Frau in den Unbeanspruchten Landen je einen Knicks vor mir gemacht. Wer war Fia?

»Wer bist du?«, sprudelte es aus Tom hervor.

»Ich … ich weiß nicht recht.«

»Oh!«, sagte Tom. Und dann: »Bleib genau da, Süße, nur einen Augenblick lang.« Er nahm mich beim Arm und zog mich außer Hörweite. »So etwas habe ich schon einmal erlebt, in Almsburg. Will Larkin hat bei einem Kampf mit irgendeinem Fremden auf dem Sommerfest einen Schlag auf den Kopf bekommen, die beiden waren voll wie Pisspötte. Will wurde dabei seine Erinnerungen aus dem Kopf geprügelt. Er wusste anschließend nicht mehr, wer er war oder was mit ihm geschehen war, und zwei Wochen lang auch sonst nichts, und dann kam alles zurück, aber langsam. Das muss auch mit diesem Mädchen geschehen sein.«

Ich nickte. Sie sah für mich nicht wie jemand aus, der einen Schlag auf den Kopf bekommen hatte. Wo waren die Schrammen? Aber ich hatte keine bessere Erklärung. Und ich wollte Tom nicht noch zorniger machen.

»Wir müssen uns um sie kümmern, bis sie sich erholt«, sagte Tom mit vielleicht etwas zu viel Begeisterung. »Glaub nicht, dass ich deine Lügen vergessen habe, Roger. Und versuch nicht, mich wieder loszuwerden oder selbst fortzulaufen!« Er marschierte zurück zu Fia.

Sie wartete, wankte ein wenig und schaute mich fest aus Cecilias grünen Augen an.