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Ich blieb nicht mehr lange im Land der Toten. Es erfordert weitaus weniger Schmerzen, den Pfad der Seelen zurück ins Land der Lebenden zu betreten, als die Reise in die andere Richtung; ich wusste nicht, weshalb. Es reichte aus, wenn ich fest auf die Innenseite der Backen biss.
Dunkelheit …
Kälte …
Erstickender Dreck in meinem Mund …
Würmer in meinen Augen …
Erde, die meine fleischlosen Arme und Beine umschloss …
Dann lag ich wieder auf dem grasigen Hügel bei Zwiekreuzen. Der Himmel war dunkelblau geworden. Die Zeit kann sich, wie die Landschaft, auf der anderen Seite ausdehnen oder verkürzen, und ich war stundenlang fort gewesen. Die ersten Sterne tauchten auf. Der neue Mond war eine dünne Sichel, die den alten Mond in schimmernden Armen wiegte.
Etwas brach durch die Binsen am Ufer.
Ich sprang auf. Die Schafe blökten, und die Lämmer, die an den Flanken ihrer Mütter eingeschlafen waren, quiekten und versuchten sich zu erheben. Der Wolf, der das Lamm von Samuel Brown geholt hatte? Ich zog mein Messer und wusste, dass ich ein Narr gewesen war, Maggies kleine Herde so weit nach draußen zu bringen zu so später Stunde. Es blieb keine Zeit, ein Feuer zu machen, und Peter Einhand konnte es nicht mit einem Wolf aufnehmen.
Es war kein Wolf.
Ein Hund brach zwischen den Binsen hervor. Er stürzte sich unmittelbar auf mich und leckte mir die Hand. Ein großer Hund mit kurzem grauem Pelz, einem kurzen Schwanz und einer riesigen Schnauze. Ich erhaschte einen Blick auf die Doppelreihe scharfer Zähne, aber da seine große rosarote Zunge hocherfreut über meine Finger schlabberte, war es unmöglich, sich vor dem Tier zu fürchten.
»He, Junge, he …«
Das Mutterschaf stieß einen schrillen, entsetzten Schrei aus. Ein Lamm kam unsicher auf die Beine und begann zu jammern.
»Nein, alles in Ordnung, ihr dummen Viecher. Schaut, es ist ein guter Hund, nicht wahr, Junge?«
Die Schafe machten immer noch Geräusche, die ich noch nie von Schafen gehört hatte. Der Hund achtete nicht auf sie. Das jüngere Schaf rannte fort, das dumme Gesicht verzerrt, und ließ sein Lamm zurück. Das Schaf war viel schneller, als ich erwartet hatte. Ich rannte hinterher – Maggie würde mich umbringen, wenn ich ein Viertel ihrer wertvollen Herde verlor – und packte das dumme Tier. Es war, als würde man auf eine Decke springen, die über rollenden Steinen lag. Wir kugelten beide auf dem federnden Gras herum, Schaf und Mann und dann auch Hund, der freudig mit an Bord sprang.
»Runter! Runter mit dir!«, brüllte ich. Zu meiner Überraschung tat es der Hund und legte sich gehorsam ein paar Schritte entfernt nieder.
Ich band dem immer noch entsetzten Leitschaf ein Seil um, warf mir das Lamm über den Rücken (was einhändig nicht leicht ist) und machte mich auf den Weg nach Hause. Das zweite Schaf und das Lamm folgten mir. Der Hund lief in einigen Körperlängen Abstand nach, wenn auch nicht weit genug, um die Schafe davon abzuhalten, von Zeit zu Zeit immer wieder zu erschrecken und loszurennen, mich im Schlepptau. Ich war kein Hisaf mehr, der zur anderen Seite des Grabes reisen konnte; ich war ein unfähiger einhändiger Schäfer, der stolpernd auf dem Weg nach Hause war, zurück zum Gasthaus, um Maggie gegenüberzutreten.
Sie sagte nichts, bis es sehr spät war. Den ganzen Abend lang drängten sich Leute vom Ort im Schankraum, um die Neuigkeiten von der Invasion durchzukauen.
»Die Wilden rühren das gemeine Volk nicht an, das sagt jeder.«
»Trotzdem, ich werde die Zinnplatte meiner Großmutter verstecken.«
»Versteck lieber deine hübsche Tochter, Jack.«
»Sie rühren gemeines Volk nicht an.«
»Sie wollen die Prinzessin. Wie es ihnen die junge Königin versprochen hat.«
»Diese Hexe! Sie haben sie zu Recht verbrannt!«
»Haben diesen Adligen einfach mit Feuer aus seinem Anwesen getrieben. Seine Schwester haben sie auch getötet – eine Frau!«
»Sie wollen, dass unsere Prinzessin weitab vom Königinnenreich lebt!«
»Das ist nicht richtig. Königinnen bleiben und herrschen; Männer verteidigen. Wilde Bastarde!«
»Sie sind Wilde, Hal – was kann man da erwarten?«
»Ich habe gehört, dass sie sich bei Vollmond in Wölfe verwandeln können. Unter ihren Pelzen sind sie schon Tiere.«
»Red nicht wie ein Dummkopf! Sie tragen Felle, aber sie sind Menschen.«
»Jeffries bringt seine Familie morgen früh fort.«
»Jeffries war schon immer ein Feigling.«
»Sie rühren das gemeine Volk nicht an.«
»Peter, Maggie, mehr Bier!«
Ich füllte die Krüge aus dem Fass und trug sie, einen nach dem anderen in meiner heilen Hand, zu den beiden Tischen hinüber. Maggie arbeitete in der Küche, wusch Krüge, setzte den Brotteig für morgen an, damit er aufgehen konnte, und schickte Jee mit jeglicher kalter Mahlzeit, die bestellt wurde, in den Schankraum hinaus. Es war spät, als der letzte Mann ging, der betrunkene alte Riverton, der aus der Tür stolperte und auf seinem Weg hinaus an den Pfosten knallte. Vielleicht hätte ich ihn nach Hause begleiten sollen, aber die Nacht war warm, und wenn er sie irgendwo schnarchend auf dem Feldweg verbrachte, wäre es nicht das erste Mal gewesen.
Ich schloss die Fenster. Jee ging nach oben. Wenn wir keine Gäste hatten, nahm sich jeder von uns eine der drei kleinen Schlafkammern, als wären wir Adlige, die in einem großen Haus lebten. Wenn die beiden Gästezimmer belegt waren, schlief Jee auf einem Lager in Maggies Zimmer und ich im Schankraum, »um das Feuer in Gang zu halten«. Im Sommer gab es kein Feuer, und ich schlief stattdessen im Schafstall. Der Schankraum wurde von zwei Windlichtern beleuchtet, die in Halterungen an der Wand befestigt waren, und zwei dicken Kerzen auf dem Tisch. Eine Kerze war bis auf den flackernden Docht heruntergebrannt. In der Düsternis des Raumes schien ihr Geruch genauso schwer zu werden wie der erstarrende Talg.
Als ich aufstand, um die Tür zu verriegeln, sprang der große graue Hund herein. Er leckte mir kurz die Hand und legte sich dann neben dem Kamin auf den Steinboden, als hätte er jeden Tag seines Lebens dort geschlafen.
»He, Junge, du tänzelst einfach herein und übernimmst alles, was?«
Der Hund wedelte mit seinem vernachlässigbaren Schwanz.
»Ich glaube nicht, dass Maggie das gefällt.«
Sie kam aus der Küche herein und setzte sich auf eine Bank. Den Hund hinter dem anderen Tisch bemerkte sie nicht. »Peter, setz dich. Wir müssen reden.«
»Die Schafe …«
»Vergiss die Schafe! Sie sind bestens im Stall untergebracht, und das weißt du. Weshalb hast du zu Jee gesagt, dass wir aus Apfelbrück fliehen?«
»Weil wir das tun werden.« Ich machte mich bereit. In dem trüben Licht wirkte Maggies Gesicht ruhig und müde, verletzlich sogar. In einer solchen Stimmung war es schwerer, ihr etwas entgegenzusetzen, als wenn sie wütend war. Sie hatte ihre Kappe abgenommen, und ihre hellen Locken fielen über Augen, die vor Erschöpfung bläuliche Schatten hatten.
»Aber Peter«, sagte sie vernünftig, »es ist nicht gefährlich, wenn wir hierbleiben. Du hast gehört, was alle sagen – die Armee der Wilden tut gewöhnlichen Leuten nichts. Jeder hat das gesagt.«
»Geschwätz aus vierter Hand von der Schwägerin des Vetters von irgendjemandes Weib.«
»Lord Carush hat es auch gesagt. Ich habe ihn gehört.«
»Maggie, ich gehöre nicht zu den gewöhnlichen Leuten.« Es hörte sich falsch an – als dächte ich, ich wäre adlig, eine lächerliche Vorstellung. Dennoch sprach ich die Wahrheit. Ich war ein Hisaf.
»Niemand hier könnte Peter Einhand, den Gastwirt, je mit Roger Kilbourne, dem Narren der Königin, in Verbindung bringen.«
»Dem Narren der Königin, der eine Armee aus dem Land der Toten zurückgebracht hat.«
»Still!« Maggie blickte sich um, als erwartete sie einen Lauscher, der sich im Schankraum versteckte, obwohl es keinen Ort gab, an dem man sich verstecken konnte. Stattdessen entdeckte sie den Hund.
»Was macht dieser Hund hier drinnen?«
»Das ist mein Hund.« Die Worte kamen unwillkürlich, abwehrend. Ich hasste es, mit Maggie zu streiten. Ich verlor gewöhnlich, und ihre sture Erkenntnis, dass sie immer recht hatte, wirkte auf mich wie juckende Wolle. Zur gleichen Zeit mochte ich den Hund. Er hatte nichts von mir verlangt.
»Seit wann hast du einen Hund?«
»Seit heute Nachmittag. Der Hund lebt jetzt hier, Maggie. Er kann Reste fressen, oder vielleicht jagt er sogar sein eigenes Essen und …« – ein plötzlicher Einfall – »… er kann dabei helfen, die Schafe zu hüten.«
»Das ist kein Hütehund. Schau ihn dir an.«
»Nun, vielleicht nicht, aber wenn ich …«
»Vergiss den Hund!« Ihr Gesicht wurde rot, aber sie beruhigte sich – ich konnte es beobachten, wie bei einem Federbett, das von einer groben Hand glatt gestrichen wurde – und fuhr in ihrem vernünftigen Tonfall fort. »Peter, wir haben so hart gearbeitet. Um dieses Gasthaus zu bekommen, um die Leute vom Ort zu überzeugen, ihr Geld hier auszugeben, um die Hühner und Schafe und Bienen zu kaufen, um …«
Wenn ich sie weitermachen ließ, würde sie jede Einzelheit aufzählen. Ich konnte es nicht ertragen.
»Du hast viel getan, Maggie. Das weiß ich. Ich bin dir für immer dankbar, aber …«
»Ich wollte nicht sagen, dass …«
»Das weiß ich. Aber …«
»Wir werden alles verlieren, wenn wir jetzt gehen! Und Lord Soleks Sohn kann keine Ahnung haben, wer du bist! Jeder glaubt, dass Roger Kilbourne tot ist!«
»Wenn der Junghäuptling das denken würde, würde er nicht nach mir suchen.«
Darüber ließ sich nicht streiten. Ich drängte meinen Triumph zurück. Die Kerze flackerte noch einmal auf und ging aus, wodurch Maggies Gesicht nur noch von den Windlichtern an der Wand beleuchtet wurde.
Sie sagte: »Es ist deine Sicherheit, an die ich denke. Und – ja, das gebe ich zu – meine und die von Jee. Apfelbrück ist abgelegen und unbedeutend. Wie kommst du darauf, dass es irgendeinen sichereren Ort im Königinnenreich geben könnte? Die Straße aus Westen führt am Apfelfluss entlang, und das ist auch der Weg, den die Wilden mit ihrer Armee nehmen werden, sobald sie durch die Berge gekommen sind. Es ist die Straße zur Hauptstadt. Du würdest auf der Straße viel wahrscheinlicher geschnappt werden als hier.«
»Wenn ich jetzt gehen würde, wäre ich vor der Armee.«
»Und glaubst du nicht, dass sie Späher und Patrouillen aussenden? Lord Solek war ein guter Soldat – das hast du mir selbst gesagt –, und ich bin sicher, sein Sohn ist es auch.«
Sie hatte wieder recht. Ich spürte, wie der Boden unter meinen Argumenten ins Rutschen kam. »Ich kann … ich kann abseits der Straßen reisen.«
»Wo würdest du überhaupt hingehen? Wenn, wie du behauptest, der Junghäuptling weiß, dass du noch lebst, wo im Königinnenreich wäre es dann sicher für dich? Nirgends!«
»Ich würde in die Unbeanspruchten Lande gehen müssen.«
»Und der einzige Weg, um dorthin zu gelangen, führt durch das halbe Königinnenreich.«
Sie hatte recht. Aber dann ging ihr die Bedeutung hinter meinen Worten auf.
»Die Unbeanspruchten Lande. Du hast vor, dorthin zu gehen. Um nach ihr zu suchen.«
Sie meinte das Seelenrankenmoor. Sie meinte Cecilia. Sie meinte eine Suche im Land der Toten. Cecilia war nirgends und würde nie mehr irgendwo sein, und ich würde Maggie niemals etwas von dieser schrecklichen Geschichte erzählen.
»Nein«, sagte ich, »ich werde nicht nach Cecilia suchen.«
»Warum sonst solltest du gehen?« Es kam als Wimmern heraus, was mich so sehr entsetzte, dass ich aufsprang und tollpatschig den Stuhl umwarf. Maggie wimmerte nicht. Maggie schluchzte nicht. Maggie verlor nicht die Kontrolle. Aber sie tat es jetzt auf eine Art und Weise, wie ich es seit über zwei Jahren nicht erlebt hatte. Sie legte den Kopf in die Hände und weinte, ihre hellen, federnden Locken bebten bei jedem japsenden Schluchzen. Sie weinte, als würde sie niemals aufhören.
»Oh, Roger …« – sie nannte mich niemals Roger – »… es ist so ungerecht! Du willst, dass wir alles aufgeben, und ich habe all das für dich getan! Ich habe nur für dich gearbeitet, habe mich nur für dich so sehr mit dem Gasthaus bemüht, und du willst nicht mit mir ins Bett gehen oder mich lieben oder … Die Wilden werden dich dort draußen auf der Straße finden, und selbst wenn sie nach dir suchen, würde es ihnen nicht in den Sinn kommen, dass Roger Kilbourne sich an einem Ort wie diesem aufhält, nicht nachdem du in einem Palast und bei einer Königin gelebt hast, und … sie werden dich töten!«
Ich habe all das für dich getan.
Du willst nicht mit mir ins Bett gehen oder mich lieben.
Wir werden alles verlieren, wenn wir jetzt gehen.
Jeder Satz war ein Stein in meinem Mund, der mir die Kehle verschloss, mir schwer im Magen lag. Jedes Wort stimmte, und neben ihrer steinernen Beständigkeit schien mein Verlangen fortzugehen so wenig greifbar wie Nebel. Ich glaubte eigentlich nicht, dass wir hier in Gefahr waren, oder dass der Junghäuptling genug wusste, um mich in Apfelbrück zu suchen oder Roger Kilbourne in Peter Einhand wiederzuerkennen. Ich wollte Apfelbrück verlassen, weil ich hier so gelangweilt und ruhelos war. Weil meine Unzufriedenheit mit dem, was ich hatte, viel größer war als meine Dankbarkeit für das, vor dem ich verschont geblieben war. Weil ich nach wie vor und für alle Zeiten ein Narr war.
»Weine nicht, Maggie. Weine nicht.« Ich konnte mich nicht dazu überwinden, um den Tisch herumzugehen und die Arme um sie zu legen. Aber ich konnte mich dazu zwingen, die nächsten Worte zu sagen, und das tat ich. »Du hast recht. Wir bleiben hier.«
Beim Kamin hob der Hund plötzlich seinen riesigen Kopf und heulte.