22

Es war mein Traum, auf monströse Weise Wirklichkeit geworden. Ich lag in dem flachen Hochlandmoor vor dem runden Steinhaus. Eine Fackel, die man neben mir in den Boden gesteckt hatte, brannte hell, und hinter ihrem Lichtkreis bewegten sich … Menschen, die Unmenschliches vorhatten.

Ich war an einen breiten, flachen Stein gefesselt, das Gesicht nach oben dem sternenerleuchteten Himmel zugewandt. Die Seile, die mich hielten, führten rund um den Stein. Jemand hatte die Trommel nach draußen gebracht, und nun fing der Trommler mit einem langsamen, stetigen Rhythmus an: bumm bumm-bumm-bumm buuuum. Einer nach dem anderen kamen die älteren Männer und Frauen, mittleren Alters oder älter, zu mir her und starrten mir tief in die Augen. Das Fackellicht warf seltsame Schatten auf ihre Gesichter. Und ihre Augen waren grün.

»Ich danke dir für dein Fleisch«, sagte jeder feierlich, »das mir die Kraft deiner Seele gewähren wird.«

»Euch wird gar nichts gewährt!«, schrie ich. »Ihr wisst es! Ihr wart im Land der Toten im dunklen Nebel – ihr wisst, dass ihr meine Seele nicht haben könnt!«

Bumm bumm-bumm-bumm buuuum

Ich kniff die Augen zu, sodass sie mir nicht mehr hineinschauen konnten. Der Nächste öffnete sie mir gewaltsam.

»Ich danke dir für dein Fleisch, das mir die Kraft deiner Seele gewähren wird.«

»Aber ich bin ein Hisaf!«

»Ich danke dir für dein Fleisch, das mir die Kraft deiner Seele gewähren wird.«

Bumm bumm-bumm-bumm buuuum

Ich kämpfte gegen die Fesseln. Während mein Kopf von einer Seite zur anderen zuckte, sah ich ein Feuer neben dem Steinhaus brennen, und darüber hing ein großer Eisenkessel.

Für mich.

»Ich danke dir für dein Fleisch, das mir die Kraft deiner Seele gewähren wird.«

Als mich die Leute vom Seelenrankenmoor verließen, betraten sie alle das runde Haus. Ein Geruch trieb von drinnen zu mir her, süß und stechend. Ich hatte dieses Pulver schon gerochen, das man aufs Feuer warf, vor zwei Jahren, als ich in diesem steinernen Haus gesessen hatte, mich an Fleisch gütlich getan hatte … fettig und saftig …

Auf einmal wurde ich ruhig. Dies war also mein Ende im Land der Lebenden. Es war für mich nicht anders als für jeden sonst; der Tod muss uns alle holen. Und wenn ich im Land der Toten in die geistlose Ruhe hinüberglitt, würde ich zumindest von den Erinnerungen und Träumen frei sein, die mich quälten. Aber wenn ich dem Tod nicht entfliehen konnte, so konnte ich zumindest den Schmerzen des Sterbens entfliehen.

Der alte Mann mit dem weißen Bart und Cecilias grünen Augen war der Letzte, der zu mir kam. Er hielt ein langes, gebogenes Messer mit einem geschnitzten Holzgriff in der Hand. Wir blickten einander an, und im flackernden Fackellicht konnte ich seltsame Formen tief in seinen Augen erkennen. Ich biss mir fest auf die Zunge und betrat beim nächsten Schlag der Trommel den Pfad der Seelen, ohne wegen des Versprechens zu zögern, das ich Fia gegeben hatte.

Dunkelheit

Kälte

Erstickender Dreck in meinem Mund

Würmer in meinen Augen

Erde, die meine fleischlosen Arme und Beine umschloss

Dann war ich im Land der Toten, und der Trommelschlag hatte aufgehört. Es war das in Nebel gehüllte Hochlandmoor, die Schwaden noch dicker und dichter als zuvor. Blind stolperte ich vor, floh besinnungslos vor dem runden Steinhaus. Aber natürlich gab es hier kein Steinhaus. Nichts als den Nebel und die Kreise der Toten.

Ich stieß beinahe sofort auf den ersten. Er war riesig, bestand womöglich aus dreißig Toten. Bald könnte ich einer von ihnen sein. Die Toten hielten sich bei den Händen, jeder Kopf war in undurchdringlichen, dunklen Nebel gehüllt.

»Ihr seid Ungeheuer!«, rief ich, aber nicht zu den Toten. Zu wem dann?

Ich stürmte zur Mitte des riesigen Kreises. Dort würde es einen summenden Nebel geben, eine Ansammlung von Zuschauern aus dem Seelenrankenmoor, bestehend aus den Männern und Frauen, die nun in dem runden Steinhaus saßen. Die die Droge einatmeten, die man aufs Feuer geworfen hatte. Die sich darauf vorbereiteten, sich an meinem Fleisch gütlich zu tun. Ich konnte sie im Land der Lebenden nicht erreichen, aber hier würde ich … was? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass ein wahnsinniger Zorn in mir tobte, diesen Nebel zu zerstören, irgendwie darauf einzuschlagen, ihn …

Im Mittelpunkt des Kreises war kein Nebel. Stattdessen saß dort eine einzelne Gestalt, und um sie herum hatte sich der Nebel zerstreut, wodurch ein klarer Bereich mit beinahe heller Luft zurückblieb. Die einzelne Gestalt war eine der Toten, und sie saß mit im Schoß gefalteten Händen da, im Schneidersitz, den Kopf leicht gebeugt.

Es war meine Mutter.

Schwindel erfasste mich. Einen Augenblick lang konnte ich weder sehen noch hören. Dann klärte sich mein Kopf, und ich sprang nach vorn, fiel vor der reglosen Gestalt auf die Knie.

»Mutter!«

Sie trug ihr lavendelblaues Kleid, und lavendelblaue Bänder waren in ihr Haar geflochten. Ein leichtes Lächeln spielte um ihre blassen Lippen. Sie war genauso ruhig und ohne Verstand wie die restlichen Toten. Ich zog sie an mich. Als meine Umarmung sie nicht weckte, hob ich sie auf die Füße, und ihre gefalteten Hände mit den langen, von Spitze gesäumten Ärmeln fielen von ihrem Schoß. Blut durchtränkte die Vorderseite ihres Kleides.

Ich ließ sie sanft zurück auf den Boden gleiten und starrte hin. Es war kein altes Blut, braun und getrocknet. Es war frisch, hellrot, und jetzt konnte ich seinen Kupfergeruch wahrnehmen. Als ich mit den Fingern ihr Kleid berührte, waren sie danach mit Blut verschmiert.

»Mutter!«

»Roger«, sagte eine Frauenstimme, »du bist hier.«

Sie kam durch den dunklen Nebel auf mich zu, und andere Gestalten bewegten sich mit ihr. Ich konnte keine davon deutlich erkennen. Im Nebel glitzerte eine Krone.

»Wer bist du?«, schrie ich.

»Tot seit elf Jahren.«

»Wer?« Ich klammerte mich enger an meine Mutter, als könnte ich sie auf irgendeine Weise schützen, sie, die bereits tot war!

Die gekrönte Gestalt ließ das Lachen ertönen, bei dem mir die Knochen schauderten. Und dann sagte sie: »Du gehörst nicht hierher, nicht auf diese Weise. Aber bald.«

Und dann war ich auf einmal nicht mehr dort. Ich war zurück im Seelenrankenmoor, unter den Sternen an den flachen Stein gefesselt.

Aber ich hatte mich nicht zurückbegeben. So ging das nicht; ich hatte mich stets bewusst dazu entschieden, aus dem Land der Toten zurückzukehren; ich hatte mir immer einen leichten Schmerz zufügen, meinen Willen konzentrieren müssen, und nur dann war ich durch das Grab gegangen, in dem meine Knochen des Fleisches beraubt wurden. Ich hatte immer eine Wahl gehabt.

»Du flüchtest nicht auf diesem Weg«, sagte der alte Grünäugige. Weitere Schemen regten sich hinter seinen Augen. Er hob das Messer und schnitt sorgfältig mein Hemd auf. Ein kühler Nachtwind strich mir über die nackte Brust. Die Trommel war still geworden.

Ich schrie: »Was ist mit meiner Mutter geschehen?«

Es war, als hätte ich nichts gesagt, als wäre ich bereits tot. Er flüsterte rituelle Worte in einer Sprache, die ich nicht kannte, und hob das Messer über meinem Körper. Ich schloss die Augen.

Das Krachen eines Gewehrs. Ich riss meine Augen rechtzeitig auf, um den Ausdruck der Überraschung auf dem Gesicht des Alten zu sehen, kurz bevor sein Körper nach hinten aus meinem Sichtfeld taumelte.

»Peter!«, rief eine Stimme. Tom Jenkins. Und dann rannte er aus der Dunkelheit auf mich zu. Aber genauso auch Männer und Frauen – nicht die Alten und Mittelalten, die unter Drogen in dem runden Steinhaus saßen, sondern die kräftig gebauten Jungen aus Hygryll. Die Krieger. Sie rannten mit gezogenen Messern aus der Dunkelheit, kreischten, ihre Gesichter vor Entsetzen und wildem Zorn verzogen. Eine junge Frau warf sich auf den gefallenen Alten. Der Rest ging auf Tom los, der am Rande des Lichtkreises der Fackeln gerade noch sichtbar war.

Er hielt inne, sein Gesicht verwirrt und unsicher. Dann begann er zu schießen. Aber er hatte mir gesagt, dass ein Gewehr nur dreimal schießen konnte, ehe man weitere Kugeln hineinstecken musste. Tom schoss zweimal und griff nach dem zweiten Gewehr aus der Schlinge auf seinem Rücken. Ich konnte erkennen, dass er es niemals schaffen würde. Ein Krieger sprang auf ihn zu. Tom Jenkins würde sich mir im Land der Toten anschließen.

Eine graue Gestalt stürzte sich auf den Krieger. Sie fing ihn mitten in der Luft ab, und beide gingen zu Boden.

Dann, während ich noch ungläubig blinzelte, waren es zwei graue Gestalten, drei, ein halbes Dutzend. Sie kamen nicht aus dem Moor gelaufen, sie waren einfach da, wie die Luft da ist.

Oder der Nebel.

»Peter!«, schrie Tom irgendwo. Die Krieger kreischten. An den Felsen gefesselt konnte ich nicht viel sehen, aber alles hören: die menschlichen Schreie der Qual, das nicht menschliche Knirschen von Zähnen auf Fleisch, das plötzliche Aufheulen eines Tieres, schrill vor Schmerz. Und über allem ein Gurgeln, das ich nicht vergessen kann, wenn Blut und Luft sich in herausgerissenen Kehlen mischten. Ich konnte nicht zuschauen, wie es geschah, aber ich sah es in meiner Vorstellung, und das war weitaus schlimmer. Das Gemetzel schien ewig weiterzugehen, aber so war es nicht. Es dauerte nur ein paar Minuten.

Dann Stille.

»Peter.« Tom erhob sich neben mir, Blut lief über seine Kleider, und sein Gesicht war bleich. »Geht es dir gut?«

Ich konnte nicht sprechen. Meine Hilflosigkeit schien Tom sicherer zu machen. In sein Gesicht kam wieder Farbe. Seine Hand zitterte nicht, als er meine Fesseln durchschnitt.

Ich setzte mich auf den Felsen. Junge Männer und Frauen lagen tot oder sterbend überall am Boden. Ein paar stöhnten. Inmitten des Blutbads saß ein einzelner großer Hund.

Schatten.

Wolle.

Meine Stimme bebte, als ich sprach. »Da waren viele Hunde …«

Tom wirkte verwirrt, aber nur kurz. »Die meisten sind weggelaufen. Komm, Peter, wir müssen weg von diesem verfluchten Ort!«

Die Hunde waren nicht weggelaufen. Während ich hilflos dagelegen und mein übernatürlich scharfes Gehör sich auf das gewaltsame Töten um mich herum eingestellt hatte, hatte ich viele Hunde gehört und gesehen, aber ich hatte nicht gehört, dass sie fortgelaufen waren. Ich presste hervor: »Hast du nicht geseh…«

»Komm jetzt, Peter!«

Tom packte mich an der Hand und zog mich nach vorn. Ich blickte über die Schulter zurück zu dem Steinhaus. Niemand war daraus hervorgekommen. Die Älteren des Seelenrankenmoors saßen in ihrem berauschten Zustand da, waren Beobachter an irgendeinem Ort im Land der Toten.

Ich lief mit Tom, bis ich nicht mehr weiterlaufen konnte. Als ich stolperte und hinfiel, fing er mich auf. Wir rasteten kurz in der Dunkelheit, und dann brachte er mich dazu, wieder weiterzulaufen. Ich verlor das Gefühl für Zeit, Ort und alles – bis auf die schrecklichen Bilder in meinem Kopf.

Meine Mutter, das frische Blut an ihrem lavendelblauen Kleid …

Eine gekrönte Gestalt im Nebel …

»Komm schon, Peter!«, sagte Tom.

»Du gehörst nicht hierher, nicht auf diese Weise. Aber bald.«

Bumm bumm-bumm-bumm buuuum

Das Knirschen von Zähnen auf Fleisch und Knochen …

Meine Mutter, das frische Blut auf ihrem lavendelblauen Kleid …

»Komm jetzt – nur noch ein Stück weiter.«

Wir gingen ein Stück weiter. Noch ein Stück. Wir hielten an. Ich taumelte zu Boden, von der größten Erschöpfung erfasst, die ich je erlebt hatte, und dann war ich eingeschlafen, dankenswerterweise ohne zu träumen.