EPILOG Fred
Frederick Lucius Johnson, ehemaliger Colonel der Erdstreitkräfte, Schlächter der Anderson-Station. Inzwischen auch der Thoth-Station. Nicht durch Wahlen bestimmter Premierminister der AAP. Er hatte ein Dutzend Mal dem Tod ins Auge geblickt und durch Gewalt, Politik und Verrat Freunde verloren. Er hatte vier Mordanschläge überlebt, von denen nur zwei überhaupt bekannt geworden waren. Einen Angreifer, der mit einer Pistole bewaffnet gewesen war, hatte er mit dem Messer eines Essbestecks getötet. Er hatte Befehle gegeben, die zum Tod von Hunderten Menschen geführt hatten, und stand zu seinen Entscheidungen.
Und trotzdem, wenn er in der Öffentlichkeit eine Rede halten musste, war er schrecklich nervös. Es passte überhaupt nicht zu ihm, doch er konnte es nicht ändern.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir stehen an einem Wendepunkt …
»General Sebastian wird am Empfang teilnehmen«, sagte seine persönliche Sekretärin. »Fragen Sie ja nicht nach ihrem Gatten.«
»Warum? Ich habe ihn doch nicht getötet, oder?«
»Nein, Sir. Er hat eine ziemlich öffentliche Affäre, und in dieser Hinsicht ist sie etwas empfindlich.«
»Möglicherweise will sie ja, dass ich ihn umbringe.«
»Sie könnten es ihr vielleicht anbieten, Sir.«
Die Garderobe war rot und ockerfarben eingerichtet, es gab eine schwarze Ledercouch, eine verspiegelte Wand und einen Tisch, auf dem sich hydroponisch gezogene Erdbeeren und sorgfältig mit Mineralstoffen angereichertes Trinkwasser befanden. Die Leiterin der Sicherheitskräfte von Ceres, eine mürrische Frau namens Shaddid, hatte ihn vor drei Stunden vom Dock zum Konferenzzentrum begleitet. Seitdem war er wie der Kapitän eines alten Schiffs auf dem Achterdeck, immer drei Schritte hin und drei zurück, im Zimmer auf und ab geschritten.
Anderswo auf der Station warteten die Vertreter der ehemals Krieg führenden Fraktionen mit ihren eigenen Sekretären in eigenen Zimmern. Die meisten von ihnen hassten Fred, was im Grunde aber kein großes Problem war. Die meisten fürchteten ihn auch, aber natürlich nicht wegen seiner Position in der AAP, sondern wegen des Protomoleküls.
Der politische Riss zwischen Erde und Mars war vermutlich irreparabel; die Erdstreitkräfte hatten sich Protogen gegenüber loyal verhalten und einen Verrat inszeniert, für den man sich nicht einfach entschuldigen konnte. Zudem waren auf beiden Seiten zu viele Menschen gestorben, um Frieden zu schließen und zur Tagesordnung überzugehen. Die naiveren Gemüter in der AAP hielten das für eine gute Sache – eine Gelegenheit, die inneren Planeten gegeneinander auszuspielen. Fred wusste es besser. Wenn nicht alle drei Kräfte – Erde, Mars und der Gürtel – einen echten Frieden aushandeln konnten, würden sie unweigerlich weiter Krieg führen.
Falls Erde oder Mars glaubten, der Gürtel sei nur eine lästige Fliege, die sie zerquetschen konnten, nachdem der wahre Feind erledigt sei … aber in Wahrheit waren die Ressentiments der Erde gegen den Mars jetzt sogar noch größer als in der heißen Phase des Krieges, und in vier Monaten würde auf dem Mars gewählt. Eine deutliche Veränderung der marsianischen Politik konnte die Spannungen lindern oder die Lage unendlich verschlimmern. Beide Seiten mussten das Gesamtbild berücksichtigen.
Fred blieb vor einem Spiegel stehen, rückte zum hundertsten Mal das Hemd zurecht und schnitt eine Grimasse.
»Wann habe ich eigentlich den Beruf gewechselt und bin Eheberater geworden?«, fragte er.
»Wir reden doch nicht immer noch über General Sebastian, Sir?«
»Nein. Vergessen Sie, was ich gesagt habe. Was muss ich sonst noch wissen?«
»Es besteht die Möglichkeit, dass der Blaue Mars Ihre Ansprache stören wird. Es sind unbewaffnete Aufwiegler mit Plakaten. Captain Shaddid hat ein paar Blaue in Gewahrsam genommen, doch ihr sind möglicherweise einige entgangen.«
»In Ordnung.«
»Sie haben Interviewtermine mit zwei politischen Magazinen und einem Nachrichtensender auf Europa. Der Moderator von Europa wird wohl nach der Anderson-Station fragen.«
»In Ordnung. Gibt es etwas Neues von der Venus?«
»Dort unten passiert etwas«, erklärte die Sekretärin.
»Dann ist es nicht tot.«
»Anscheinend nicht, Sir.«
»Wundervoll«, sagte er verbittert.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir befinden uns an einem Wendepunkt. Einerseits besteht die sehr reale Gefahr, dass wir uns gegenseitig auslöschen, auf der anderen Seite …
Auf der anderen Seite haben wir das Schreckgespenst auf der Venus, das Anstalten macht, aus der Schwerkraftsenke zu kriechen, um Sie alle im Schlaf abzuschlachten. Ich besitze eine aktive Probe, die Ihre beste, wenn nicht die einzige Hoffnung ist, herauszufinden, was dieses Ding will und kann. Ich habe sie versteckt, damit Sie nicht einfach losmarschieren und sie mir wegnehmen können. Sie ist der einzige Grund dafür, dass Sie mir überhaupt zuhören. Wie wäre es also mit ein wenig Respekt?
Das Terminal seiner Sekretärin zirpte, sie blickte kurz darauf.
»Es ist Kapitän Holden, Sir.«
»Muss ich mit ihm reden?«
»Es wäre gut, wenn er das Gefühl hätte, auf irgendeine Weise eingebunden zu sein, Sir. Er hat schon öfter unautorisierte Presseerklärungen abgegeben.«
»Schön, dann lassen Sie ihn rein.«
In den Wochen, nachdem die Eros-Station in der dichten Venusatmosphäre zerborsten war, hatte Holden sich gut erholt, doch längere Flüge unter hoher G-Belastung, wie die Rosinante sie bei der Verfolgung des Asteroiden auf sich genommen hatte, hinterließen dauerhafte Spuren. Die geplatzten Blutgefäße in den Augen waren verheilt, die Blutergüsse um die Augen und im Nacken waren verschwunden. Nur das kleine Zögern beim Gehen verriet, dass er in den Gelenken Schmerzen hatte, weil die Knorpel noch nicht zu ihrer natürlichen Form zurückgefunden hatten. Damals, als Fred noch ein anderer Mann gewesen war, hatte man es als Beschleunigungskater bezeichnet.
»Hallo«, sagte Holden. »Sie sehen gut aus. Haben Sie den letzten Feed von der Venus verfolgt? Zwei Kilometer hohe Kristalltürme. Was glauben Sie, was das ist?«
»Ihre Schuld?« Es klang nicht einmal unfreundlich. »Sie hätten Miller auch sagen können, er solle in die Sonne fliegen.«
»Ja, weil zwei Kilometer hohe Kristalltürme, die aus der Sonne sprießen, überhaupt nicht bedrohlich wirken«, entgegnete Holden. »Sind das Erdbeeren?«
»Bedienen Sie sich.« Fred hatte seit dem Morgen keinen Bissen mehr herunterbekommen.
»Nun«, fuhr Holden kauend fort, »wollen die mich wirklich deshalb verklagen?«
»Nachdem Sie über einen offenen Funkkanal einseitig auf alle Schürfrechte und Baurechte auf einem ganzen Planeten verzichtet haben?«
»Ja«, sagte Holden.
»Ich würde annehmen, dass die Leute, denen die Rechte gehören, möglicherweise an eine Klage denken«, antwortete Fred. »Sofern jemals ans Licht kommt, wer sie überhaupt sind.«
»Könnten Sie mir dabei helfen?«, fragte Holden.
»Ich kann Ihnen ein Leumundszeugnis ausstellen«, bot Fred an. »Aber ich schreibe nicht die Gesetze.«
»Was genau tun Sie dann eigentlich alle hier? Kann es nicht eine Art Amnestie geben? Wir haben das Protomolekül geborgen, Julie Mao auf Eros gefunden, Protogen zerschlagen und die Erde gerettet.«
»Sie haben die Erde gerettet?«
»Wir haben dabei geholfen«, erklärte Holden, doch es klang düster. Millers Tod machte ihm immer noch zu schaffen. Fred wusste, wie sich so etwas anfühlte. »Es war eine gemeinsame Anstrengung.«
Freds persönliche Sekretärin räusperte sich und blickte zur Tür. Sie mussten bald aufbrechen.
»Ich werde tun, was ich kann«, versprach Fred. »Ich habe eine Menge anderer Dinge zu erledigen, aber ich werde sehen, was ich tun kann.«
»Außerdem bekommt Mars die Rosinante nicht zurück«, erklärte Holden. »Die Bergungsbestimmungen besagen, dass dieses Schiff mir gehört.«
»Der Mars dürfte wohl anderer Meinung sein, aber ich werde sehen, was ich tun kann.«
»Sie wiederholen sich.«
»Mehr, als es ansprechen, kann ich tatsächlich nicht.«
»Und Sie werden ihn erwähnen, nicht wahr?«, fuhr Holden fort. »Miller. Er hat es verdient, genannt zu werden.«
»Der Gürtler, der aus freiem Entschluss nach Eros zurückgekehrt ist, um die Erde zu retten? Und ob ich ihnen das unter die Nase reiben werde.«
»Nicht der ›Gürtler‹. Er hat einen Namen. Josephus Aloisus Miller.«
Holden war mit den Erdbeeren fertig. Fred verschränkte die Arme vor der Brust.
»Sie haben sich schlaugemacht«, sagte er.
»Ja. Nun ja, ganz so gut kannte ich ihn eigentlich nicht.«
»Niemand kannte ihn richtig.« Fred zeigte sich ein wenig versöhnlicher. »Ich weiß, wie schwer es ist, aber wir brauchen keinen realen Mann mit einem komplizierten Leben. Wir brauchen ein Symbol für den Gürtel. Eine Ikone.«
»Sir«, drängte die Sekretärin. »Wir müssen jetzt wirklich gehen.«
»So sind wir bis hierher gelangt«, antwortete Holden. »Ikonen. Symbole. Menschen ohne Namen. Die Wissenschaftler von Protogen haben über Biomasse und Bevölkerungszahlen nachgedacht. Nicht über Mary, die bei der Versorgung gearbeitet und in ihrer Freizeit Blumen gezüchtet hat. Keiner von ihnen hat es persönlich gemeint, als er sie umgebracht hat.«
»Glauben Sie denn nicht, sie hätten es so oder so getan?«
»Ich glaube, man sollte wenigstens die Namen der Opfer kennen. Alle Namen. Fred, Sie sind es Miller schuldig, ihn nicht zu etwas zu machen, was er nicht war.«
Fred lachte, er konnte nicht anders.
»Kapitän«, sagte er, »wenn Sie nun verlangen, ich solle meine Ansprache vor der Friedenskonferenz ändern und nicht darauf hinweisen, dass sich ein Gürtler edelmütig geopfert hat, um die Erde zu retten, sondern lieber verkünden, wir hätten zufällig einen zum Selbstmord neigenden Ex-Cop vor Ort gehabt, dann ist Ihr Verständnis für diesen Prozess noch mangelhafter, als ich es sowieso schon befürchtet hatte. Millers Opfer ist ein Werkzeug, das ich einzusetzen gedenke.«
»Auch wenn er dadurch gesichtslos wird?«, antwortete Holden. »Auch wenn er zu etwas wird, das er nie war?«
»Besonders wenn er etwas wird, das er nie war«, erklärte Fred. »Wissen Sie denn, wie er war?«
Holden runzelte die Stirn, und auf einmal flackerte etwas in seinen Augen auf. Belustigung. Erinnerungen.
»Er war eine ziemliche Nervensäge, was?«, fragte Holden.
»Der Mann war fähig, bei einem Besuch Gottes und dreißig leicht bekleideter Engel, auf dem der Allmächtige verkündet, Sex sei schließlich doch eine gute Sache, den Eindruck zu erwecken, er fände das alles ein wenig deprimierend.«
»Er war ein guter Mann«, widersprach Holden.
»Das war er nicht«, beharrte Fred. »Aber er hat seinen Job erledigt, und jetzt muss ich meinen tun.«
»Machen Sie ihnen die Hölle heiß«, sagte Holden. »Und vergessen Sie nicht die Amnestie. Reden Sie über die Amnestie.«
Fred ging den gekrümmten Gang hinunter, die Sekretärin blieb ihm dicht auf den Fersen. Der Konferenzbereich war für kleinere, unbedeutende Anlässe gebaut. Hydroponiker, die vor ihren Gatten und Kindern flohen, um sich zu betrinken und über Bohnenkeimlinge zu reden. Bergarbeiter, die über Abfallminimierung und Abraumbeseitigung philosophierten. Wettbewerbe von Schülerbands. Nun wurde in diesen mit Industrieteppichen ausgelegten Räumen zwischen den Wänden aus gebürstetem Stein Geschichte geschrieben. Irgendwie erinnerte Holden die schäbige, beengte Umgebung an den toten Detective.
Die Delegationen saßen einander gegenüber, zwischen ihnen blieb ein Gang frei. Die Generäle und Politiker, die Generalsekretäre von Erde und Mars, die beiden Großmächte, waren auf Freds Einladung hin nach Ceres in den Gürtel gekommen. Ein Territorium, das nur neutral war, weil es keine Seite ernst genug nahm, um entsprechende Ansprüche zu formulieren.
Die Menschheitsgeschichte kulminierte in diesem Moment an diesem Ort. In den nächsten Minuten hatte Fred die Aufgabe vor sich, der Entwicklung eine neue Richtung zu geben. Die Furcht war verflogen, er stieg lächelnd zum Rednerpult auf dem Podium hinauf.
Auf die Kanzel.
Höflicher dünner Applaus ertönte. Ein paar Gäste lächelten, ein paar runzelten die Stirn. Fred grinste. Er war kein Mensch mehr. Er war ein Symbol und eine Ikone. Eine Geschichte, die von ihm und den Mächten im Sonnensystem handelte.
Einen Moment lang war er in Versuchung. In der kleinen Pause zwischen Atemholen und Sprechen fragte er sich, was geschehen würde, wenn er die historische Dimension vergaß und über sich selbst als ganz normalen Mann sprach, über den Joe Miller, den er kurz gekannt hatte, über die Verantwortung, die sie alle trugen, da es doch galt, die Bilder einzureißen, die sie voneinander hatten, um die echten, unvollkommenen und widersprüchlichen Menschen in den Vordergrund zu stellen, die sie tatsächlich waren.
Es wäre eine edle Art zu scheitern gewesen.
»Meine Damen und Herren«, sagte er, »wir befinden uns an einem Wendepunkt. Auf der einen Seite besteht die sehr reale Gefahr, dass wir uns gegenseitig vernichten. Auf der anderen Seite …«
Er hielt inne, um die dramatische Wirkung zu verstärken.
»Auf der anderen Seite warten die Sterne.«