39 Holden
Die Rosinante raste wie ein Stück tote Materie durch den Weltraum und rotierte um drei Achsen gleichzeitig. Da der Reaktor abgeschaltet und die Luft abgelassen war, strahlte sie weder Wärme noch elektromagnetische Impulse ab. Hätte sich das Schiff nicht schneller als eine Gewehrkugel in die Richtung der Thoth-Station bewegt, es wäre nicht von irgendeinem Felsen im Gürtel zu unterscheiden gewesen. Fast eine halbe Million Kilometer dahinter verkündete die Guy Molinari laut kreischend jedem, der zuhören wollte, dass die Rosinante kein Angreifer sei, und setzte zu einem langen Bremsschub an.
Da der Funk ausgeschaltet war, konnte Holden nicht hören, was sie sendeten, doch er hatte geholfen, die Warnung zu verfassen: Vorsicht! Explosion auf dem Frachtschiff Guy Molinari hat großen Frachtcontainer herausgebrochen. Warnung an alle Schiffe in der Flugbahn: Der Container fliegt mit hoher Geschwindigkeit und ist nicht steuerbar. Vorsicht!
Sie hatten diskutiert, ob sie überhaupt einen Notruf absetzen sollten. Da Thoth eine geheime Station war, benutzte sie nur passive Sensoren. Hätte sie die ganze Umgebung mit Radar oder Lidar abgetastet, dann hätte sie geleuchtet wie ein Weihnachtsbaum. Es war möglich, dass sich die Rosinante mit abgeschaltetem Reaktor unbemerkt an die Station heranschleichen konnte. Fred hatte jedoch entschieden, dass mit einem sofortigen Angriff zu rechnen war, falls sie durch Zufall bemerkt würden. Statt leise vorzugehen, traten sie deshalb besonders laut auf und hofften, die Verwirrung werde ihnen helfen.
Mit etwas Glück würden die Sicherheitssysteme der Thoth-Station sie scannen und zu dem Schluss kommen, dass dort tatsächlich ein großer Brocken Metall, auf dem es offenbar kein Leben gab, auf unveränderlichem Kurs durchs All flog. Aus der Ferne war die Abwehr der Station möglicherweise zu stark für die Rosinante. Die Tarnung diente dazu, ihnen etwas Zeit zu erkaufen, während die Sicherheitsleute auf der Station darüber grübelten, was dort eigentlich los war.
Fred und alle, die an dem Angriff teilnahmen, wetteten, dass die Station erst schießen würde, wenn man dort absolut sicher war, angegriffen zu werden. Protogen hatte sich große Mühe gegeben, das Forschungslabor im Gürtel zu verstecken. Sobald sie die erste Rakete abfeuerten, wäre es um die Anonymität geschehen. Da sowieso gerade Krieg war, würden viele Monitore die Spuren der Raketenantriebe erfassen, und viele Beobachter würden sich fragen, was dort im Gange war. Die Thoth-Station würde also nur als allerletztes Mittel ihre Waffen abfeuern.
Theoretisch jedenfalls.
Während er in der winzigen Luftblase hockte, die sein Helm umschloss, dachte Holden darüber nach, dass sie es nicht einmal mehr bemerken würden, falls sie sich irrten. Die Rosinante flog völlig blind. Es gab keinen Funkkontakt. Alex hatte eine mechanische Uhr mit selbstleuchtendem Zifferblatt und einen sekundengenauen Plan im Kopf. Mit moderner Technik konnten sie Thoth nicht besiegen, also flogen sie mit so wenig Technik wie irgend möglich. Falls sie sich verschätzten und die Station feuerte auf sie, würde die Rosinante ohne Vorwarnung verdampfen. Holden war einmal mit einer Buddhistin zusammen gewesen, die ihm erklärt hatte, der Tod sei nur eine andere Form des Daseins und die Menschen fürchteten sich lediglich vor dem Unbekannten, das nach dem Übergang auf sie wartete. Es sei besser, ohne Vorwarnung zu sterben und keine Zeit zu haben, sich zu fürchten.
Er fand, dass er jetzt ein gutes Gegenargument hatte.
Um sich zu beschäftigen, ging er noch einmal den Plan durch. Sobald sie nahe genug waren, um praktisch auf die Thoth-Station spucken zu können, sollte Alex den Reaktor hochfahren und mit fast zehn G bremsen. Die Guy Molinari würde die Station mit Funk- und Lasersignalen eindecken, um die Zielerfassung während der wenigen Augenblicke zu stören, in denen die Rosinante wendete und auf Angriffskurs ging. Die Rosinante sollte dann die Verteidigung der Station beschäftigen, während das Frachtschiff herbeiflog, die Hülle der Station aufbrach und die Angriffstruppen absetzte.
In diesem Plan gab es eine große Zahl unbekannter Faktoren.
Falls die Station sich dazu entschied, früh zu schießen, würde die Rosinante untergehen, bevor der Kampf überhaupt begonnen hätte. Falls die Zielerfassung der Station die Störimpulse der Molinari ausblenden konnte, begann sie möglicherweise schon zu feuern, ehe die Rosinante in der richtigen Position war. Und selbst wenn bis dahin alles glatt verlief, blieb noch das Überfallkommando, das sich zunächst einen Weg in die Station bahnen musste, um sich anschließend Korridor um Korridor bis zum Nervenzentrum vorzukämpfen und die Kontrolle zu übernehmen. Selbst die besten Marinesoldaten der inneren Planeten fürchteten sich aus gutem Grund vor solchen Einbruchsversuchen. Wenn man sich ohne Deckung durch unbekannte, mit Metall verkleidete Gänge bewegte, wo der Feind jederzeit einen Hinterhalt legen konnte, verlor man rasch eine Menge Leute. In den Simulationen der irdischen Marine hatte Holden noch nie gesehen, dass die Angreifer weniger als sechzig Prozent der Kämpfer verloren hatten. Und dies waren keine Marinesoldaten von den inneren Planeten mit jahrelanger Spezialausbildung und hochmodernem Gerät. Es waren AAP-Cowboys mit einer Ausrüstung, die sie in letzter Minute zusammengekratzt hatten.
Doch das war nicht einmal Holdens größte Sorge.
Wirklich besorgt war er über den großen, minimal erwärmten Bereich ein paar Dutzend Meter über der Thoth-Station. Die Molinari hatte ihn bemerkt und sie gewarnt, bevor sie sich von ihr gelöst hatten. Nachdem sie schon einmal Stealthschiffe gesehen hatten, zweifelte keiner auf der Rosinante daran, dass sie eines vor sich hatten.
Es war schon schlimm genug, gegen die Station zu kämpfen, selbst wenn sie so nahe herankamen, dass die Station ihre größten Vorteile verlor. Holden war ganz und gar nicht davon erbaut, gleichzeitig auch noch den Torpedos einer Raketenfregatte ausweichen zu müssen. Alex hatte ihm versichert, dass die Fregatte fürchten musste, Thoth zu beschädigen, sobald sie nahe genug an die Station herankämen, und die Rosinante sei beweglicher und damit einem größeren und schwerer bewaffneten Schiff mehr als ebenbürtig. Die Stealthfregatten seien eine strategische und keine taktische Waffe, hatte er gesagt. Holden hatte auf die naheliegende Frage verzichtet: Warum haben sie dann eine hier?
Holden blickte auf das Handgelenk und schnaubte, weil es auf dem Operationsdeck stockfinster war. Auch sein Raumanzug war heruntergefahren, er hatte kein Licht und konnte nicht einmal die Uhrzeit ablesen. Das einzige System, das noch lief, war die Luftversorgung, und die arbeitete rein mechanisch. Wenn damit etwas nicht in Ordnung war, würde er nicht einmal Warnlampen sehen, sondern einfach ersticken und sterben.
Sein Blick irrte im dunklen Raum umher. »Nun macht schon, wie lange noch?«
Wie um ihm zu antworten, flammten die Lichter auf. Im Helm ertönte statisches Rauschen, dann meldete sich Alex: »Interner Com läuft.«
Holden legte einige Schalter um und fuhr die übrigen Systeme hoch.
»Reaktor«, sagte er.
»Zwei Minuten«, meldete Amos aus dem Maschinenraum.
»Hauptcomputer.«
»Neustart in dreißig Sekunden.« Naomi grinste und winkte ihm quer durch die Operationszentrale zu. Das Licht war inzwischen so hell, dass sie einander sehen konnten.
»Waffen?«
Alex lachte, es klang tatsächlich fröhlich.
»Die Waffen fahren hoch«, sagte er. »Sobald Naomi mir den Zielcomputer zurückgibt, können wir durchladen und Spaß haben.«
Er war froh, nach dem stillen, dunklen Anflug wieder die Stimmen der anderen zu hören. Als er Naomi ihrer Arbeit nachgehen sah, wich eine Furcht von ihm, die er bisher noch gar nicht richtig wahrgenommen hatte.
»Zielerfassung müsste wieder da sein«, meldete Naomi.
»Alles klar«, erwiderte Alex. »Optische Erfassung läuft, Radar läuft, Lidar läuft … verdammt, Naomi, hast du das gesehen?«
»Ich sehe es«, antwortete sie. »Kapitän, Energieausbruch auf dem Stealthschiff. Sie aktivieren die Systeme.«
»Damit war zu rechnen«, entgegnete Holden. »Kümmert euch um eure Aufgaben.«
»Eine Minute«, sagte Amos.
Holden wandte sich seiner Konsole zu und rief das taktische Display auf. Die Thoth-Station rotierte langsam, während der geringfügig wärmere Fleck darüber heiß genug wurde, um den Umriss eines Raumschiffs auf die Anzeige zu zeichnen.
»Alex, das sieht aber nicht so aus wie die Fregatten, die wir kennen«, sagte Holden. »Kann die Rosinante etwas damit anfangen?«
»Noch nicht, Käpt’n, aber sie versucht es weiter.«
»Dreißig Sekunden«, meldete Amos.
»Lidarabtastung von der Station«, rief Naomi. »Ich sende Störsignale.«
Holden konnte beobachten, wie Naomi versuchte, die Wellenlänge zu treffen, auf der die Station sie abtastete, und eigene Signale zurückschickte, um das Radarbild zu verzerren.
»Fünfzehn Sekunden«, sagte Amos.
»Schnallt euch an, Leute. Jetzt kommt der Saft«, warnte Alex.
Noch bevor der Pilot ganz ausgesprochen hatte, spürte Holden ein Dutzend Nadelstiche, als ihn seine Liege mit Medikamenten vollpumpte, damit er das bevorstehende Bremsmanöver überlebte. Seine Haut spannte und wurde heiß, die Hoden krochen ihm in den Bauch hinauf. Es schien, als spräche Alex in Zeitlupe.
»Fünf … vier … drei … zwei …«
Zu der Eins kam er nicht mehr. Auf einmal drückten tausend Kilo auf Holdens Brust, und die Rosinante gab Geräusche wie ein lachender Riese von sich, als sie mit zehn G bremste. Holden glaubte sogar zu spüren, wie die Lungen innen über den Brustkorb kratzten, während der ganze Oberkörper zu kollabieren drohte. Doch die Gelfüllung des Sessels umfing ihn mit einer weichen Umarmung, und die Medikamente sorgten dafür, dass sein Herz weiterschlug und das Gehirn weiterarbeitete. Er verlor nicht das Bewusstsein. Falls das Manöver unter hoher G-Belastung ihn tötete, würde er sein Ende völlig wach und bewusst erleben.
Im Helm hörte er gurgelnde, angestrengte Atemgeräusche, die nur zum Teil von ihm selbst stammten. Amos stieß sogar einen halben Fluch hervor, ehe der Druck ihm den Mund verschloss. Holden konnte nicht hören, wie die Rosinante unter der Belastung des Kurswechsels schauderte und stöhnte, doch er spürte es im Sitz. Sie war ein zähes Schiff, härter im Nehmen als alle anderen. Die Besatzung wäre lange tot, ehe das Schiff selbst Schaden nehmen würde.
Die Erleichterung kam so plötzlich, dass Holden sich fast übergeben hätte. Auch das verhinderten die automatisch verabreichten Medikamente. Er holte tief Luft, und die Knorpel des Brustbeins kehrten mit schmerzhaftem Knacken an die alten Positionen zurück.
»Meldung«, murmelte er. Ihm tat das Kinn weh.
»Com-Antennen erfasst«, antwortete Alex sofort. Die Kommunikation und die Zielerfassung der Thoth-Station gehörten zu den wichtigsten Zielen.
»Alles grün«, sagte Amos von unten.
»Sir«, meldete sich Naomi warnend.
»Verdammt, ich sehe es«, ergänzte Alex.
Holden legte sich die Anzeigen von Naomis Konsole auf das eigene Display, um zu erkennen, was sie meinte. Die Rosinante hatte inzwischen herausgefunden, warum sie das Stealthschiff nicht identifizieren konnte.
Es waren zwei Schiffe, nicht etwa eine große und schwerfällige Raketenfregatte, vor der sie umhertanzen und die sie aus nächster Nähe in Stücke schießen konnten. Nein, das wäre ja auch zu leicht gewesen. Es handelte sich um zwei erheblich kleinere Einheiten, die dicht nebeneinander gestanden hatten, um die feindlichen Sensoren zu täuschen. Jetzt fuhren beide die Maschinen hoch und lösten sich voneinander.
Na gut, dachte Holden. Dann versuchen wir etwas anderes.
»Alex, machen Sie sie auf uns aufmerksam«, sagte er. »Sie dürfen nicht auf die Molinari losgehen.«
»Alles klar«, antwortete Alex. »Eine Rakete ist unterwegs.«
Die Rosinante bebte, als Alex auf eines der beiden Schiffe einen Torpedo abfeuerte. Die kleineren Gegner wechselten ständig Geschwindigkeit und Kurs, und der Torpedo war viel zu hastig und aus einem ungünstigen Winkel abgefeuert worden. Er würde nicht treffen, doch immerhin würde die Rosinante auf allen Monitoren als neue Bedrohung auftauchen, und das war gut.
Die kleineren Schiffe entfernten sich mit vollem Schub voneinander und verbreiteten hinter sich Tarnkörper und störende Laserimpulse. Der Torpedo änderte mehrmals die Richtung und entfernte sich, ohne ein klares Ziel zu finden.
»Naomi, Alex, habt ihr eine Ahnung, womit wir es zu tun haben?«, fragte Holden.
»Die Rosinante hat sie noch nicht erkannt, Sir«, erklärte Naomi.
»Neues Design«, ergänzte Alex. »Aber sie fliegen wie schnelle Abfangjäger. Ich nehme an, sie haben je ein oder zwei Torpedos im Bauch und unter dem Kiel eine Railgun montiert.«
Also waren sie schneller als die Rosinante und konnten besser manövrieren, aber sie konnten immer nur in eine Richtung schießen.
»Alex, wechseln Sie den Kurs auf …« Holdens Befehl wurde unterbrochen, als die Rosinante schauderte und bockte. Er wurde seitlich gegen die Gurte geschleudert, dass es ihm die Rippen quetschte.
»Wir sind getroffen!«, riefen Amos und Alex gleichzeitig.
»Die Station hat mit einer Art schwerer Gausskanone auf uns geschossen«, ergänzte Naomi.
»Schaden?«, fragte Holden.
»Ist glatt durchgeschlagen, Käpt’n«, sagte Amos. »Die Messe und die Werkstatt. Habe ein paar gelbe Anzeigen, aber nichts, was uns umbringt.«
Nichts, was uns umbringt, das klang gut. Holden trauerte um die Kaffeemaschine.
»Alex«, sagte Holden, »vergessen Sie die kleinen Schiffe. Erledigen Sie die Com-Antennen.«
»Alles klar«, antwortete Alex. Die Rosinante machte abermals einen Satz, als Alex den Kurs wechselte, um Torpedos auf die Station abzufeuern.
»Naomi, sobald einer der Jäger angreift, richten Sie den Com-Laser mit voller Leistung auf ihn und werfen Tarnkörper ab.«
»Ja, Sir«, bestätigte sie. Vielleicht reichte der Laser aus, um das feindliche Zielsystem ein paar Sekunden zu lähmen.
»Die Station setzt jetzt die Nahverteidigung ein«, meldete Alex. »Es wird ein bisschen holprig.«
Holden klinkte sich aus Naomis Bildschirm aus und beobachtete, was Alex tat. Auf dessen Anzeige erschienen Tausende schnell fliegender Lichtpunkte, hinter denen die Thoth-Station rotierte. Der Abwehrcomputer der Rosinante stellte das gegnerische Kanonenfeuer auf Alex’ Anzeige mit hellen Lichtern dar. Die Geschosse flogen unglaublich schnell, aber da das System die Salven zurückberechnete, konnte der Pilot wenigstens erkennen, woher sie kamen und wohin sie flogen. Alex reagierte auf die Bedrohung mit großer Geschicklichkeit und entfernte sich mit raschen, fast willkürlich erscheinenden Schüben aus der Schusslinie, was die automatischen Zielsysteme der Abwehrkanonen zwang, den Schusswinkel ständig neu zu berechnen.
Für Holden erschien es wie ein Spiel. Unglaublich helle Lichtpunkte flogen in Ketten von der Raumstation auf sie zu wie lange Perlensschnüre. Das Schiff bewegte sich unablässig, fand die Lücken zwischen den Ketten und wich aus, ehe die Kanonen sich neu ausrichten konnten. Holden wusste jedoch, dass jeder Lichtpunkt für einen mit Teflon beschichteten Stahlbehälter stand, in dem sich abgereichertes Uran befand. Diese Geschosse flogen mit Tausenden Metern pro Sekunde und konnten die Rosinante im Handumdrehen zersieben, wenn Alex das Spiel verlor.
Holden fuhr fast aus der Haut, als sich Amos wieder meldete. »Verdammt, Käpt’n, wir haben irgendwo ein Leck. Drei Manöverdüsen auf der Backbordseite verlieren Wasserdruck. Ich muss das flicken.«
»In Ordnung, Amos. Beeilen Sie sich«, sagte Holden.
Amos schnaubte nur.
Holden sah zu, wie die Thoth-Station auf dem Display heranwuchs. Irgendwo hinter ihnen wendeten vermutlich gerade die beiden Abfangjäger. Als er daran dachte, juckte Holden der Hinterkopf, doch er musste sich konzentrieren. Die Rosinante hatte nicht genug Torpedos, um aus großer Entfernung einen nach dem anderen abzufeuern und zu hoffen, dass früher oder später ein Geschoss das Abwehrfeuer durchdringen würde. Alex musste sie so nahe heranbringen, dass die Kanonen die Torpedos nicht mehr vernichten konnten.
Auf dem Display erschien die Rotationsachse der Station, ein Teil davon war hervorgehoben und auf einem kleineren Nebenschirm vergrößert dargestellt. Holden konnte die Satellitenschüsseln und Antennen der Kommunikation und der Zielerfassung erkennen.
»Eine raus«, meldete Alex. Die Rosinante erbebte, als der Torpedo abgefeuert wurde.
Eine Reihe schneller Manöver und ein starker Schub, mit dem Alex den letzten Geschossen des Abwehrfeuers entkommen wollte, warfen Holden heftig in den Gurten hin und her. Unterdessen flog ihre Rakete, die auf dem Bildschirm als roter Punkt dargestellt wurde, zur Station und traf die Antennen. Es blitzte kurz, dann brach das Abwehrfeuer ab.
»Guter Sch…«
Naomis Ruf unterbrach Holdens Lob. »Einer der Unbekannten hat gefeuert. Zwei schnelle Objekte im Anflug.«
Holden schaltete auf ihren Bildschirm um. Ihr eigenes Abwehrsystem hatte die beiden Jäger und die kleineren und viel schnelleren Objekte erfasst, die sich der Rosinante auf Abfangkurs näherten.
»Alex«, rief Holden.
»Bin dabei, Boss. Gehe auf Verteidigung.«
Holden wurde wieder auf die Liege gepresst, als Alex Schub gab. Das stetige Grollen des Antriebs wich einem Stottern. Auf einmal wurde Holden bewusst, dass er das ständige Feuer ihrer eigenen Abwehrkanonen spürte, die versuchten, die anfliegenden Raketen abzuschießen.
»Verdammt auch«, sagte Amos fast beiläufig.
»Wo sind Sie?« Holden schaltete auf Amos’ Helmkamera um. Der Mechaniker befand sich in einem schwach beleuchteten niedrigen Gang voller Leitungen und Rohre, was bedeutete, dass er zwischen innerer und äußerer Hülle unterwegs war. Vor ihm war ein beschädigtes Rohrstück zu erkennen, das an gebrochene Knochen erinnerte. In der Nähe schwebte ein Schweißbrenner. Das Schiff bockte heftig und warf den Mechaniker in dem Gang hin und her. Alex stieß unterdessen über den Com einen Freudenschrei aus.
»Die Raketen sind nicht eingeschlagen!«, rief er.
»Sagen Sie Alex, er soll mit der Wackelei aufhören«, meldete sich Amos. »Ich kann kaum noch das Werkzeug festhalten.«
»Amos, zurück auf die Druckliege!«, rief Naomi.
»Tut mir leid, Boss.« Amos riss mit einem Grunzen ein Ende des gebrochenen Rohrs heraus. »Wenn ich das nicht in Ordnung bringe und wir verlieren weiter Druck, wird Alex nicht mehr nach steuerbord wenden können. Ich möchte wetten, dass wir dann endgültig im Eimer sind.«
»Machen Sie weiter, Amos«, schaltete sich Holden trotz Naomis Protesten ein. »Aber halten Sie sich gut fest. Es wird noch schlimmer.«
»Alles klar«, antwortete Amos.
Holden schaltete auf Alex’ Display um.
»Holden«, sagte Naomi. Es klang ängstlich. »Amos wird …«
»Er macht seinen Job. Kümmern Sie sich um Ihren. Alex, wir müssen die beiden Gegner ausschalten, ehe die Molinari eintrifft. Gehen Sie auf Abfangkurs zu einem der beiden, und dann machen wir ihn fertig.«
»In Ordnung, Käpt’n«, antwortete Alex. »Wir nehmen uns Gegner zwei vor. Bei dem anderen könnte ich etwas Hilfe brauchen.«
»Um den kümmert sich Naomi«, sagte Holden. »Tun Sie, was Sie können, um ihn uns vom Leib zu halten, während wir seinen Freund erledigen.«
»In Ordnung.« Naomis Stimme war die Anspannung anzumerken.
Holden schaltete wieder auf Amos’ Helmkamera um, doch der Mechaniker kam anscheinend ganz gut zurecht. Er schnitt mit dem Schweißbrenner das zerstörte Rohr frei, neben ihm schwebte schon das Ersatzteil.
»Binden Sie das Rohrstück fest, Amos«, warnte Holden ihn.
»Bei allem Respekt, Kapitän«, erwiderte Amos, »aber die Sicherheitsvorschriften können mich mal. Ich will das schnell erledigen und wieder hier raus.«
Holden zögerte. Wenn Alex eine Kurskorrektur vornehmen musste, konnte sich das schwebende Rohr in ein Projektil verwandeln, das Amos töten oder die Rosinante beschädigen konnte. Es ist Amos, sagte er sich selbst. Er weiß, was er tut.
Holden schaltete auf Naomis Bildschirm um, die alles, was das Com-System hergeben wollte, auf den kleinen Abfangjäger richtete, um ihn mit sichtbarem Licht und Funkstörungen zu blenden. Dann kehrte er zu seinem eigenen taktischen Display zurück. Die Rosinante und Gegner zwei flogen mit selbstmörderischem Tempo aufeinander zu. Sobald sie den Punkt erreicht hatten, an dem man abgefeuerten Torpedos nicht mehr ausweichen konnte, schoss der Jäger seine beiden Raketen ab. Alex markierte die schnell fliegenden Objekte für die Abwehrwaffen und behielt den Abfangkurs bei, ohne jedoch die eigenen Raketen abzufeuern.
»Alex, warum schießen wir nicht?«, fragte Holden.
»Ich will erst die Torpedos erledigen, dann näher heran und ihn mit den Kanonen ausschalten«, erklärte der Pilot.
»Warum?«
»Weil wir nicht sehr viele Torpedos und keinen Nachschub haben. Es ist nicht nötig, sie auf diese Zwerge zu verschwenden.«
Die anfliegenden Torpedos rückten auf Holdens Display ein Stück weiter vor, und nun erwachten auch die Kanonen der Rosinante und versuchten, sie abzuschießen.
»Alex«, sagte er, »wir haben nicht für das Schiff bezahlt. Benutzen Sie es nach Gutdünken. Wenn ich getötet werde, nur weil Sie Munition sparen wollten, werde ich eine Ermahnung in Ihre ewige Akte schreiben.«
»Also, wenn Sie das so sehen …«, meinte Alex. Dann: »Eine Rakete raus.«
Der rote Punkt ihres Torpedos flog in Richtung des zweiten Gegners. Die von ihm abgefeuerten Geschosse kamen unterdessen immer näher heran, dann verschwand eines vom Display.
»Verdammt«, sagte Alex tonlos. Dann wich die Rosinante so abrupt zur Seite aus, dass Holden sich am Visier seines Helms die Nase brach. Über allen Schotts rotierten gelbe Warnlampen, da das Schiff jedoch keine Atmosphäre mehr hatte, konnte Holden glücklicherweise die Sirenen nicht hören. Das taktische Display flackerte, ging aus und erwachte wieder zum Leben. Als er wieder etwas erkennen konnte, waren alle drei Torpedos und das zweite feindliche Schiff verschwunden. Das erste Schiff hielt weiter auf sie zu.
»Schadensmeldung!«, rief Holden und hoffte, der Com sei noch in Betrieb.
»Größere Schäden an der Hülle«, erwiderte Naomi. »Vier Manövrierdüsen sind kaputt. Ein Abwehrgeschütz reagiert nicht mehr. Wir haben auch Sauerstoffvorräte verloren, und das Schott zu den Mannschaftsquartieren ist Schlacke.«
»Warum leben wir noch?« Holden sah den Schadensbericht durch und schaltete sich wieder auf Amos’ Anzugkamera.
»Das Ding hat uns nicht getroffen«, berichtete Alex. »Die Abwehrgeschütze haben die Rakete erwischt, aber es war nahe. Der Sprengkopf ist detoniert, und wir haben ordentlich was abbekommen.«
Es sah nicht so aus, als bewegte Amos sich. Holden rief: »Amos! Meldung!«
»Ja, ja, bin noch da, Kapitän. Ich halte mich nur fest, falls wir noch einmal so durchgeschüttelt werden. Ich glaube, ich habe mir an einer Strebe eine Rippe geprellt, aber ich bin festgezurrt. Nur gut, dass ich nicht noch mehr Zeit auf das Rohr verschwendet habe.«
Holden hatte keine Zeit, zu antworten. Er schaltete wieder auf die taktische Anzeige und beobachtete das sich rasch nähernde zweite feindliche Schiff. Es hatte die Torpedos bereits abgefeuert, konnte sie aus der Nähe aber immer noch mit der Kanone beharken.
»Alex, können Sie uns drehen und auf den Jäger schießen?«
»Ich arbeite daran, wir können aber nicht mehr richtig manövrieren«, erwiderte Alex. Die Rosinante drehte sich ruckend.
Holden schaltete sich auf ein Teleskop und betrachtete den feindlichen Jäger. Aus der Nähe wirkte die Kanonenmündung so groß wie ein Korridor auf Ceres, und er schien direkt auf ihn zu zielen.
»Alex«, sagte er.
»Ich bin dabei, Boss, aber die Rosinante ist angeschlagen.«
Die Kanone des feindlichen Schiffs hatte sie erfasst und war bereit für den Angriff.
»Alex, erledigen Sie es. Jetzt sofort.«
»Eine Rakete raus«, sagte der Pilot, und die Rosinante erbebte.
Holdens Konsole wechselte automatisch zur taktischen Ansicht. Der Torpedo flog geradewegs auf den Jäger zu, während dieser das Feuer eröffnete. Die Anzeige zeigte kleine rote Punkte, die sich viel zu schnell bewegten.
»Wir werden beschossen«, rief er, und dann löste sich die Rosinante um ihn auf.
Holden kam zu sich.
Das Innere des Schiffs war voller Trümmer und überhitzter Metallspäne, die sich wie ein Funkenschauer in Zeitlupe bewegten. Im luftleeren Raum prallten sie von den Wänden ab und trieben weiter wie träge Libellen, wobei sie allmählich abkühlten. Er konnte sich an einen an der Wand montierten Monitor erinnern, der sich gelöst hatte und in einem raffinierten Dreibandenstoß durch den Raum geflogen war, um schließlich sein Brustbein zu treffen. Er blickte an sich hinab. Ein paar Zentimeter vor ihm schwebte der kleine Monitor, sein Anzug hatte aber zum Glück kein Leck. Ihm tat der Bauch weh.
Die Operationskonsole neben Naomi war durchlöchert, ein grünes Gel strömte langsam heraus und ballte sich zu Kügelchen zusammen, die in der Schwerelosigkeit umherschwebten. Holden betrachtete das Loch im Stuhl und das passende Loch im Schott. Anscheinend war die Kugel nur Zentimeter an Naomis Bein vorbeigeflogen. Er schauderte, ihm wurde beinahe übel.
»Verdammt, was war das?«, fragte Amos leise. »Und wie wäre es, wenn wir das in Zukunft nicht mehr machen?«
»Alex?«, sagte Holden.
»Bin noch da, Käpt’n.« Die Stimme des Piloten war gespenstisch ruhig.
»Mein Pult ist tot«, erklärte Holden. »Haben wir den Mistkerl erledigt?«
»Ja, Käpten, der ist hinüber. Aber ein halbes Dutzend Geschosse haben die Rosinante getroffen. Anscheinend haben sie uns vom Bug bis zum Heck durchsiebt. Nur gut, dass der Splitterschutz der Schotts die Schrapnelle abhält, was?«
Alex’ Stimme bebte jetzt. Er hätte eigentlich sagen wollen: Wir müssten alle tot sein.
»Öffnen Sie einen Kanal zu Fred, Naomi«, verlangte Holden.
Sie reagierte nicht.
»Naomi?«
»Ja. Fred.« Sie tippte etwas ein.
In Holdens Helm ertönte statisches Rauchen, dann vernahm er Freds Stimme.
»Hier ist die Guy Molinari. Ich bin froh, dass ihr überlebt habt.«
»Haben wir. Beginnen Sie mit dem Angriff und sagen Sie uns Bescheid, wann wir zu einer Andockbucht der Station humpeln können.«
»In Ordnung«, erwiderte Fred. »Wir suchen euch einen schönen Landeplatz. Fred Ende.«
Holden löste rasch die Gurte seiner Liege und schwebte entspannt zur Decke hinauf.
So, Miller. Jetzt bist du an der Reihe.