6 Miller
Der Karren schoss durch den Tunnel, die Sirene übertönte das Heulen der Motoren. Hinter ihnen blieben neugierig starrende Zivilisten und der Geruch überhitzter Radlager zurück. Miller beugte sich vor, als könne er dadurch den Wagen zwingen, schneller zu fahren. Sie waren noch drei Ebenen und etwa vier Kilometer von der Wache entfernt.
»Na gut«, sagte Havelock, »ich geb’s ja zu, ich versteh das nicht.«
»Was denn?«, sagte Miller und meinte eigentlich: Was hast du jetzt schon wieder zu jammern? Havelock verstand es als: Was verstehst du nicht?
»Ein Wassertransporter wird ein paar Millionen Kilometer entfernt in die Luft gejagt. Warum gibt es hier Großalarm? Unsere Vorräte reichen für Monate, ohne dass wir auch nur an Rationierung denken müssen. Da draußen sind noch viele andere Transporter unterwegs. Warum ist dies eine Krise?«
Miller drehte sich zu seinem Partner herum. Dieser stämmige, kompakte Körperbau. Die dicken Knochen, die von der Kindheit bei einem G herrührten. Genau wie das Arschloch in der Sendung. Sie verstanden es nicht. Wäre Havelock an James Holdens Stelle gewesen, dann hätte er vielleicht sogar den gleichen unverantwortlichen Mist gebaut. Einen kleinen Moment lang waren sie keine Wachleute mehr. Sie waren auch keine Partner. Sie waren ein Gürtler und ein Erder. Miller wandte den Blick ab, bevor Havelock seinen veränderten Augenausdruck bemerkte.
»Dieser Trottel von Holden, der die Botschaft geschickt hat«, erklärte Miller. »Er hat gerade in unserem Namen dem Mars den Krieg erklärt.«
Der Wagen ruckte und bog ab, als sich der eingebaute Computer auf einen Verkehrsstau einen halben Kilometer vor ihnen einstellte. Havelock rutschte herum und griff nach einer Stützstrebe. Sie erreichten die Rampe zur nächsten Ebene, Fußgänger machten ihnen Platz.
»Du bist an einem Ort aufgewachsen, wo das Wasser vielleicht schmutzig war, aber es ist für euch vom Himmel gefallen«, fuhr Miller fort. »Die Luft war verdreckt, ist aber nicht entwichen, wenn die Türdichtung versagt hat. Das sieht hier draußen anders aus.«
»Aber wir sind nicht auf dem Frachter. Wir brauchen das Eis nicht. Wir werden nicht bedroht«, widersprach Havelock.
Miller seufzte und rieb sich mit Daumen und Knöchel die Augen, bis falsche Farben tanzten.
»Als ich beim Morddezernat angefangen habe, war da ein Kerl, ein Spezialist für Wohnungsmanagement, der auf Vertragsbasis für eine Firma auf Luna gearbeitet hat«, erklärte Miller. »Jemand hat ihm die Hälfte der Haut verbrannt und ihn durch eine Luftschleuse gestoßen. Es stellte sich heraus, dass er für die Wartung von sechzig Wohnlöchern auf Ebene dreißig zuständig war. Eine miese Gegend. Er hatte an allen Ecken und Enden gespart und drei Monate lang nicht die Luftfilter erneuert. In drei Einheiten wuchs schon der Schimmel. Weißt du, was wir danach gefunden haben?«
»Was denn?«, fragte Havelock.
»Absolut nichts mehr, weil wir nicht mehr nachgesehen haben. Manchmal muss jemand sterben, und er war so einer. Der nächste Kandidat, der den Job übernahm, hat dem Plan entsprechend die Leitungen gereinigt und die Filter gewechselt. Das gefällt mir so am Gürtel. Jeder, der hier herausgekommen ist und die Lebenserhaltungssysteme nicht über alles andere gestellt hat, ist jung gestorben. Alle, die noch leben, nehmen es wichtig.«
»Natürliche Auslese?«, fragte Havelock. »Du willst doch nicht ernsthaft mit der natürlichen Auslese argumentieren, oder? Ich hätte nie gedacht, dass du mal so einen Mist verzapfst.«
»Wieso?«
»Das ist Mist, das ist rassistische Propaganda«, erklärte Havelock. »Es läuft auf die Behauptung hinaus, die unterschiedliche Umwelt hätte die Gürtler so sehr verändert, dass sie nicht bloß ein Haufen von dürren Zwangsneurotikern, sondern eigentlich keine Menschen mehr sind.«
»Nein, das habe ich nicht gesagt«, widersprach Miller, obwohl er befürchtete, genau dies gemeint zu haben. »Es ist nur so, dass die Gürtler äußerst unnachsichtig reagieren, wenn jemand grundlegende Ressourcen vernichtet. Das Wasser war Luft, Antriebsmasse und Trinkwasser für uns. In dieser Hinsicht sind wir absolut humorlos.«
Der Karren fuhr über eine Rampe, die aus Gitterstäben bestand. Unter ihnen versank die tiefere Ebene. Havelock schwieg.
»Dieser Holden hat doch nicht gesagt, dass es der Mars war. Er sagte nur, sie hätten eine Batterie vom Mars gefunden. Glaubst du wirklich, die Leute werden … einen Krieg erklären?«, fragte Havelock schließlich. »Nur auf der Grundlage dieser Bilder, die ein einziger Kerl geschickt hat?«
»Diejenigen, die abwarten, bis sie alle Fakten kennen, sind nicht unser Problem.«
Wenigstens nicht heute Abend, dachte er. Sobald die Geschichte durchsickert, werden wir sehen, was Sache ist.
Die Wache war voller Menschen. Die Sicherheitsleute standen in Gruppen herum, nickten einander zu, die Augen zugekniffen, das Kinn vorgeschoben. Ein Cop von der Sitte lachte über irgendetwas. Es klang viel zu laut und gezwungen und roch nach Angst. Miller bemerkte die Veränderung in Havelock, als sie durch den Gemeinschaftsraum zu ihren Schreibtischen gingen. Havelock hatte Millers Reaktion noch darauf zurückführen können, dass ein einzelner Mann überempfindlich reagierte. Aber nun ein ganzer Raum, eine ganze Wache. Als sie ihre Stühle erreicht hatten, waren Havelocks Augen stark geweitet.
Captain Shaddid kam herein. Der verschlafene Ausdruck war verschwunden. Sie hatte sich die Haare zurückgekämmt, die Uniform war frisch gebügelt und in Ordnung, ihre Stimme so ruhig wie die eines Lazarettarztes. Sie stieg auf den erstbesten Schreibtisch, um ihn als Kanzel für ihre Ansprache zu benutzen.
»Meine Damen und Herren«, begann sie. »Sie haben die Sendung gesehen. Hat jemand Fragen?«
»Wer hat den verdammten Erder ans Funkgerät gelassen?«, rief jemand. Havelock lachte zusammen mit allen anderen, doch Miller entging nicht, dass seine Augen ernst blieben. Shaddid machte eine finstere Miene, und die Leute beruhigten sich wieder.
»Es sieht folgendermaßen aus«, sagte sie. »Es ist unmöglich, diese Information zurückzuhalten, sie wurde auf allen Kanälen gesendet. Fünf Rechenzentren im internen Netzwerk spiegeln die Nachricht, und wir müssen davon ausgehen, dass sie schon seit zehn Minuten die Runde macht. Unsere Aufgabe besteht jetzt darin, die Unruhen auf ein Minimum zu begrenzen und die Integrität der Station vor allem am Hafen zu schützen. Die Wachen fünfzig und zwodreizehn helfen uns. Die Hafenbehörde hat alle Schiffe freigegeben, die auf den inneren Planeten registriert sind, aber das heißt nicht, dass sie alle bereits fort sind. Die Kapitäne müssen die Mannschaften zurückrufen, und es bleibt fraglich, ob wirklich alle dem Ruf folgen werden.«
»Was ist mit den Regierungsbüros?«, fragte Miller laut genug, damit es alle verstanden.
»Das ist Gott sei Dank nicht unser Problem«, erwiderte Shaddid. »Sie haben eine entsprechende Infrastruktur. Die Drucktüren sind schon geschlossen und versiegelt. Sie haben sich aus den allgemeinen Lebenserhaltungssystemen ausgeklinkt und atmen jetzt nicht einmal mehr die gleiche Luft wie wir.«
»Immerhin, das ist eine Erleichterung«, sagte Yevgeny, der mitten zwischen den Detectives vom Morddezernat stand.
»Jetzt die schlechten Neuigkeiten«, fuhr Shaddid fort. Hundertfünfzig Cops hielten den Atem an. »Wir haben achtzig bekannte AAP-Agenten auf der Station. Alle gehen normalen Beschäftigungen nach und sind völlig legal hier. Ihr wisst, dass dies die Gelegenheit ist, auf die sie warten. Wir haben Befehl vom Gouverneur, sie nicht vorsorglich festzunehmen. Niemand wird verhaftet, der nicht irgendetwas angestellt hat.«
Ein Chor zorniger Stimmen erhob sich.
»Was glaubt er denn, wer er ist?«, rief jemand von hinten. Shaddid fiel über ihn her wie ein hungriger Hai.
»Der Gouverneur ist derjenige, der uns unter Vertrag genommen hat, damit die Station ordentlich funktioniert«, sagte sie. »Deshalb befolgen wir seine Anweisungen.«
Am Rande seines Gesichtsfelds sah Miller, wie Havelock nickte. Er fragte sich, wie der Gouverneur über die Frage der Unabhängigkeit des Gürtels dachte. Vielleicht war die AAP nicht die einzige Organisation, die auf etwas in dieser Art gewartet hatte. Shaddid fuhr fort und umriss, welche Maßnahmen zunächst ergriffen werden sollten. Miller hörte nur mit halbem Ohr zu und vertiefte sich so sehr in die politischen Spekulationen, die mit diesem Ereignis zusammenhingen, dass er es fast verpasste, als Shaddid ihn aufrief.
»Miller führt das zweite Team am Hafen und kümmert sich um die Sektoren dreizehn bis vierundzwanzig. Kasagawa, Sie leiten das dritte Team, fünfundzwanzig bis sechsunddreißig und so weiter. Jeder mit Ausnahme von Miller hat zwanzig Leute.«
»Ich komme auch mit neunzehn zurecht«, erklärte Miller. Dann sagte er leise zu Havelock: »Du hältst dich bedeckt, Partner. Es macht sich nicht gut, einen Erder mit einer Kanone da draußen rumlaufen zu lassen.«
»Ja, das hab ich kommen sehen«, meinte Havelock.
»Also gut«, schloss Shaddid. »Ihr wisst, was ihr zu tun habt. An die Arbeit.«
Miller rief seinen Einsatztrupp zusammen. Die Gesichter kannte er, weil er schon seit Jahren mit ihnen im Polizeidienst zusammenarbeitete. Fast reflexartig teilte er sie im Geiste in passende Gruppen auf. Brown und Gelbfish hatten bereits Erfahrungen bei der Aufruhrbekämpfung gesammelt, also konnten sie als Unterführer aushelfen, falls es wirklich Ausschreitungen gab. Aberforth hatte drei Verweise wegen Gewaltexzessen bekommen, seit ihr Junge bei einer Tour als Drogenkurier nach Ganymed erwischt worden war, also kam sie in die zweite Reihe. An ihrer problematischen Selbstbeherrschung konnte sie anderswo arbeiten. Ringsherum trafen die anderen Abteilungskommandanten ähnliche Entscheidungen.
»Gut«, sagte Miller. »Dann ziehen wir uns an.«
Sie entfernten sich gemeinsam und gingen zur Rüstkammer. Miller blieb noch einmal stehen. Havelock lehnte mit verschränkten Armen am Schreibtisch und starrte ins Leere. Miller war zwischen Mitgefühl mit dem Mann und seiner Ungeduld hin- und hergerissen. Es war schwer, zum Team zu gehören und doch nicht mitspielen zu dürfen. Andererseits, was hatte er erwartet, als er einen Kontrakt im Gürtel angenommen hatte? Havelock hob den Kopf und begegnete Millers Blick. Sie nickten einander zu. Miller brach den Blickkontakt als Erster.
Die Rüstkammer, halb Lagerhaus und halb Bankschließfach, war von jemandem entworfen worden, der mehr Wert auf Platzersparnis als auf effiziente Arbeitsbedingungen gelegt hatte. Die in der Decke versenkten LED-Lampen verliehen den grauen Wänden etwas Steriles. Vom nackten Stein hallten die Stimmen und die Schritte wider. In den Regalen an den Wänden und in der Mitte des Raumes lagerten Munition und Feuerwaffen, Beweismitteltüten, Testkoffer, Reserverechner und Ersatzuniformen. Die Krawallausrüstung befand sich in einem Nebenzimmer in grauen Stahlschränken mit hochwertigen elektronischen Schlössern: extrem harte Plastikschilde, elektrische Schlagstöcke, Schienbeinschoner, kugelsichere Brust- und Beinpanzer, Helme mit verstärktem Visier. Alles war darauf angelegt, eine Handvoll Wachleute in eine einschüchternde, übermenschliche Armee zu verwandeln.
Miller tippte seinen Code ein. Die Sperren öffneten sich, die Spinde gaben den Inhalt frei.
»Ja, verdammt will ich sein«, sagte Miller fast beiläufig.
Die Spinde waren leere graue Särge, denen die Leichen abhandengekommen waren. Einige andere Wachleute schrien wütend auf. Miller öffnete der Reihe nach sämtliche Spinde, auf die er Zugriff hatte. Es sah überall gleich aus. Shaddid erschien neben ihm, auch ihr Gesicht war vor Wut verzerrt.
»Haben wir einen Ausweichplan?«, fragte Miller.
Shaddid spuckte auf den Boden und schloss die Augen. Die Augäpfel bewegten sich unter den Lidern, als träumte sie. Zwei lange Atemzüge später schlug sie die Augen wieder auf.
»Sehen Sie bei den Spezialeinheiten nach. Dort müsste genug sein, um zwei Leute pro Trupp auszurüsten.«
»Scharfschützenkluft?«, fragte Miller.
»Haben Sie eine bessere Idee, Detective?« Das letzte Wort betonte Shaddid besonders.
Miller hob ergeben die Hände. Die Krawallausrüstung sollte die Gegner einschüchtern. Die Spezialausrüstung war jedoch dazu da, mit größtmöglicher Effizienz zu töten. Anscheinend hatte sich soeben ihr Auftrag geändert.
An jedem beliebigen Tag dockten rund tausend Schiffe an der Ceres-Station an. Nur selten flaute der Betrieb ab, und völlig zum Erliegen kam er nie. Jeder Sektor konnte zwanzig Schiffe, den entsprechenden Verkehr an Menschen und Fracht, die Transportfahrzeuge, Ladekräne und Schwerlaststapler aufnehmen. Millers Abteilung war für zwanzig Sektoren verantwortlich.
Es stank nach Kühlmittel und Öl. Die Schwerkraft lag knapp über einem Drittel G, was ausreichte, um der Gegend eine Aura von Bedrückung und Gefahr zu verleihen. Miller mochte den Raumhafen nicht. Es machte ihn nervös, das Vakuum so dicht unter den Füßen zu haben. Wenn er Hafenarbeitern und Transportmannschaften begegnete, wusste er nie, ob er finster dreinschauen oder lächeln sollte. Er war hier, um den Leuten Angst zu machen, damit sie sich benahmen, und um ihnen zu zeigen, dass alles unter Kontrolle war. In den ersten drei Sektoren entschied er sich zu lächeln. Das war die Art Lüge, die er besser beherrschte.
Sie hatten gerade die Verbindung zwischen den Sektoren Neunzehn und Zwanzig erreicht, als sie die Schreie hörten. Miller zog das Handterminal aus der Tasche, verband sich mit dem zentralen Überwachungsnetzwerk und rief die Kamerabilder ab. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er es gefunden hatte. Eine Meute von fünfzig oder sechzig Zivilisten blockierte fast den ganzen Tunnel, auf beiden Seiten staute sich der Verkehr. Außerdem schwenkten sie Waffen: Messer und Keulen, mindestens zwei Pistolen. Fäuste hoben sich drohend in die Luft. Mitten in der Menge prügelte ein riesiger Mann, der kein Hemd trug, eine Frau zu Tode.
»Es geht los.« Miller winkte seinen Leuten, im Laufschritt vorzustoßen.
Er war noch hundert Meter von der Biegung und dem dichtesten Gedränge entfernt, als er sah, wie der Mann ohne Hemd sein Opfer niederschlug und auf ihren Hals trat. Der Kopf drehte sich auf eine Weise zur Seite, die keine Fragen mehr offenließ. Miller ließ sein Team etwas langsamer laufen. Auch ohne außer Atem zu sein, war es schon schwierig genug, den Mörder inmitten seiner Freunde festzunehmen.
Sie hatte Blut geleckt, so viel war Miller jetzt klar. Die Meute würde sich neue Ziele suchen. Die Station oder die Schiffe. Wenn sich ihnen noch mehr Aufwiegler anschlossen … wohin würden sie sich wenden? Eine Ebene höher und einen halben Kilometer nach innen versetzt gab es ein Bordell, das vor allem Kunden von den inneren Planeten besuchten. Der Zollinspektor in Sektor Einundzwanzig war mit einem Mädchen von Luna verheiratet und hatte vielleicht zu oft mit ihr angegeben.
Zu viele Ziele, dachte Miller, als er seine Schützen ausschwärmen ließ. Er musste jetzt versuchen, einem Feuer vernünftig zuzureden: Hört sofort auf, dann wird niemand mehr getötet.
Im Geiste sah er Candace die Arme vor der Brust verschränken. Und wie lautet dein Plan B?
Die Leute am Rande der Meute schlugen Alarm, ehe Miller sie erreichte. Das Gedränge wogte hin und her. Miller schob den Hut zurück. Männer, Frauen. Dunkle Haut, helle oder goldbraune Haut, der schmale, dürre Körperbau der Gürtler. Alle hatten die Münder geöffnet und glotzten wie Krieg führende Schimpansen.
»Lassen Sie mich ein paar ausschalten, Sir«, sagte Gelbfish über sein Terminal. »Lassen Sie mich ihnen die Furcht Gottes einjagen.«
»Dazu kommen wir noch.« Miller lächelte die wütende Menge an. »Dazu kommen wir noch.«
Das Gesicht, auf das er gewartet hatte, schob sich nach vorn. Der große Mann ohne Hemd. Blut bedeckte seine Hände und war ihm auf die Wange gespritzt. Der Auslöser der Unruhen.
»Den da?«, fragte Gelbfish, und Miller wusste, dass der winzige infrarote Punkt bereits auf der Stirn des Hemdlosen klebte, als dieser Miller und die Uniformierten anstarrte.
»Nein«, sagte Miller. »Dann flippen nur die anderen aus.«
»Was tun wir dann?«, fragte Brown.
Gute Frage.
»Sir«, sagte Gelbfish, »der große Kerl hat eine AAP-Tätowierung auf der linken Schulter.«
»Tja«, sagte Miller. »Wenn Sie schießen müssen, dann fangen Sie genau da an.«
Er trat vor, verband sich mit dem lokalen System und schaltete den Alarm ab. Als er sprach, dröhnte seine Stimme zugleich aus allen Deckenlautsprechern.
»Hier ist Detective Miller. Falls Sie nicht alle wegen Beihilfe zum Mord belangt werden wollen, würde ich vorschlagen, dass Sie sich jetzt zerstreuen.« Er schaltete das Mikrofon stumm und sagte zu dem Hemdlosen: »Sie nicht, großer Mann. Wenn Sie auch nur einen Muskel bewegen, erschießen wir Sie.«
Jemand in der Menge warf einen Schraubenschlüssel. Das silberne Metall flog in einem flachen Bogen direkt auf Millers Kopf zu. Er hätte es fast geschafft auszuweichen, doch der Griff traf ihn am Ohr. In seinem Kopf ertönten große Glocken, das Blut lief ihm am Hals hinunter.
»Nicht schießen«, rief Miller. »Nicht schießen.«
Die Menge lachte, als hätte er mit ihr gesprochen. Diese Idioten. Der Hemdlose machte kühn einen Schritt nach vorn. Die Steroide hatten seine Schenkel so sehr aufgepumpt, dass er nur noch watscheln konnte. Miller schaltete das Mikrofon seines Terminals wieder ein. Solange die Menge zusah, wie sie einander anstarrten, konnte sie nichts anderes zerstören. Es griff nicht um sich. Noch nicht.
»Also, mein Freund. Bist du hier der Einzige, der hilflose Leute tottrampelt, oder will dir noch jemand helfen?«, fragte Miller. Seine Stimme klang gelassen, dröhnte aber aus den Lautsprechern im Dock wie eine göttliche Verkündigung.
»Was blökst du da, du Erdhund?«, fragte der Hemdlose.
»Erde?« Miller kicherte. »Sehe ich aus, als wäre ich in einer Schwerkraftsenke aufgewachsen? Ich bin auf diesem Fels hier geboren.«
»Bist trotzdem ’ne verdammte Erdschlampe«, sagte der Hemdlose. »Bist ihr Hündchen.«
»Glaubst du das wirklich?«
»Is’ doch wahr«, sagte der Hemdlose und spannte die Brustmuskeln. Miller unterdrückte ein Lachen.
»Dann war es also gut für die Station, die arme Frau zu töten?«, fragte Miller. »War es gut für den Gürtel? Sei kein Trottel, Junge. Du wirst benutzt. Sie wollen, dass ihr euch wie ein paar dumme randalierende Idioten benehmt, damit sie einen Grund haben, den Laden dichtzumachen.«
»Leck mich doch, du verdammte Erdschlampe«, schimpfte der Mann im Dialekt der Gürtler und beugte sich drohend vor.
Das war jetzt das zweite Mal, dass er mich eine Schlampe genannt hat, dachte Miller.
»Auf die Kniescheiben«, befahl Miller. Aus den Kniegelenken des Hemdlosen spritzten zwei rote Schleier, und er sank heulend zu Boden. Miller ging an dem zuckenden Körper vorbei und wandte sich an die Menge.
»Nehmt ihr Befehle von diesem pendejo entgegen?«, sagte er. »Hört mir zu, ihr wisst genau, was jetzt kommt. Jeder kapiert es, wenn der Tanz beginnt, oder? Sie haben tu agua kaputt gemacht, und wir wissen alle, wie die Antwort lautet. Durch die Luftschleuse, no?«
Er sah es den Gesichtern an. Die plötzliche Angst vor den Scharfschützen, dann die Verwirrung. Er machte weiter und ließ ihnen keine Zeit zum Nachdenken. Nun benutzte er wieder die Hochsprache, die Sprache der Bildung und der Behörden.
»Wisst ihr, was der Mars will? Er will, dass ihr genau dies tut. Sie brauchen Mistkerle wie den hier, damit alle die Gürtler für einen Haufen Psychopathen halten, die ihre eigene Station zerstören. Sie wollen sich einreden, wir seien genau wie sie. Tja, das sind wir aber nicht. Wir sind Gürtler, und wir passen auf die auf, die zu uns gehören.«
Er pickte sich einen Mann am Rand der Menge heraus. Er war nicht so aufgepumpt wie der Hemdlose, aber immer noch sehr groß und trug den geteilten Kreis der AAP als Tätowierung auf dem Arm.
»Du da«, sagte Miller. »Willst du für den Gürtel kämpfen?«
»Klaro«, sagte der Mann.
»Glaub ich dir sofort. Das wollte der da auch.« Miller deutete mit einem Daumen zu dem Hemdlosen. »Aber jetzt ist er ein Krüppel und geht wegen Mordes in den Bau. Damit haben wir schon einen verloren. Verstehst du das? Sie bringen uns dazu, gegeneinander zu kämpfen. Das dürfen wir nicht zulassen. Jeder von euch, der verhaftet, verkrüppelt oder getötet wird, ist einer weniger, den wir haben, wenn es darauf ankommt. Und der Tag wird kommen, aber nicht heute. Habt ihr das verstanden?«
Der AAP-Mann sah ihn finster an. Die Menge wich vor ihm zurück und machte Platz. Miller spürte es wie eine Strömung, die Stimmung veränderte sich.
»Der Tag wird kommen, hombre«, sagte der AAP-Mann. »Hoffentlich weißt du dann, auf welcher Seite du stehst.«
Es klang nach einer Drohung, doch dahinter lag keine Kraft. Miller atmete langsam ein. Es war vorbei.
»Immer auf der Seite der Engel«, sagte er. »Geht nach Hause. Hier ist der Spaß vorbei, und wir haben alle viel zu tun.«
Die Menge zerstreute sich bereits, er hatte den Leuten den Schneid abgekauft. Zuerst einer, dann zwei zogen sich an den Rändern zurück, dann löste sich das Gedränge auf. Fünf Minuten nach Millers Ankunft waren die einzigen Anzeichen, dass überhaupt etwas vorgefallen war, der Hemdlose, der sich heulend in seiner eigenen Blutlache wand, Millers verletztes Ohr und die tote Frau, vor der fünfzig brave Bürger gestanden und zugeschaut hatten, als jemand sie zu Tode geprügelt hatte. Sie war klein und trug die Borduniform einer marsianischen Frachtlinie.
Nur eine Tote. Also war es ein erfolgreicher Abend, dachte Miller verbittert.
Er ging zu dem gestürzten Mann. Die AAP-Tätowierung war rot verschmiert. Miller kniete nieder.
»Mein Freund«, sagte er, »du bist wegen Mordes an dieser Dame dort verhaftet, wer auch immer sie ist. Du bist nicht verpflichtet, ohne Anwalt oder Gewerkschaftsvertreter eine Aussage zu machen, und wenn du mir auch nur einen schiefen Blick zuwirfst, werfe ich dich in den Weltraum. Haben wir uns verstanden?«
Der Augenausdruck des Mannes verriet Miller, dass die Botschaft angekommen war.