46 Miller

Miller war klar, dass er mit Konsequenzen rechnen musste, nachdem er gegen seinen neuen Boss für Holden Partei ergriffen hatte. Seine Position bei Fred und der AAP war ohnehin schon wacklig genug, und der Hinweis, Holden und seine Crew seien nicht nur entschlossener, sondern auch vertrauenswürdiger als Freds eigene Leute, war nicht eben das gewesen, was man einen guten Einstand nannte. Die Tatsache, dass es der Wahrheit entsprach, machte die Sache nur noch schlimmer.

Er rechnete mit einer Retourkutsche. Es wäre naiv gewesen, etwas anderes zu glauben.

»Erhebt euch, Kinder Gottes, wie ein Mann«, sangen die Blockierer. »Seid einig, Brüder, und besiegt das Böse Hand in Hand.«

Miller nahm den Hut ab und fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das schüttere Haar. Es würde kein guter Tag werden.

Das Innere der Nauvoo befand sich, von außen nicht zu erkennen, immer noch in einem höchst provisorischen Zustand. Die Erbauer des zwei Kilometer langen Raumschiffs hatten mehr als nur ein riesiges Flugobjekt konstruiert. Die Höhe der Ebenen war großzügig bemessen, Streben aus Legierungen fügten sich organisch in freie Flächen ein, die idyllische Wiesen aufnehmen sollten. Kuppeln erinnerten an die größten Kathedralen der Erde und des Mars, mächtige Träger schwangen sich empor, sorgten für Stabilität bei starkem Schub und priesen den Ruhm Gottes. Bis jetzt waren nur die Metallknochen und das Substrat für die Pflanzen zu erkennen, doch Miller sah bereits, wohin dies führen sollte.

Ein Generationenschiff war ein Zeugnis von übermächtigem Ehrgeiz und unerschütterlichem Glauben. Die Mormonen wussten dies und hatten sich der Aufgabe gestellt. Sie hatten ein Schiff konstruiert, das zugleich ein Gebet, ein Ausdruck der Frömmigkeit und eine Lobpreisung war. Die Nauvoo sollte der gewaltigste Tempel werden, den die Menschheit je errichtet hatte. Sie sollte die Crew sicher durch die unermesslichen Abgründe des interstellaren Raums geleiten und stellte die größte Hoffnung der Menschheit dar, die Sterne zu erreichen.

Oder besser, das wäre sie gewesen, hätte er nicht andere Pläne mit ihr gehabt.

»Sollen wir sie jetzt mit Reizgas eindecken, Pampaw?«, fragte Diogo.

Miller betrachtete die Demonstranten. Es waren schätzungsweise zweihundert, die eingehakt die Gänge und Wartungsschächte absperrten. Lastenaufzüge und Greifkräne standen still, die Schalttafeln waren dunkel, die Batterien kurzgeschlossen.

»Wahrscheinlich sollten wir das machen«, seufzte Miller.

Das Sicherheitsteam – sein Team – zählte knapp drei Dutzend Leute. Die Männer und Frauen bildeten eher wegen der von der AAP herausgegebenen Armbänder als aufgrund ihrer Ausbildung, Erfahrung, Zugehörigkeit oder politischen Einstellung eine Einheit. Hätten die Mormonen beschlossen, Gewalt anzuwenden, dann hätte es ein Blutbad gegeben. Hätten sie Raumanzüge angelegt, dann hätte sich der Protest stundenlang hingezogen. Vielleicht sogar Tage. Nun aber gab Diogo das Zeichen, und drei Minuten später flogen vier kleine Kometen durch die Schwerelosigkeit und versprühten Schwaden von NNLP und THC.

Es war das sanfteste und freundlichste Mittel, das sich überhaupt in ihrem Arsenal befand. Die Blockierer mit schlechten Lungen würden trotzdem Probleme bekommen, aber sie alle würden im Laufe der nächsten halben Stunde völlig entspannt und apathisch herumhängen und sich auf einem Trip befinden. Auf Ceres hatte Miller diese Mischung nie eingesetzt, denn das Zeug wäre aus den Lagern gestohlen und für Partys im Büro verbraucht worden. Er versuchte, sich mit diesem Gedanken zu trösten. Als ob das ein Ausgleich für die Lebensträume der Menschen und die Früchte ihrer Mühen gewesen wäre, die er zerstörte.

Neben ihm lachte Diogo.

Sie brauchten drei Stunden, um das Schiff einmal zu durchkämmen, und noch einmal fünf Stunden, um alle aufzustöbern, die sich in Schächten und in abgesicherten Räumen verschanzt hatten, um erst im letzten Moment wieder aufzutauchen und die Mission zu sabotieren. Als sie die weinenden Menschen vom Schiff trieben, fragte Miller sich, ob er ihnen gerade das Leben gerettet hatte. Wenn seine einzige Leistung im Leben darin bestanden hatte, Fred Johnson die Entscheidung zu ersparen, ob er lieber eine Handvoll Unschuldiger zusammen mit der Nauvoo untergehen ließ oder das Risiko einging, dass die inneren Planeten Eros in die Finger bekamen, sah es doch gar nicht so schlecht aus.

Sobald Miller eine entsprechende Meldung abgegeben hatte, traten die Techniker der AAP in Aktion. Sie aktivierten die Greifkräne und Lastenaufzüge und kümmerten sich um die hundert kleinen Sabotageakte, die dafür sorgen sollten, dass die Maschinen der Nauvoo nicht starteten. Sie räumten alles an Ausrüstung aus, was sie retten wollten. Miller sah zu, wie große Aufzüge, in deren weiten Kabinen fünfköpfige Familien hätten bequem leben können, Kiste um Kiste Dinge herausschafften, die erst kürzlich hineingebracht worden waren. Das Dock war so belebt wie Ceres mitten in der Schicht. Miller rechnete schon halb damit, seine alten Kollegen zwischen den Stauern umherlaufen zu sehen, wo sie für das sorgten, was sie für Ruhe und Ordnung hielten.

Wann immer er einen Moment Zeit hatte, schaltete er auf dem Handterminal den Feed aus Eros ein. Früher hatte er mal die Auftritte einer Künstlerin verfolgt. Sie hieß Jila Sorormaya. Wenn er sich recht erinnerte, hatte sie absichtlich Datenspeicher beschädigt und den kaputten Datenstrom durch ihren Musikapparat geleitet. Als sie urheberrechtlich geschützte Teile der Speichersoftware in die Musik integriert und verbreitet hatte, hatte sie Ärger bekommen. Miller hatte ihr nicht lange nachgetrauert. Eine verrückte Künstlerin, die sich fortan bemühen musste, einen ordentlichen Job zu bekommen. Danach konnte das Universum nur besser sein als zuvor.

Als er dem Feed lauschte – Radio Free Eros nannte er ihn bei sich –, fand er, dass er über die alte Jila vielleicht doch ein wenig zu hart geurteilt hatte. Das Kreischen, das Geplapper und das Rauschen, in dem hin und wieder Stimmen zu hören waren, kam ihm gespenstisch vor und fesselte ihn zugleich. Genau wie der kaputte Datenstrom. Die Musik des Verfalls.

… asciugare il pus e che possano sentirsi meglio …

… ja minä nousivat kuolleista ja halventaa kohtalo pakottaa minut ja siskoni …

… tu, was du tun musst …

Stundenlang hörte er zu und konnte schließlich einige Stimmen unterscheiden. Einmal gab es starke Schwankungen wie bei einem Gerät, das kurz vor dem Versagen stand. Erst als es ungestört weiterlief, fragte Miller sich, ob das Stottern vielleicht ein Morsecode gewesen war. Er lehnte sich an das Schott, über ihm schwebte die ungeheure Masse der Nauvoo. Das Schiff war nur halb geboren und schon für ein Opfer ausgewählt. Julie saß neben ihm und blickte zu ihm hoch. Die Haare schwebten um ihr Gesicht, sie lächelte leicht. Wie auch immer der Trick funktionierte, der Juliette Andromeda Mao in seinem Inneren am Leben hielt und ihm den Anblick der Leiche ersparte, er war dankbar dafür.

Das wäre was gewesen, nicht wahr?, sagte sie. Ohne Raumanzug durch das Vakuum fliegen. Hundert Jahre schlafen und im Licht einer neuen Sonne aufwachen.

»Ich habe den Mistkerl nicht schnell genug erschossen«, sagte Miller laut.

Er hätte uns die Sterne geben können.

Eine neue Stimme unterbrach ihn. Eine menschliche Stimme, die vor Wut bebte.

»Antichrist!«

Miller kehrte blinzelnd in die Realität zurück und schaltete den Feed von Eros ab. Ein Gefangenentransporter bewegte sich gemächlich durch das Dock, ein Dutzend Techniker der Mormonen waren an die Haltepfosten gekettet. Einer war ein junger Mann mit pockennarbigem Gesicht und hasserfüllten Augen. Er starrte Miller an.

»Sie sind der Antichrist, Sie sind nicht einmal mehr ein Mensch! Gott kennt Sie, er wird sich an Sie erinnern!«

Miller tippte sich an den Hut, als die Gefangenen vorbeifuhren.

»Die Sterne sind ohne uns besser dran«, sagte er leise. Niemand außer Julie konnte es hören.

Ein Dutzend Schlepper flogen vor der Nauvoo, die Seile aus Nanoröhren waren aus dieser Entfernung nicht auszumachen. Miller sah zu, wie sich das Ungetüm, das ebenso ein Teil der Tycho-Station gewesen war wie die Schotts und die Atemluft, auf einmal in seinem Lager drehte, erbebte und sich in Bewegung setzte. Die Antriebsstrahlen der Schlepper erleuchteten das Innere der Station, als sie, perfekt angeordnet wie die Beleuchtung eines Weihnachtsbaums, ihrer Arbeit nachgingen. Durch das ganze Stahlgerippe von Tycho lief ein kleiner Schauder. In acht Stunden sollte die Nauvoo weit genug entfernt sein, um die mächtigen Maschinen starten zu können, ohne mit den ausgestoßenen Gasen die Station zu gefährden. Danach würde es noch einmal mehr als zwei Wochen dauern, bis sie Eros erreichte.

Miller würde achtzig Stunden vorher dort eintreffen.

»Oi, Pampaw«, sagte Diogo. »Alles klaro?«

»Ja«, antwortete Miller seufzend. »Ich bin bereit. Ruf die Leute zusammen.«

Der Junge grinste. In den Stunden nach der Übernahme der Nauvoo hatte Diogo drei seiner Schneidezähne mit hellrotem Plastik verziert. In der Jugendkultur der Tycho-Station hatte das offenbar eine tiefe Bedeutung und symbolisierte Standhaftigkeit, vielleicht sogar in sexueller Hinsicht. Miller war froh, dass er nicht mehr bei dem Burschen wohnen musste.

Da er jetzt die Sicherheitsmaßnahmen der AAP leitete, wurde ihm die irreguläre Natur der Gruppe deutlicher denn je. Früher war er davon ausgegangen, die AAP könne sich ernstlich gegen die Erde oder den Mars wehren, falls es zu einem echten Krieg käme. Natürlich verfügten sie über mehr Geld und mehr Ressourcen, als er angenommen hatte. Und sie hatten Fred Johnson und jetzt auch Ceres, solange sie den Stützpunkt halten konnten. Sie hatten die Thoth-Station angegriffen und gesiegt.

Doch dieselben jungen Leute, mit denen er den Angriff durchgeführt hatte, waren auch bei der Übernahme der Nauvoo dabei gewesen, und die Hälfte von ihnen würde mit den Bombenschiffen nach Eros fliegen. So etwas würde Havelock nie verstehen, so wenig wie Holden. Vielleicht konnte niemand, der in der Sicherheit und Beschaulichkeit einer natürlichen Atmosphäre gelebt hatte, jemals begreifen, wie stark einerseits und wie zerbrechlich andererseits eine Gesellschaft war, in der sich alles darum drehte, das zu tun, was getan werden musste, wo man jederzeit schnell und flexibel handeln musste, genau wie es die AAP getan hatte. Wo es lebenswichtig war, sich Gehör zu verschaffen.

Falls Fred keinen Friedensvertrag auszuhandeln vermochte, konnte die AAP sich nicht gegen die disziplinierte Marine der inneren Planeten behaupten. Andererseits würde sie niemals endgültig verlieren. Ein Krieg ohne Ende.

Nun ja, was war die Geschichte schon, wenn nicht genau dies?

Und konnte man daran etwas ändern, indem man die Sterne gewann?

Als er zu seiner Wohnung zurückkehrte, öffnete er auf dem Handterminal einen Kanal. Fred Johnson tauchte auf. Er schien müde, aber wachsam.

»Miller«, sagte er.

»Wir sind bereit zum Auslaufen, sobald die Sprengsätze installiert sind.«

»Wir laden sie gerade ein«, erklärte Fred. »Genug Spaltmaterial, um auf Jahre hinaus jeden von der Oberfläche von Eros fernzuhalten. Aber gehen Sie vorsichtig damit um. Wenn einer unserer Jungs an der falschen Stelle herumhängt und eine raucht, können wir die Minen nicht mehr rechtzeitig ersetzen.«

Er hatte nicht gesagt: Dann seid ihr alle tot. Die Waffen waren kostbar, nicht die Leute.

»Ja, ich passe darauf auf«, versprach Miller ihm.

»Die Rosinante ist bereits unterwegs.«

Das war nichts, was Miller unbedingt wissen musste, also gab es einen anderen Grund für diese Bemerkung. Trotz des bewusst neutralen Tonfalls klang es aus Freds Mund wie ein Vorwurf. Die einzige kontrollierte Probe des Protomoleküls hatte Freds Einflusssphäre verlassen.

»Wir brechen rechtzeitig auf, um sie zu treffen und jeden davon abzuhalten, sich Eros zu nähern«, erklärte Miller. »Das dürfte kein Problem sein.«

Auf dem winzigen Bildschirm war schwer zu erkennen, ob Freds Lächeln von Herzen kam.

»Ich hoffe, Ihre Freunde schaffen das«, sagte er.

Miller hatte ein seltsames Gefühl. Eine kleine Leere direkt unter dem Brustbein.

»Sie sind nicht meine Freunde«, antwortete er so gleichmütig wie möglich.

»Nein?«

»Eigentlich habe ich überhaupt keine Freunde. Es ist eher so, dass es eine Reihe von Leuten gibt, mit denen ich mal zusammengearbeitet habe«, erklärte er.

»Sie scheinen fest an Holden zu glauben.« Es klang fast wie eine Frage, vielleicht auch wie eine Herausforderung. Miller lächelte und wusste dabei, dass es nun an Fred war, sich zu fragen, ob die Miene echt war.

»Das ist kein Glaube, sondern es beruht auf Überzeugung.«

Fred lachte humorlos.

»Genau deshalb haben Sie keine Freunde, mein Freund.«

»Kann gut sein«, gab Miller zu.

Weiter gab es nichts zu sagen. Miller trennte die Verbindung. Er hatte sein Wohnloch sowieso schon fast erreicht.

Es war nichts Besonderes. Eine anonyme Behausung auf der Station, die sogar noch weniger persönliche Merkmale aufwies als seine Unterkunft auf Ceres. Er setzte sich auf die Koje und überprüfte auf dem Terminal den Status der Bombenschiffe. Allmählich wurde es Zeit, sich zum Dock zu begeben. Diogo und die anderen versammelten sich bereits. Einige litten wohl noch unter den Nachwirkungen des Drogenrauschs, nachdem sie zur Feier der Mission wilde Partys gemacht hatten, aber es war immerhin möglich, dass sie bereits alle angetreten waren, und er selbst hatte keine passende Entschuldigung.

Julie saß in dem Raum hinter seinen Augen. Sie hatte die Beine untergeschlagen. Sie war schön. Sie war wie Fred, Holden und Havelock gewesen. Jemand, der in der Schwerkraftsenke geboren war und aus eigenem Antrieb in den Gürtel gekommen war. Diese Entscheidung hatte sie das Leben gekostet. Wäre sie dortgeblieben, auf diesem Geisterschiff …

Sie legte den Kopf schief, das Haar pendelte in der von der Rotation erzeugten Schwerkraft. Ihre Augen blickten fragend. Natürlich hatte sie recht. Es hätte vielleicht den Ablauf verzögert, aber es hätte die Verbrecher nicht aufgehalten. Protogen und Dresden hätten sie früher oder später gefunden. Sie hätten die Viren gefunden, oder sie hätten von vorn begonnen und sich ein paar neue Proben besorgt. Nichts hätte sie aufhalten können.

Außerdem wusste er – ebenso sicher, wie er wusste, wer er selbst war –, dass Julie sich von den anderen unterschied. Sie hatte den Gürtel und die Gürtler und die Notwendigkeit, immer weiterzumachen, verstanden. Sie hatte in einem Luxus gelebt, den Miller nie gekannt hatte, doch sie hatte alldem den Rücken gekehrt. Sie war hier herausgekommen und geblieben, auch als die Eltern gedroht hatten, ihre Rennpinasse zu verkaufen. Ihre Kindheit und ihren Stolz.

Dafür liebte er sie.

Als Miller im Dock eintraf, wurde ihm sofort klar, dass etwas passiert war. Er sah es an der Haltung und den halb amüsierten und halb freudigen Mienen der Arbeiter. Miller meldete sich an und kroch durch die unbequeme Ojino-Gouch-Luftschleuse, die seit siebzig Jahren veraltet und kaum größer war als ein Torpedoschacht, in den engen Mannschaftsbereich der Talbot Leeds. Das Schiff sah aus, als sei es aus zwei kleineren Einheiten zusammengefügt worden, wobei man auf das Design nicht den geringsten Wert gelegt hatte. Die Beschleunigungsliegen waren in Dreierreihen übereinander angebracht. Es roch nach altem Schweiß und heißem Metall. Jemand hatte vor kurzer Zeit Marihuana geraucht, die Luftfilter hatten den Geruch noch nicht entfernt. Diogo und ein halbes Dutzend andere waren schon da. Jeder trug eine andere Uniform, aber alle waren mit dem Armband der AAP ausgestattet.

»Oi, Pampaw! Hab dir die oberste Koje reserviert!«

»Danke«, sagte Miller, »vielen Dank.«

Dreizehn Tage. Er würde sich dreizehn Tage lang diesen engen Raum mit der Bombenmannschaft teilen. Dreizehn Tage, auf die Liegen geschnallt, während im Lagerraum einige Megatonnen an Sprengstoff verstaut waren. Trotzdem lächelten sie alle. Miller hievte sich auf die Liege, die Diogo ihm freigehalten hatte, und nickte in die Richtung der anderen.

»Hat jemand Geburtstag?«

Diogo zuckte mit den Achseln.

»Warum haben die alle so gute Laune?«, fragte Miller schärfer, als er es beabsichtigt hatte. Diogo war nicht beleidigt, sondern zeigte ihm die großen, rot geschmückten Zähne.

»Nix gehört?«

»Nein, ich habe nichts gehört, sonst würde ich nicht fragen«, sagte Miller.

»Mars hat das Richtige gemacht«, erklärte Diogo. »Haben den Feed von Eros erwischt, zwei und zwei zusammengezählt und …«

Der Junge drosch sich die Faust in die offene Handfläche. Miller konnte nicht ergründen, was damit gemeint war. Hatten sie Eros angegriffen? Hatten sie sich Protogen vorgenommen?

Ah. Protogen. Protogen und Mars. Miller nickte. »Die Forschungsstation auf Phoebe«, sagte er. »Mars hat eine Quarantäne verhängt.«

»Quark, Pampaw. Pulverisiert haben sie sie. Der Mond ist futsch. Die haben genug Atombomben abgeworfen, um das Ding in Elementarteilchen zu zerlegen.«

Hoffentlich, dachte Miller. Es war kein großer Mond gewesen. Wenn Mars ihn wirklich zerstört hatte, und es war nur ein Protomolekül übrig geblieben, das auf einem Brocken …

»Tu sabez?«, sagte Diogo. »Sie stehen jetzt auf unserer Seite, sie haben es kapiert. Eine Allianz von Mars und AAP.«

»Das glaubst du nicht wirklich«, widersprach Miller.

»Nö«, antwortete Diogo und gab fröhlich zu, dass die Hoffnung ein zerbrechliches Ding und ohnehin vergebens war. »Aber es kann ja nicht schaden zu träumen, que no?«

»Ja, träumen kann man immer.« Miller legte sich hin.

Das Beschleunigungsgel war zu zähflüssig, um sich bei dem Drittel G im Dock an seinen Körper anzupassen, doch er lag nicht unbequem. Auf dem Handterminal rief er die Nachrichten ab. Tatsächlich, irgendjemand in der marsianischen Marine hatte eine Entscheidung getroffen. Sie hatten erstaunlich viel Munition eingesetzt, zumal sie ja gerade einen Krieg führten, doch sie hatten es getan. Saturn hatte einen Mond weniger und einen winzigen unscharfen, zarten Ring mehr – falls nach den Explosionen noch genügend Materie existierte, um einen zu bilden. Millers ungeübtem Auge erschien es, als seien die Explosionen darauf angelegt gewesen, sämtliche Trümmer in die schützende, erdrückende Schwerkraft des Gasriesen stürzen zu lassen.

Es war dumm zu glauben, dass die marsianische Regierung keine Proben des Protomoleküls haben wollte. Es war naiv anzunehmen, in irgendeiner Organisation dieser Größe und Vielschichtigkeit zögen jederzeit alle Mitarbeiter an einem Strang, und dies erst recht, wenn es um etwas so Gefährliches und Umwälzendes ging wie das Molekül.

Trotzdem.

Vielleicht hatte jemand auf der Seite der politischen und militärischen Gegner die gleichen Beweise gesehen wie sie und war zu den gleichen Schlussfolgerungen gelangt. Vielleicht blieb doch noch etwas Hoffnung. Er schaltete das Handterminal auf den Eros-Feed um. Ein lautes pochendes Geräusch hinter einer Kaskade von Lärm. Stimmen erhoben sich und verstummten. Datenströme überlagerten einander, und die Korrekturprogramme ließen die Server unter Volllast laufen, um aus dem Chaos etwas Verständliches herauszufiltern. Julie fasste ihn bei der Hand. Der Traum war so überzeugend, dass er es fast fühlen konnte.

Du gehörst zu mir, sagte sie.

Sobald es vorbei ist, dachte er. Ja, er schob den Abschluss des Falls vor sich her. Zuerst Julie finden, dann die Rache für sie, jetzt die Zerstörung des Projekts, das sie das Leben gekostet hatte. Aber wenn das erledigt wäre, konnte er sie loslassen.

Es gab nur noch eine letzte Sache, die er tun musste.

Zwanzig Minuten später ging die Sirene los. Noch einmal dreißig Minuten später liefen die Maschinen hoch und pressten ihn unter hohem Schub, der dreizehn Tage anhalten würde, in das Gel der Beschleunigungsliege, dass ihm sämtliche Knochen im Leib knackten. Alle vier Stunden gab es eine Pause unter einem G, damit sie tun konnten, was die Biologie ihrer Körper verlangte. Wenn sie dort waren, würden die schlecht ausgebildeten Teufelskerle atomare Minen legen, die sie jederzeit in Stücke reißen konnten, falls sie nur den kleinsten Fehler machten.

Aber wenigstens würde Julie dabei sein. Nicht wirklich, aber immerhin.

Es konnte nicht schaden zu träumen.

Expanse 01: Leviathan erwacht
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