27
»Kohlenwasserstoffe, ganz gewiss.« Gardners Stimme war unter den silbernen Anzügen, die sie trugen, und der Atemmaske kaum zu hören. Sie wusste das und tippte Fontana deshalb auf die Schulter, damit er das Blinklicht auch wirklich bemerkte. »Nimm hier drin deine Maske ab und du liegst im Handumdrehen auf dem Boden.«
»Keine Sorge«, brüllte Steve. »Das Gleiche gilt für die Zombies. Das ist die gute Nachricht.«
»Ein Funke und wir fliegen in die Luft«, fügte Fontana hinzu. Er klopfte mit der Hand gegen die nächste Luke. »Jemand zu Hause?«
Es antwortete ein Klopfen, normal, nicht fieberhaft wie bei Zombies.
»Ich wusste, dass wir etwas vergessen haben«, wandte sich Steve an die anderen. »Ersatzluft.«
»Wie viele?«, rief Fontana. Er drückte ein Ohr gegen die Luke, um die Antwort zu verstehen. »Ich glaube, sie sagen ›vier‹.«
»Bleiben Sie hier in Stellung«, sagte Steve. »Ich bringe Gardner zurück zum Schiff. Ich bin mir jedoch nicht sicher, wie ... Wir müssen sie ausrüsten.«
»Sie müssen da drinnen eine saubere oder zumindest relativ saubere Luftversorgung haben«, merkte Gardner an. »Und wenn dort Frauen sind, dürften sie höchstwahrscheinlich schwanger sein. Ich halte es für keine gute Idee, sie den Dämpfen auszusetzen. Ich schlage vor, wir lassen hier unten einige Ventilatoren laufen, um den Gang zu lüften, und holen sie erst dann raus.«
»Und wo bekommen wir Ventilatoren her?«, wollte Fontana wissen.
»Auf dem Kutter sind ein paar.«
»Da müssten wir schon sechs Stunden lang hinfahren und sieben Stunden zurückfahren«, warf Steve ein. Er musste sich bald mal überlegen, wie man das verdammte Teil entweder abschleppen oder leer räumen konnte. Das gehörte derzeit zu seinen dringlichsten Problemen.
»Es ist ein Versorgungsschiff«, erinnerte Fontana. »Vielleicht gibt es hier an Bord auch welche?«
»Wir können ja mal fragen«, schlug Steve vor.
»Gibt es hier Ventilatoren?«, schrie Fontana. »Ventilatoren! Wo sind die Ventilatoren? Wenn sie antworten, kann ich sie nicht hören. Sie sagen was ...«
»Wir sind an einer Unfallstation vorbeigekommen.« Gardner deutete zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
»Und dort gibt es Ventilatoren?«, wunderte sich Steve.
»Nein«, erwiderte Gardner. »Aber vielleicht ein Stethoskop.«
Fontana riss sich die Maske vom Gesicht und beugte sich an die Luke.
»Wo sind die VentilatorendieseLuftkannmannichtatmenWOSINDDIEVENTILATOREN?!«
»Aua«, zischte Gardner und fasste sich an die Ohren, in denen das Stethoskop klemmte. »Das hat wehgetan!«
Fontana setzte sich schnell wieder die Maske auf und holte tief Luft.
»Wow, das ist wirklich widerlich.«
Gardner bedeutete ihm mit einer Handbewegung, zu schweigen, und lauschte.
»Frag sie, ob sie ›Schrank im Maschinenraum‹ gesagt haben?« Sie nahm das Stethoskop von der Luke und legte eine Hand über das Bruststück.
»SCHRANK IM MASCHINENRAUM?«, schrie Fontana durch seine Maske.
»Ja, genau da.« Gardner nickte und zog das Stethoskop von der Luke. »Okay, jetzt kannst du so laut grölen, wie du willst.«
»Hat jemand eine Ahnung, wie die funktionieren?« Steve betrachtete die Ventilatoren und die wuchtigen, mit Isolierband umwickelten Spulen. Technik gehörte genauso wenig zu seinen Talenten wie Singen.
»Ich weiß es tatsächlich«, meldete sich Gardner. »Aber ich brauche ein wenig Hilfe, um sie durch die Gegend zu schleppen. Auaaa! Mein. Armer. Rücken. Ich. Bin. Schwanger.«
»Sadie ist nicht ohne Grund wieder auf der Large«, merkte Fontana an.
Letzten Endes erledigte Gardner abgesehen von der Schlepperei so ziemlich die ganze Arbeit. Und innerhalb einer halben Stunde bliesen die Ventilatoren die Luft aus den Gängen, die zur Kajüte der Überlebenden führten, und ersetzten sie weitgehend durch Frischluft.
»Wie lange?« Steve betrachtete die untergehende Sonne. Sie war nicht rot. Nicht unbedingt ein schlechtes Zeichen. Eine rote Morgendämmerung, das verhieß nichts Gutes!
»Wenn das hier sagt, dass alles in Ordnung ist.« Gardner hielt das Kohlenwasserstoff-Messgerät in die Höhe.
»Pingelig, pingelig«, seufzte Fontana. »Typisch Frau!«
»Weißt du was, Fontana, auf einem Boot wie diesem kenne ich Methoden, wie ich dich ganz einfach in Brand stecken kann. Ach Gott. Aber nicht gerade jetzt ...«
»Was denn?«
»Ich muss schon wieder kotzen.« Sie lief zur Reling. »Bin gleich wieder da.«
»Geht es dir gut?«, fragte Faith, als Hooch über die Reling reiherte.
»Herrgott.« Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, das wollte ich nicht ... Ich meine ...«
»Ich würde dich ja gern damit beruhigen, dass ich mich beim ersten Mal auch übergeben habe, aber das wäre gelogen.« Faith hob die Schultern. »Ich will damit sagen, ich habe mich auch schon mal übergeben, das kannst du mir glauben. Aber ich habe schon Schlimmeres gesehen als das hier. Du hättest einige der Sachen auf der Alpha mitkriegen sollen.«
»Deine wievielte Räumung ist das?«, fragte Hooch. Der Anblick, der sich ihnen im Unterdeck bot, war schrecklich. Der Mann der Gruppe, wahrscheinlich der Vater, hatte überlebt. Weil er in der Kapitänskajüte seine Familie gefressen hatte. Wie es aussah, hatten sie sich alle in Zombies verwandelt und waren von ihm geschlachtet worden. Anschließend musste er sie in die Kajüte hinuntergeschleift und zusammen mit den toten und verwesenden Leichen geschlafen haben. Hooch schaffte es, sich zusammenzureißen, bis ihm ein winziges, jedoch vollkommen widerwärtiges Detail auffiel. Am Kopfende des Bettes, nicht mit Dreck besudelt, fast wie in einem kleinen Heiligenschrein, saß ein Teddybär. Als habe der Zombie ihn bewusst verschont, weil sein konfuses Gehirn ihn an die Existenz von Liebe und Zuneigung erinnert hatte. Ungeachtet dessen, dass er den kleinen Körper seines eigenen Kindes gefressen hatte.
»Das werde ich ständig gefragt«, sagte Faith. »Ich muss wirklich mal mitzählen ...«
»Fünf.« Steve klang zufrieden. »Für ein Boot dieser Größe ist das nicht schlecht. Los jetzt, wir bringen Sie rüber zum Rettungsboot.«
»Warten Sie.« Einer der Männer hob die Hand. »Ich bleibe an Bord.«
»Warum?«, wollte Fontana wissen.
»Wenn wir das Boot verlassen, ist es eine Bergung«, plapperte eine Frau.
»Hey.« Steve lächelte. »Es ist schon jetzt eine Bergung. Sie werden nicht übers Ohr gehauen, aber Sie möchten sich vielleicht kurz hinsetzen, damit ich Ihnen erklären kann, wie wir das mittlerweile handhaben.«
»Ja, dazu kann ich Ihnen nur raten«, bestätigte Gardner. »Und ich sage das gewissermaßen als offizielles Mitglied der Küstenwache. Eigentlich, soweit wir darüber Bescheid wissen, bin ich unter den rangältesten Offizieren der US-Küstenwache die Nummer vier. Weil es nur noch sechs von uns gibt.«
»Wie bitte?« Das Gesicht des Mannes wurde aschfahl.
»Kommen Sie einfach mit rüber auf das Boot und schnappen Sie etwas frische Luft«, schlug Steve vor. »Keine Sorge, wir werden Ihr Boot nicht wie Piraten plündern.«
»Nicht direkt wie die Piraten«, korrigierte Fontana. »Hey, ich frage mich, ob ich, könnte ja sein, der rangälteste Unteroffizier der Army bin.«
»In dem Fall sollten wir besser Hooch zum Kommandanten machen ...«
»Wie viel Kraftstoff ist in den Tanks, Hooch?« Faith sah auf das Formular. Sie ließ es ihn erledigen, damit er Erfahrung sammelte. Außerdem wurden die Aufgaben nach einer Räumung früher oder später zu langweiliger Routine.
»Hmm, ungefähr ein halber Tank?« Hooch klang alles andere als sicher.
»Aber leere Batterien«, fügte Faith hinzu. »Okay. Hey, Paula! Wirf mal den Sklaven rüber!«
»Das Starthilfekabel?«, fragte Hooch.
»Gut erkannt«, lobte ihn Faith, als Paula das Kabel aus dem Maschinenraum des anderen Boots zog. »Die von der Vicky bauen sie aus irgendwelchen Kabeln und anderem Schrott zusammen, den sie so finden. Ab und an plündern sie den Hafen, wenn die Zombies gerade nicht so wild durch die Gegend laufen, oder auch Boote, wenn sie auf welche stoßen, auf denen keine Zombies unterwegs sind. Aber genau so was hab ich vorhin gemeint. Es gab schon viele andere Leute, die es mit Räumungen versuchen wollten, und dann kamen sie auf ein Boot wie dieses und gaben sofort auf. Nicht nur wegen der Zombies.«
»Und wer kümmert sich ums Putzen?«, erkundigte sich Hooch.
»Oh, das machen die Crews selbst. Wenn man ein neues Boot will, ist das der Haken an der Sache, außer es wird weitergegeben wie im Fall der Endeavor. Okay, die Luke zum Maschinendeck ist gleich hier drüben ...«
»Das ist verwirrend.« Hooch musterte die Schalttafel.
»Hat mich vollkommen verwirrt, als ich so was das erste Mal gesehen habe.« Faith schob einen Schalter nach vorn und zog ihn wieder zurück. »Aber es ist gar nicht so kompliziert. Die Large, die Vicky, diese verfluchte Alpha ... die sind kompliziert.« Sie drückte die Start-Taste und der Motor heulte los. »Komm schon, Baby ...«
Der Motor erwachte zum Leben und sie lächelte.
»Und wir haben ein funktionierendes Boot«, sagte Faith. »Ich denke, wir bekommen eine Art Prämie dafür, aber ich hab keine Ahnung, worum es sich dabei genau handelt.«
»Prämie?«, fragte Hooch.
»Einen Bonus«, erklärte Faith. »Zusätzliche Rationen oder Schnaps oder so was. Da wir gerade davon sprechen.« Sie schaltete das Funkgerät ein. »Apropos: Wenn du die guten Brocken haben willst, geh und schnapp sie dir. Nebenbei bemerkt, die Technik funktioniert einwandfrei.«
»Fantastisch«, meldete sich Sophias Stimme über Lautsprecher. »Vielleicht stelle ich einen Antrag auf ein neues Boot.«
»Da wirst du dir vorher aber erst mal die Kapitänskajüte ansehen wollen.«
»Ach du meine Güte.« Das Gesicht des Mannes wurde bleich.
»Ich weiß. Mit Zombies ist das schon so ’ne Sache.« Faith unterhielt sich mit dem Verantwortlichen des ›Sammeltrupps‹. Die Gruppe bestand aus den zuletzt aufgegriffenen Flüchtlingen, vorwiegend von Rettungsinseln, die sich freiwillig gemeldet hatten, der Flottille beizutreten. »Die sind schlimmer als eine Rockband. Versucht einfach, nicht in die Scheiße zu treten. Die Laufbrücke ist nicht allzu schlimm eingesaut und es ist ein schöner, klarer Tag. Ihr müsst sie lediglich zu den Bermudas bringen. Der Kurs ist im GPS gespeichert. Folgt einfach der markierten Route. Das sind die aktuellen Fahrrinnen, egal was die Wegweiser sagen. Richtet euch nicht nach der Ausschilderung. Die wird noch ausgebessert. Haltet euch an die markierte Route, klar?«
»Klar.« Der Mann nickte.
»Wenn ihr in Schwierigkeiten kommt, sind wir auf der 16 zu erreichen«, erklärte Faith. »Geht nicht in die unteren Decks, außer ihr habt einen wirklich starken Magen. Der Marine, den ich dabeihatte, musste kotzen, wenn ihr versteht, was ich meine.«
»Wer macht das sauber?« Der Kerl sah sich die mit Blut und Fäkalien verschmierte Inneneinrichtung an.
»Die erste Prüfung eines Kapitäns in der Flottille.« Faith grinste. »Können Sie eine Crew auftreiben, die sich dazu bereit erklärt, das Boot zu schrubben?«
»Trinken Sie, Hooch?«, erkundigte sich Sophia.
»Für meinen Spitznamen gibt es zwei Gründe«, erwiderte Hooch.
»25 Jahre alter Strathisla.« Sophia reichte ihm ein halb volles Longdrink-Glas, das mit dunklem Whiskey gefüllt war. »Einer der wahren Gründe, auf einem Räumungsboot zu fahren.«
»Und dieses Zeug hier.« Faith bewunderte das neue Rivière-Armband aus Gold und Diamanten an ihrem Handgelenk. Sie hatte es mit einem Stück Fallschirmschnur verlängern müssen, da es eigentlich nur an deutlich schmalere Handgelenke passte. »Zumal ich nicht trinke.«
»Sicher?« Hooch nahm einen Schluck vom Scotch. »Ich bin kein großartiger Scotch-Fan, aber der ist ziemlich gut.«
»Wenn man genug davon trinkt, vergisst man, was man erlebt hat.« Sophia nahm einen kräftigen Schluck. »Das Schwere daran ist es, ein Gleichgewicht zu finden, diese Arbeit halb betrunken zu erledigen oder sie einfach durchzuziehen. Und als Räumungstrupp erwerben wir das Anrecht auf ein Drittel der Beute. Wir haben dafür einfach nicht genug Platz. Eigentlich könnten wir uns alles nehmen, was wir tragen können.«
»Zum Teufel, du machst ja nicht mal bei der Räumung mit«, fluchte Faith. »Was erlebst du denn, was so schlimm ist? Und ich trinke nicht.«
»Erinnerst du dich an das Floß, auf dem die Kinder gesessen haben, Faith?« Sophia goss aus der Flasche nach.
»Ja.« Faith senkte den Blick auf das Deck.
»Kinder?«, fragte Hooch.
»Ein Rettungsfloß«, flüsterte Sophia. »Zwei Kinder. Vielleicht sechs und acht Jahre alt.«
»Zombies?«, hakte Hooch nach.
»Nein«, fuhr Faith dazwischen. »Genau das war das Schlimme daran. Sie waren nicht zombifiziert. Und es gab keinen Entsalzer an Bord. Ich meine ...«
»Nur ein Überlebenspaket für eine Person«, sagte Sophia. »Aufgerissen. Aber der Entsalzer fehlte. Möglich, dass sie die Anleitung lesen und ihn aufstellen konnten, aber nicht richtig befestigt haben und er davongetrieben ist. Jedenfalls haben wir keinen gefunden. Sie sind an Dehydrierung gestorben.«
»Ach du ... Scheiße«, entfuhr es Hooch.
»Dieser Entsalzer ...« Faith knirschte mit den Zähnen. »Ich will damit sagen, dass sie sich wirklich bemüht haben mussten. Sie hatten den Entsalzer schon ausgepackt, verstehen Sie?«
»Leere Rettungsflöße«, sagte Sophia. »Was ist passiert? Wer weiß. Flöße mit Zombies darauf und einigen Fetzen der restlichen Crew. Rettungsflöße mit Leichen und einem Zombie. Oder vielleicht ist selbst der tot. Nur verweste Fleischbrocken und Eingeweide überall ...« Sie nahm erneut einen Schluck Scotch und atmete durch die Nase. »Ich bin 15 und auf dem besten Wege, mir bis zum 30. Geburtstag eine Leberzirrhose zuzuziehen. Scheiß drauf. Das haben wir uns verdient.«
»Wir haben die Tanks der Grace kaum angerührt.« Isham schielte auf den Computer. »Nun ja, die Alpha hat sie etwas geleert, aber zu weniger als einem Viertel. In dem Tank der Grace sind drei Füllungen für die Alpha und die Alpha war nicht leer. Und wir haben die Large aufgetankt. Ich dachte mir, mit den Coasties an Bord werden sie sich nicht wie der Blitz auf und davon machen.«
»Wir waren gerade dabei, einen Versorgungslauf vorzubereiten, als sich das Gerücht über die Seuche verbreitet hat«, sagte Victor Gilbert, First Mate des Offshore Support Vessels M/V Grace Tan. »Wir haben unsere ...« Er brach ab und seine Zähne malmten aufeinander. »Wir haben unsere Familien an Bord gebracht. Nur eine kleine ... Kreuzfahrt ...«
»Mr. Gilbert.« Steve reichte ihm ein Glas mit dunklem Whiskey. »Das Gleiche wäre Ihnen an Land auch passiert.«
»Ja.« Gilbert nahm einen Schluck. »Aber ich hätte nicht zusehen müssen, wie sich meine Frau und meine Kinder verwandeln. Verstehen Sie das?«
»Ich bin einer der wenigen, die das nicht verstehen«, gab Steve zu. »Glück. Planung.«
»Sturheit«, ergänzte Isham.
»Auch das«, gab Steve zu. »Probleme?«
»Nein. Ich erinnere mich nur immer daran.«
»So bin ich in der Kajüte gelandet, zusammen mit Stella, der Frau von Larry Ashley, und ... verdammt, Luis ist Jeff Buslers Sohn. Jeff war an Bord der Boss. Larry war für die Wartungsarbeiten zuständig. Und Sharon, sie ist Chad Wilborns Tochter, und Rich, er ist der Sohn von Sherri und Bob Tilley. Sherri war die Systemtechnikerin. Keiner hat mehr jemanden.«
»Das stimmt nicht«, sagte Steve. »Ihr habt euch gegenseitig. Kapitän Gilbert, neben Tina sind das die einzigen Kinder, die wir gefunden haben. Zumindest lebende. Es ist nicht sicher, ob diese Seuche die gesamte Zivilisation ausgelöscht hat, aber sie hat eine ganze Generation von der Erdoberfläche gefegt.«
»Sie haben recht, aber wie es aussieht, ist schon wieder eine neue unterwegs.« Isham kicherte.
»Wie bitte?«, wunderte sich Gilbert.
»Ähm«, räusperte sich Steve. »Ich will nicht nachbohren, aber ich schätze, Stella ist schwanger?«
»Woher ...« Gilberts Augen flackerten. »Sehen Sie ...!«
»Keine Sorge, Partner. So ziemlich jede Frau, die sich mit einem Mann die Kajüte geteilt hat, ist schwanger. Meist erkennen wir es, wenn eine Vergewaltigung vorliegt.«
»Vic«, wandte sich Isham an den noch immer sichtlich mitgenommenen Kapitän. »Atmen Sie kräftig durch. Steve erklärt Ihnen nur, wie sich die Lage aktuell darstellt. Das ist ein Teil der neuen Realität. Verdammt, es gibt sogar ein neues Meme.«
»Meme?«, wunderte sich Gilbert. »So was wie LOLCats? Diese Katzenbilder im Netz?«
»So in etwa«, bestätigte Steve. »Es würde mich nicht überraschen, wenn nicht irgendwo schon jemand mit Photoshop über ein Bild mit einer schwangeren Frau geschrieben hätte: Wir haben ein Sprichwort und das lautet: ›Was in der Kajüte geschieht, bleibt in der Kajüte‹. Sagen wir mal so: Manchmal fallen Sachen vor, für die man sich wirklich schämt. Auf Booten, in Kajüten. Wenn man jemanden töten muss, der sich verwandelt hat.«
»Oder schlimmer«, nahm Isham den Faden auf. »Da gibt es ein Boot, auf dem sich ein Todesfall ereignet hat, über den die Leute einfach nicht sprechen wollen. Die Einzelheiten kommen nur schrittweise ans Licht, sie rücken nicht mit der Sprache raus ...«
»Und als Antwort bekommen wir jedes Mal zu hören: Was in der Kajüte geschieht, bleibt in der Kajüte.« Steve sah ihn an. »Wenn es Beschwerden gibt, gehen wir denen natürlich nach. Soweit es uns möglich ist. Aber ... Stella hat nicht einmal eine Andeutung gemacht, dass es sich um Vergewaltigung handeln könnte ...«
»War es auch nicht, ehrlich.« Gilbert hob abwehrend die Hände. »Verdammt, wir haben einfach nur ...«
»Sie können darüber sprechen, wenn Sie wollen. Oder es in der Kajüte lassen. Aber Sie müssen sich deswegen nicht schuldig fühlen. Ja, ihr Ehemann ist kurz zuvor verstorben. Genau wie Ihre Frau. Der moralisch korrekte Weg, selbst wenn Sie beide vorher schon Gefallen aneinander gefunden haben, wäre sicher gewesen, eine angemessene Zeit zu warten. Aber Sie befanden sich allein in der Kajüte und hatten nichts anderes, um sich zu beschäftigen. Überall um Sie herum lauerte der Tod.«
»Und in Ihrem Fall noch die Kinder«, schob Isham hinterher.
»Wir haben gewartet, bis sie eingeschlafen sind, und taten es wirklich leise«, versicherte Gilbert. »Wollen Sie mir deswegen einen Vorwurf machen?«
»Nein, machen Sie sich keine Sorgen. Eine der Frauen von einem der Rettungsflöße hat uns erzählt, dass der Mann, den wir zusammen mit ihr gerettet haben, ihren Ehemann umbringen musste, als dieser sich verwandelte. Trotzdem ist sie von ihm schwanger und die beiden sind jetzt ein Paar. Menschen passen sich an das Unbegreifliche an. Jedenfalls diejenigen, die überleben. Und zu diesen Anpassungen gehört eben auch das Prinzip des ›Was in der Kajüte geschieht, bleibt in der Kajüte‹. Niemand außer den Personen in der Kajüte, auf dem Rettungsfloß, egal wo, kann die Geschehnisse wirklich beurteilen. Das ist einer der Gründe, warum es für Menschen, die außergewöhnliche Arbeiten verrichten, andere Gerichte gibt als für den Normalbürger. Seeleute haben ihre eigenen Gerichte. Das Militär ebenfalls. Denn man sagt nicht ohne Grund: ›Sie waren nicht dabei. Sie können das nicht beurteilen. Sie können das nicht verstehen.‹«
»Und dann ist da die Sache mit dem Knast.« Isham grinste gequält.
»Die Sache mit dem Knast ...«, wiederholte Gilbert.
»Was in der Kajüte geschieht ...«, setzte Steve erneut an.
»... bleibt in der Kajüte«, führte Gilbert den Satz zu Ende. »Okay, verstanden.«
»Also, mal im Ernst, kein Thema. Das wirkliche Problem ist ein anderes: Wir suchen verzweifelt nach erfahrenen Seeleuten, aber die meisten Mitglieder unserer Crews sind keine erfahrenen Seeleute. Die meisten unserer Kapitäne haben nicht mal ein Patent. Und es gibt einen wirklich eklatanten Mangel an Ingenieuren. Selbst Handwerker fehlen uns. Wenn also auf einem Boot etwas kaputtgeht, sitzen die Crews für gewöhnlich fest. Obwohl die meisten von ihnen Stürme erlebt haben, saßen sie dabei zumeist in einer Kajüte oder haben sich die Eingeweide aus dem Leib gekotzt und sich verzweifelt an Rettungsboote und Rettungsflöße geklammert.«
»Ist bisher kein Sturm aufgezogen, seit Sie das hier machen?«, fragte Gilbert.
»Kein ernsthafter. Hochsommer und bisher kam nur ein harmloser Tropensturm in diese Richtung gezogen. Das war, bevor wir mit der Räumung angefangen haben. Seit wir hier angekommen sind, hat es überhaupt nur einen Sturm gegeben.«
»An den erinnere ich mich«, sagte Gilbert.
»Ich auch.« Isham nickte.
»Daher werden wir woandershin fahren müssen.« Steve sah die beiden an.
»Woandershin?« Isham klang entgeistert. »Warum? Das ist ein prima Hafen hier.«
»Aber er liegt in den Bermudas«, hielt Gilbert dagegen. »Dieser Hafen ist ganz in Ordnung, wenn das Wetter nicht wäre. Sobald es Sie in der Nachsaison knallhart erwischt und Sie von einem Ich-reiße-dir-ein-neues-Arschloch-in-den-Hintern-Hurrikan besucht werden, wollen Sie bestimmt nicht in diesem Hafen vor Anker liegen.«
»Und mit den Schiffen ist es ohne einen wirklich spitzenmäßigen Hafen besser, wenn man sich auf dem offenen Meer befindet«, ergänzte Steve. »Wenn man die richtige Crew hat. Die wir nicht haben. Außerdem bekommt man mit kleinen Wasserfahrzeugen ein Problem. Es hat schon einen Grund, warum spezielle Warnhinweisschilder für kleine Wasserfahrzeuge existieren. Neben den Hurrikans der Nachsaison, die uns bald überrollen werden, dem Windzyklus und den Winterstürmen ... was halten Sie von den Kanaren?«
»Gute Wahl«, freute sich Gilbert. »Wir werden nachtanken müssen. Ich meine, die Grace hat noch reichlich Treibstoff und wahrscheinlich eine Weile lang genug für die kleinen Boote. Aber er reicht nicht, um die Alpha ständig aufzutanken.«
»Können Sie einen richtig großen Tanker abschleppen?«, wollte Steve wissen.
»Ja«, erwiderte Gilbert. »Aber ich brauche eine Schleppcrew, die sich mit so einem Manöver auskennt.«
»Wie wäre es mit einem Kerl, der sich damit auskennt, und einigen Leuten, die gern dazulernen?« Steve grinste. »Denn das ist das Beste, was ich Ihnen in dieser Flottille anbieten kann.«
»Das wird ein Spaß.« Gilbert presste die Lippen aufeinander. »In diesem Fall kann ich es versuchen. Von mir aus kann’s sofort losgehen.«
»Abgemacht.« Steve schüttelte ihm die Hand. »Ich schätze, wir müssen die Vicky zurücklassen. Ich hätte Mike wirklich involvieren sollen. Aber Sie haben ziemlich viele Unterkünfte, was ich so gesehen habe.«
»Wir hätten viel mehr Menschen mitnehmen können, als wir das getan haben.« Gilbert seufzte. »Aber ich glaube nicht, dass es eine gute Idee gewesen wäre.«
»Gute Ideen gab es in letzter Zeit generell nicht so viele. Wie ich schon sagte, meine Familie hatte einfach Glück. Obwohl ...« Er atmete kurz durch. »... der eigentliche Plan funktioniert hätte. Ich hätte das nicht getan, wenn eine Sache nicht geschehen wäre. Aber wie dem auch sei, wir können mehr Leute auf die Grace bringen. Wir können Menschen auf die Alpha verfrachten. Ich bin bereit, es bis zum ersten Windzyklus aufzuschieben, oder bis wir einen Wirbelsturm auf dem Radar haben, der auf uns zukommt. Wenn ein Sturm aufzieht, bringen wir die kleinen Boote her. Aber in jedem Fall brechen wir hier die Zelte ab und machen uns auf den Weg in den Nordostatlantik.«
»Da draußen gibt es noch immer viele Boote und Rettungsinseln«, beharrte Isham.
»Aber wir können niemanden retten, wenn wir tot sind. Ich bin waghalsig, nicht dämlich. Daher fahren wir lieber zu den Kanaren und machen dort das Gleiche, mehr oder weniger. Notsignalsender gibt es überall und es gibt sowieso nur unsere kleine Truppe, unsere glückliche kleine Zweckgemeinschaft, um sie zu räumen.
Abhängig davon, wie viele EPIRBs wir in diesem Gebiet vorfinden, können wir im Winter in die Karibik zurückfahren. Ich wäre gern gegen Januar von Kuba weg. Aber ich will das nicht durchziehen, wenn viele Zurückgelassene darunter leiden müssen. Das bedeutet, wir brauchen mehr Boote und mehr Kapitäne. Trotz allem werde ich anfangen, die Zehn-Meter-Boote aufzugeben, einschließlich der Endeavor. Und ich werde Kapitän Sherill herunterzerren, selbst wenn es das Letzte ist, was ich tue.«
»Viel Glück«, wünschte Isham.
»Sherill?«
»Ein waschechter Kapitän. Der vollkommen in seine winzige zehn Meter lange Bertram verschossen ist. Hat vorher Frachter für Maersk gefahren und alles hingeschmissen. Nach einem Wutanfall, wie er es ausdrückt, weil er mit der Arbeit als Charterkapitän in Charleston nicht mehr klarkam. Will die Verantwortung nicht. Ich werde ihn vom Gegenteil überzeugen müssen.«
»Wie ich schon sagte, viel Glück«, wiederholte Isham.
Es klopfte an der Tür und Isham sah Steve an.
»Herein!«, rief Steve.
»Commodore«, stammelte die junge Frau nervös. »Entschuldigen Sie, Kapitän Sherill ist am Funkgerät und sagt, es sei dringend.«
»Da wir gerade von Kapitän Gilligan sprechen«, spottete Steve. »Wo ist das Funkgerät auf dieser Schüssel?«
»Was gibt’s, Gi... Sea Fit?«, fragte Steve.
»Sie müssen hier rauskommen«, bellte Sherill ins Mikrofon. »Sofort.«
Steve war an die gereizte Stimmung des Skippers gewöhnt. Verzweifelte Ernsthaftigkeit hatte er bei ihm allerdings noch nicht erlebt.
»Einzelheiten«, verlangte er.
»Erinnern Sie sich daran, dass Sie unentwegt davon reden, wie die Leute in den Kajüten sterben, während sie auf Rettung warten?«
»Ja«, antwortete Steve.
»Es ist ein Kreuzfahrtschiff. Ich sehe es mir gerade an. Hüpfen Sie in Ihren verfluchten Kahn und schwingen Sie Ihren australischen Arsch und sämtliche Waffen her, die Sie finden können. Ich werde helfen, dieses Schiff zu räumen. Da sind Leute in den Kabinen am Leben und sie starren mich an. Ich schreibe nach diesem Funkspruch erst mal ein Schild, auf dem steht: ›Hilfe ist unterwegs. Haltet durch.‹ Kommen Sie hier raus, Wolf. Sofort.«
»Alle Schiffe, gebt diese Information an alle Empfangsstationen weiter«, befahl Steve. »Alle Fahrzeuge treffen sich am Standort der His Sea Fit. Large, es wird Zeit, sich die generöse Bezahlung von Ihrem freundlichen Onkel zu verdienen. Und es wird Zeit, beim Waffenschrank Nägel mit Köpfen zu machen. Victoria, beginnen Sie damit, das gesamte Personal und alle Waffen auf die Grace zu verlagern. Endeavor, Endeavor, Endeavor, Commodore, sind Sie in Empfangsreichweite, over?«
»En ... vo ... prrr ... krrt, Sea Fit …«
»Die Endeavor ist etwa 20 Meilen entfernt, Commodore«, gab Sherill durch. »Laut ihrer Antwort kommt sie zu unserem Standort.«
»Beginnen Sie mit der Räumung der offenen Decks«, sagte Steve. »Gehen Sie nicht rein, bevor ich da bin. Geben Sie das weiter, Sherill. Commodore kommt jetzt zum Standort. An alle Wasserfahrzeuge: Schont die Gäule nicht. Wolf, out.«
Er sah Isham und Gilbert an.
»Schaffen Sie die gesamte Besatzung und alle Vorräte der Victoria auf Ihr Boot, Gilbert. Wenn Sie mit dem Verladen fertig sind, fahren Sie zum Standort. Isham, sagen Sie Kapitänin Miguel, sie soll ihren Kahn schnellstens seetauglich machen.«
»Übernehmen Sie den?«
»Dafür ist keine Zeit. Ich wünschte, ich hätte etwas Schnelleres als die Toy.«
»Jetzt müssen wir reagieren«, sagte Galloway.
»Sir ...«, erwiderte Commander Freeman.
»Ich spreche nicht vom Kapitänsamt, Commander«, verdeutlichte Galloway. »Aber wir werden auf keinen Fall untätig zusehen, während wer weiß wie viele Überlebende sterben, die in einem Kreuzfahrtschiff eingeschlossen sind. Geben Sie mir die Dallas und die Charlotte …«