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»Ich habe den Virus nicht erschaffen!«, beharrte Tim. Der Raum hatte keine Fenster und da man ihn mit einer Kapuze über dem Kopf hertransportiert hatte, wusste er nicht einmal, wo er sich genau befand. Und viel Glück dabei, einen Anwalt zu kriegen. Auf der Fahrt hatte er sich auch noch in den Schoß und über die Schuhe gekotzt. Das machte seinen Tag nicht gerade besser. »Ich habe lediglich nachgewiesen, dass es möglich ist, zwei verschiedene ...«
»Wir wollen nur den Impfstoff, Kleiner«, erklärte der FBI-Agent seelenruhig.
»ICH HABE DEN VIRUS NICHT HERGESTELLT!«, schrie Tim. »Wenn ich den IMPFSTOFF hätte, hätte ich MICH SELBST GEIMPFT! Und meine Mutter!«
»In deinem Keller sind alle Materialien, Kleiner.« Der Agent blieb gefasst. Der Geek konnte schließlich nicht gewalttätig werden, nachdem sie ihn an den Stuhl gefesselt hatten. »Also erklär uns einfach, wie man den Impfstoff herstellt ...«
»AAAAAAH!«
»In diesem Material ist keine RNA und keine DNA, die mit dem Krankheitserreger in Zusammenhang steht«, sagte Dr. Karza enttäuscht. Sein Team hatte in Rekordzeit jeden im Labor des Verdächtigen aufbewahrten Mikroorganismus gescannt. Da gab es eine Menge anderes ›Zeug‹, aber exakt null Prozent davon waren pathogen. »Eine faszinierende Entdeckung. Brillant, wirklich. Aber außer den wissenschaftlichen Hintergründen hat sie nichts mit dem gegenwärtigen Krankheitserreger zu tun.«
»Sie haben bereits beim letzten Mal versagt«, sagte Agent Shornauer. »Warum sollten wir Ihnen diesmal vertrauen?«
»Wollen Sie es erforschen, Sie knallharter Bursche? Mein Fazit, außer was rein wissenschaftliche Aspekte angeht: Das ist eine Sackgasse.«
»Das entscheiden wir.«
Der leitende FBI-Ermittler blätterte den Bericht durch. Die Ergebnisse gefielen ihm gar nicht. Die Jungs vom CDC sowie die Labors des FBI waren übereinstimmend zu der Auffassung gelangt, dass es bei diesem Shull sowohl bezüglich seiner Vorgeschichte als auch hinsichtlich seiner Kontakte und Zugriffsmöglichkeiten nicht die geringsten Beweise für einen Zusammenhang mit der Pazifischen Grippe gab. Sein Computer war voller Material, ganz zu schweigen von seinem Blog und den YouTube-Videos, was der FBI-Ermittler hinsichtlich der Erklärungen über die Funktionsweise des Virus – »der dualen Expression« – als ungemein nützlich erachtete. Sie fanden allerdings nicht einmal das kleinste Anzeichen des eigentlichen Bazillus und auch keinerlei Anhaltspunkte zu dessen Ursprung. Der Kleine hatte lediglich mit nicht-humanpathogenem Material gearbeitet. Überwiegend mit etwas, das sich Coliphage Lambda nannte, was auch immer zum Teufel das sein mochte. In Shulls Zuhause fanden sich weniger Beweise für die Existenz von H7D3 als beispielsweise in der Lobby des J.-Edgar-Hoover-Gebäudes. Und die war einem anderen Bericht zufolge mit dem Zeug getränkt.
Er fasste den Entschluss, dass sich der Generalstaatsanwalt und die Rechtsabteilung des Bureaus damit befassen sollten ...
»Es gibt weiterhin Umstände, unter denen es sich bei dem Jungen um ein zweifelhaftes Subjekt handeln könnte«, tippte er in sein Memo. »Ändern Sie seinen Status in ›wichtiger Zeuge‹ und übergeben Sie ihn dem CDC. Jemand soll ihn im Auge behalten. Er darf uns nicht entwischen.«
»Mein Mandant hat sich lediglich einen bedeutenden wissenschaftlichen Durchbruch zuschulden kommen lassen ...«
Dr. Curry fand die Einblendung schlicht großartig: ›Anwalt des Pazifischen Grippevirus-Killers‹. Sie nannten nicht einmal den Namen des armen Winkeladvokaten.
»Das FBI konnte keine Beweise vorlegen, wonach mein Mandant an der Erzeugung der Grippe beteiligt gewesen ist ...«
Das war laut allen Dokumenten, die Curry überflogen hatte – wahrscheinlich mehr, als dem Anwalt zur Verfügung standen –, die Wahrheit. Oder zumindest bestand die einzige Rolle, die dem Kleinen zufiel, in einer bedeutenden Entdeckung auf dem Gebiet der SynBio. Viel Spaß dabei, das Justizministerium der Vereinigten Staaten von deiner Unschuld zu überzeugen!, dachte Curry sarkastisch. Unter der Voraussetzung, dass die Welt nicht vollkommen in ihre Einzelteile zerfiel, konnte der Junge die Regierung immerhin bis auf die Unterhose verklagen und sich im Anschluss mehr Stipendien sichern, als er sich Diplome an die Wand hängen konnte.
Angesichts der momentanen Umstände hielt Curry das jedoch für eher nebensächlich.
»Und ich erinnere die Medien an die Rolle des FBI bei früheren Prozessen. Richard Jewel, ein Held, der verhaftet und sofort öffentlich verurteilt wurde. Dr. Steven Hatfill, ein Forscher, der dem FBI als Berater zur Seite stand, bis man gegen ihn im Anthrax-Fall öffentlich Anklage erhob ...«
»Der Mann hat ein Händchen dafür, sich neue Freunde zu machen ...«
»Shull ist nicht unser Täter.« Dr. Dobson klang übermüdet.
»Was er mit der Geschichte zu tun hat, ist immer noch nicht abschließend geklärt«, gab der für Terrorismus zuständige FBI Deputy Director zurück.
»Er hat lediglich eine der erforderlichen Voraussetzungen geschaffen«, erklärte Dobson so geduldig, wie er konnte. »Nichts weiter. Er hat einen wissenschaftlichen Durchbruch erzielt. Das Gleiche kann man von Dutzenden professionellen Forschern behaupten. Sie könnten genauso gut Alfred Nobel für jeden Sprengkörper im Irak verklagen. Und es wäre mir wirklich lieber, wenn Sie nicht alle einsperren. Wir brauchen diese Leute nämlich. Vor allem brauchen wir Shull. Er ist Experte auf dem Gebiet der dualen Expression. Keiner hat sich diese Zusammenhänge vor ihm auch nur angesehen. Also, klar, behalten Sie ihn ruhig in Untersuchungshaft, aber wenn Sie ihn nicht bis heute Abend in ein Flugzeug nach Atlanta setzen, sorge ich dafür, dass Sie den Nachrichtenmedien und dem Präsidenten dafür Rede und Antwort stehen müssen. Und ich möchte, dass meine Leute noch in dieser Stunde mit ihm sprechen können. Er ist für den Virus nicht verantwortlich, aber er durchschaut ihn weitaus mehr als der Rest von uns.«
»Das Bildungsministerium hat eine totale Schließung aller öffentlichen und privaten Schulen angeordnet, die ab Montag in Kraft treten soll ...«
»School’s out for summer ...«, summte Dr. Curry und sah sich die neuesten Verbreitungsdiagramme an. Es war erst Sonntag und die roten Punkte an der Westküste hatten sich mittlerweile auf sämtliche statistisch erfassten Gebiete dieser Welt ausgeweitet. Zudem hatte man die ›Rettet den Planeten‹-Lufterfrischer an Dutzenden öffentlicher Einrichtungen an den Küsten im Osten und Westen gefunden. Da arbeitete jemand wie ein geschäftiger, kleiner Biber. »School’s out forever ...«
»Okay, zunächst einmal ...« Dr. Karza verdrehte die Augen, als er die Szene im Vernehmungszimmer vor sich sah. »Nehmen Sie ihm die Handschellen ab.«
»Doktor ...«
»Nehmen Sie ihm einfach die Handschellen ab, Sie engstirniger Schwachkopf!«, knurrte Karza. Er wird nicht nachdenken können, wenn er glaubt, dass er sich auf dem Weg nach Guantanamo befindet. Und wir brauchen seine grauen Zellen!«
Er wartete ab, bis der Agent Shulls Fesseln geöffnet und den Raum verlassen hatte.
»Idioten.« Karza konnte es noch immer nicht glauben. »Ich meine, das sind keine wirklichen Idioten. Die Männer sind klug. Aber sie sind nicht in der Lage, sich in Wissenschaftler hineinzuversetzen. Und das macht ihnen Angst. Übrigens meinte ich das gerade nicht wortwörtlich, dass wir Ihre grauen Zellen brauchen, falls Sie deswegen beunruhigt sein sollten ...«
»Ich habe den Virus nicht hergestellt«, sagte Tim und rieb sich die Handgelenke. »Bitte, das habe ich wirklich nicht! Ich mache mir eher Sorgen, dass ich ihn mir eingefangen habe!«
»Ich weiß.« Karza nickte. »Mein Labor hat jeden Winkel Ihres Labors überprüft. Dort gab es keinerlei Krankheitserreger und wenn ich Sie mir so ansehe, bin ich mir ziemlich sicher, dass Sie es kaum jemals verlassen haben. Früher oder später werden das auch die Leute vom FBI kapieren.«
»Stimmt, ich war wirklich nicht mehr draußen.« Tim sank in sich zusammen. »Nicht, seit ich die Uni verlassen habe.«
»Das mit Ihrem Master-Studiengang tut mir leid.« Karza machte eine bedauernde Geste. »Ich kenne Dr. Wirta. Er ist ein Schwanzlutscher und in seinem Fachbereich nicht mal annähernd so wichtig, wie er selbst glaubt. Ich bin übrigens Dr. Azim Karza vom CDC. Und obwohl ich zugebe, dass Sie mehr Probleme haben, als es bei mir der Fall ist, versuchen Sie sich einmal vorzustellen, der leitende Ermittler eines Bioterror-Angriffs, islamisch und im Irak geboren zu sein und einen Namen wie Azim Karza zu tragen.«
»Das glaub ich sofort.« Tim kicherte und schniefte gleichzeitig.
»Ihrer Mutter geht es gut, mehr oder weniger«, fuhr Karza fort. »Sie wurde freigelassen und hat Ihnen einen Anwalt besorgt. Der wird Ihnen allerdings aus allen möglichen Gründen, die mit dem Patriot Act zu tun haben, fürs Erste nicht helfen können. Andererseits haben Sie das CDC auf Ihrer Seite. Wir wissen, wie das Justizministerium in solchen Fällen reagiert. Sie wollen schnell einen Schuldigen präsentieren und damit die Volksseele beruhigen, denn wenn man erst einen Schuldigen hat, verschwindet so eine Seuche natürlich ganz von selbst. Wir handeln anders. Darum bin ich hier. Wir werden Sie schon bald nach Atlanta verlegen lassen. Nicht in den Knast, sondern zum CDC. Das FBI und das Justizministerium werden sich weiterhin benehmen wie Trottel und alle möglichen dämlichen Fragen stellen, die Sie nicht beantworten können. Das liegt daran, dass diese Jungs nicht wissen, welche Fragen sie eigentlich stellen sollten.
Wir wissen, dass Sie nicht wissen, wie man einen Impfstoff – oder ein ›Heilmittel‹ – herstellt, worauf es das FBI abgesehen hat. Die haben sich zu viele Filme angesehen. ›Was ist das Heilmittel?‹ Eine Antwort wie ›Es gibt keins, nicht mal in der Theorie‹ wollen die nicht hören. Aber wir brauchen Ihr Wissen über die duale Expression. Daher wollen wir, dass Sie sich vorerst mit den Gegebenheiten arrangieren. Sie wurden verhaftet, aber ab sofort sind Sie auch einer unserer wissenschaftlichen Mitarbeiter. Bis das Justizministerium über den Punkt ›Er muss den Virus einfach gemacht haben‹ hinweggekommen ist, werden sie wahrscheinlich darauf bestehen, Sie wie einen Verbrecher zu behandeln. Lassen Sie die nur machen. Zeigen Sie sich kooperativ. Seien Sie höflich. Ziehen Sie den Kopf ein.
Wann immer es uns, also dem CDC, möglich ist, Ihnen einen unserer Leute zur Seite zu stellen, werden wir das tun. Und diese Person wird Sie einerseits befragen und andererseits die FBI-Agenten davon abhalten, komplett durchzudrehen. Ihr Anwalt soll daran arbeiten, Sie rauszuholen, und Sie arbeiten mit uns zusammen, um einen Impfstoff zu entwickeln. Abgemacht? Zumindest wird das dem Argument, dass Sie es getan haben müssen, nur weil sie es können, deutlich den Wind aus den Segeln nehmen. Das Zauberwort lautet ›Kooperation‹. So etwas mögen die Richter.«
»Hundertpro.« Tim stimmte vehement zu. »Ich meine, die Gelegenheit zur Zusammenarbeit mit dem CDC ist für mich wie ein Traum, der sich erfüllt. Ich möchte wirklich, wirklich helfen!«
»Prima«, freute sich Karza. »Prima. Also: Wie zur Hölle haben Sie es geschafft, einen DNA-Virus dazu zu bringen, einen RNA-Virus hervorzubringen? Diese Sache ist verdammt brillant.«
»Das sind sämtliche Standorte, an denen die Lufterfrischer bis vor zwei Stunden gemeldet wurden.« Der Agent wies auf eine Karte mit zahllosen Markierungen. »Die roten Punkte sind Standorte, an denen sie sich derzeit befinden und die von Dekontaminationsteams oder der Polizei vor Ort identifiziert wurden. Die gelben Punkte sind Meldungen von Ladenbesitzern oder Managern, bei denen gemeldet wurde, dass sie entdeckt und entfernt wurden, noch bevor wir etwas über die Verbreitungsmethode wussten.«
»Da ist ...« Der Präsident betrachtete die Karte genauer. »Da ist eine Linie erkennbar ...«
»Der unbekannte Täter hat sich offenbar die Westküste hinunter nach Los Angeles vorgearbeitet.« Der Generalstaatsanwalt blätterte in seinen Unterlagen. »Dann die Interstate 10 entlang, bis sie die I-20 kreuzt. Von dort aus hat der unbekannte Täter auf der I-95 weitergemacht. Alles deutet darauf hin, dass sich der Kerl durch den Washington-New-York-Boston-Korridor in Richtung Norden bewegt hat, dann weiter nach Florida. Den Spuren zufolge ist es eine nicht identifizierte Einzelperson oder eine nur kleine Gruppe. Andernfalls hätten sie sich wahrscheinlich verteilt. Das ist definitiv eine Einzelbewegung. Denn der Krankheitserreger war anfänglich ...« Er schaute noch einmal kurz in seine Unterlagen. »... er war anfänglich asymptomatisch. Zunächst existierten keine Anhaltspunkte dafür, dass es sich um einen Angriff mit einer biologischen Waffe handelt. Den derzeitigen Schätzungen zufolge hätte der unbekannte Täter den größten Teil der Verbreitung vor dem Ausbruch der neurologischen Symptome abgeschlossen haben können.«
»Irgendeine Idee, wer diese Person sein könnte?«, wollte der Präsident wissen.
»Wir haben einige Verdächtige, Mr. President ...«
»Wir auch«, mischte sich der Direktor der National Intelligence Agency ein. »al-Qaida steht ganz oben auf der Liste ...«
»Das ist eine haltlose Anschuldigung, Direktor«, merkte der Außenminister an.
»Ach? Wirklich? Soll ich Ihnen mal aufzählen, wie ...?«
»Willkommen in den Centers for Disease Control, Mr. Shull«, begrüßte ihn Dobson.
Shull streckte ihm die Hand hin, zog sie dann aber hastig zurück.
»Nichts gegen Sie persönlich«, versicherte Dr. Dobson.
»Nein, Sir, Doktor«, schob Shull rasch hinterher. »Ich ... Ich schätze, ich habe mir die Verhaltensregeln noch nicht ausreichend eingeprägt.«
»Wir haben eine mehr oder weniger kontinuierliche Telefonkonferenz am Laufen.« Dobson gab dem ehemaligen Master-Kandidaten mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er vorgehen sollte. »Ich wollte sagen ... Ich weiß nicht genau, wo ich anfangen soll. Zuerst einmal, Ihre – wie nennen Sie es gleich? – Ihre dualistische Expression ist ein bahnbrechender Erkenntnisgewinn, vor allem angesichts Ihrer begrenzten Ressourcen ...«
»Mein Dad war gut versichert.« Tim wirkte leicht verlegen. »Nach ... Stanford habe ich mich irgendwie ... Ich glaube, ich war ein wenig besessen. Und ich hatte recht. Die dualistische Expression ist möglich!« Er machte eine Pause, als ihm bewusst wurde, welche schrecklichen Konsequenzen seine Entdeckung nach sich gezogen hatte. »Ob es Oppenheimer nach Hiroshima ähnlich mies ging?«
»Wahrscheinlich.« Dr. Dobson sah ihn mitfühlend an. »Hier entlang ...«
»Mr. Shull muss vom Justizministerium noch vollständig entlastet werden«, sagte Dr. Dobson. »Aber das CDC ist überzeugt, dass er den H7D3-Virus nicht entwickelt hat, obwohl er ein Verfahren zur dualistischen Expression entdeckt hat. Bislang ist er jedoch der einzige Mensch, der etwas über die Einzelheiten der dualistischen Expression weiß. Dr. Addis?«
»Pasteur ...«
»Mr. Shull, soweit wir das aus Ihren Videos erfahren haben, entstehen bei der Expression zwei vollkommen eigenständige Viren. Um Klartext zu sprechen: Der sekundäre Virus kann sich ebenfalls reproduzieren?«
»Ja, D-Doktor ...« Tim klang nervös. »Das hängt natürlich davon ab, was man im Rahmen der sekundären Expression replizieren möchte. Aber bei einer sekundären Expression kann es sich um einen replizierbaren Organismus handeln. Meine ersten Experimente erfolgten mit einer nicht replizierbaren sekundären Expression, aber ... ja, Doktor.«
»Weiter ...«
»Hongkong ...«
»Mr. Shull, wie auch alle anderen möchte ich Ihnen zu Ihrer Entdeckung gratulieren«, sagte Dr. Bao. »Doch sie wurde missbraucht. Es stellt sich die Frage, ob Ihrer Ansicht nach ein Impfstoff nur bei der sekundären Expression wirken könnte.«
»Ich glaube, ja, Doktor.« Tims Augenbraue zuckte, während er über die Frage nachdachte. »Es gibt keinen Grund, warum er nicht wirken sollte. Ich ... ich habe den Informationsaustausch über das Pathogen verfolgt, bevor der Dualismus entdeckt wurde. Und ich möchte Ihnen ebenfalls gratulieren, Doktor. Ich habe das Konzeptpapier gelesen, ehe ... ehe ... sehr brillant. Aber es ist so ... ähm ... Schon zuvor habe ich ... mich gefragt ... Ich bin vielmehr beunruhigt gewesen, dass es sich um einen dualistischen Krankheitserreger handelt. Die ... Veränderung der Wirkungsweise entwickelte sich exakt so, wie ich es bei einem dualistischen Pathogen erwartet hätte. Und ... und ... die Fieberdauer nach dem ersten Krankheitserreger verlief so, wie es bei einem dualistischen Pathogen zu erwarten steht. Anschließend muss sich der sekundäre Krankheitserreger im ... im Wirt verbreiten ... Ein Impfstoff, der gezielt gegen die sekundäre Expression gerichtet ist ... Ja, ja, das sollte funktionieren ...«
»Wir haben hier im CDC bereits mit dem Pasteur-Verfahren experimentiert«, erklärte Dr. Dobson. »Es stellt sich für uns die Frage, ob er das primäre Pathogen beeinflusst.«
»... Gewöhnliche Grippeimpfstoffe haben keine Auswirkungen auf das Blut-Pathogen ...«
»... ein sekundärer wird sich nicht auf den primären auswirken ...«
»Meine Herren«, schaltete sich Dr. Addis dazwischen. »Stockholm ...«
»Die vorrangige Bedrohung ist die sekundäre Expression«, betonte Dr. Sengar. »Zugegeben, die Grippe ist eine schwere Grippe. Mindestens auf einer Stufe mit der Schweinegrippe. Aber sie stellt keine Apokalypse dar. Das Blutpathogen-Paket sollte unser primärer Angriffspunkt sein, schon allein deswegen, da mindestens 25 Prozent aller Infektionen mit dem Krankheitserreger in Verbindung stehen, der über das Blut übertragen wird.«
»CDC ...«
»Ich stimme Dr. Sengar zu«, sagte Dr. Dobson. »Wenn sich das neurologische sekundäre Paket aufhalten lässt, selbst bei über die Luft erfolgter Infektion, brauchen wir wirklich nur einen entwicklungsfähigen Neuroimpfstoff. Unsere Anstrengungen sollten sich dahin gehend konzentrieren.«
»Pasteur ...«
»Auch wenn wir die Verwendung des Namens unseres Patrons bei der Herstellung des Impfstoffs begrüßen ...«, begann Dr. Phillipe Jardin trocken, »... bleibt ein Problem bestehen. Mehrere, um genau zu sein. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit ist ... ungeheuerlich. Zumindest beim luftübertragenen Paket. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt findet es sich überall auf der Erde und erweist sich als hartnäckig. Wir haben mit dem Verfahren unseres Namenspatrons einen Impfstoff hergestellt und Einzelpersonen damit geimpft. Sie zeigen eine Antikörperreaktion auf das sekundäre Paket. Wir haben jedoch auch festgestellt, dass eine Injektion in zwei Phasen erforderlich ist. Primer und Booster.«
»Das stimmt«, pflichtete Dr. Dobson bei. »Das deckt sich mit unseren Ergebnissen. Eine einzelne starke Injektion führte dazu, dass bei den Testpersonen fast augenblicklich der neurologische Zustand ausbrach.«
»Genau wie bei uns«, stimmte Jardin zu.
»Hier auch«, bestätigte Hongkong.
»Das bedeutet, dass wir abwarten müssen«, schlussfolgerte Phillipe. »Während sich die Infektion verbreitet und das Blutpathogen das Luftpathogen als primäre Übertragungsmethode ablöst. Solange die Testpersonen nicht ins zweite Stadium übergehen, wissen wir nicht mit Sicherheit, ob der Impfstoff überhaupt funktioniert. Und auch unter der Annahme der Wirksamkeit dauert es seine Zeit, bis ausreichend Impfstoff hergestellt ist.«
»Das Pasteur-Verfahren gilt als weltweit einfachste Herstellungsmethode«, erinnerte Dr. Sengar seine Kollegen.
»Ah, und darin besteht das zweite Problem«, meldete sich Jardin zu Wort. »Wir haben versucht, verschiedene Organismen mit dem Blutpathogen zu infizieren. Die einzigen Organismen, die als Träger dienen, sind höher entwickelte Primaten.«
»Das haben wir ebenfalls herausgefunden.« Dobson atmete hörbar.
»Das ist sehr schlecht«, flüsterte Dr. Bao. »Das ist ... ein großes Unglück.«
»Kalium ...!«, platzte es aus Tim heraus.
»Wie bitte?« Dr. Dobson sah seinen jüngeren Kollegen an und drückte auf den Knopf, der ihm die Priorität für den Konferenzkanal zuwies.
»Kaliumübertragung!«, rief Shull aufgeregt. »Mir ... mir stand nicht viel an Laborausrüstung für meine Arbeit zur Verfügung. Daher habe ich anfangs einen Träger mit hohem Kaliumanteil verwendet. Obwohl ich wusste, dass ich auf der richtigen Spur war, konnte ich keine duale Expression erzielen. Mir war der Träger mit hohem Kaliumanteil ausgegangen und ich musste zu einer ... günstigeren Alternative wechseln. Damit habe ich die duale Expression erreicht! Ich stellte fest, dass die duale Expression durch das Kalium verhindert wird! Ich habe nie daran gedacht, das zu veröffentlichen ... Ich denke, es ist möglich ... Wir könnten vermutlich die Wahrscheinlichkeit der dualistischen Expression herabsetzen. Ich meine ...«
»Das sollten wir ausprobieren«, befand Dr. Dobson. »Vielen Dank, junger Kollege.«
»Gern geschehen.« In seinem Gesicht arbeitete es. »Ich will damit sagen ... Das ist wirklich ... Es tut mir leid, meine Herren Doktoren, aber ich muss es so ausdrücken, das KOTZT mich AN. Es fühlt sich an, als habe mich jemand vergewaltigt. Kennen Sie dieses Gefühl?«
»Wir fangen sofort mit Experimenten bezüglich der Inhibition durch Kalium an«, sagte Dr. Sengar. »Und wir setzen unsere Arbeit an den Impfstoffen fort. Und, ja, wenn das eigene Lebenswerk für solche Zwecke missbraucht wird ... Sie haben mein Mitgefühl, Kollege.«
»Ich denke, wir fühlen uns dadurch alle ein wenig vergewaltigt«, schob Dr. Addis nach.
»Die Ausprägung der sekundären Expression wird durch Kalium verringert.« Dr. Karza überflog den Ausdruck.
»Also wirkt es?«, fragte Shull und blickte über die Schulter des Doktors auf den Zettel.
»Leider nur in einem Reagenzglas.« Karza seufzte. »Die nötige Kaliumdosis, um die Expression bei einem Menschen aufzuhalten, wäre tödlich. Aber sie verlangsamt den Prozess zumindest in den Anfangsstadien. Das ist brauchbar.«
»Dieser Organismus ist weitaus komplexer als ein simpler dualer Expressor.« Shull sah sich die Berichte der Gruppen durch, die überall auf der Welt am ›Zombievirus‹ forschten. Verschiedene Gruppen hatten sich die Analyse unterschiedlicher Elemente des Virus vorgenommen und das CDC, Pasteur und eine Reihe anderer Teams aus unterschiedlichen Ländern werteten das Resultat aus. »Im sekundären Expressorvirus finden sich nur 30 Prozent Tollwut-RNA. Hat sich irgendjemand um, nun ja, um andere Leute gekümmert, die außerhalb unseres Radars an solchen Themen arbeiten?«
»Was meinen Sie damit?«, fragte Dr. Karza.
»Wer auch immer das getan hat, er hat meine Ergebnisse gestohlen.« Shull zog die Stirn in Falten. »Hat sich jemand schon mal im Feld der Amateure umgesehen, ob dort Teile dieser Studien Anwendung gefunden haben und möglicherweise zur Ableitung genutzt wurden?«
»Sie haben sich als Pionier der dualen Expression hervorgetan.« Karza dachte nach. »Können Sie ein Beispiel nennen?«
»Das hier.« Shull zog einen Bericht hervor und deutete auf eine Reihe von Gensequenzen. »Das sieht aus wie die Arbeit von Jaime Fondor. Sie arbeitete an der Pflanzenresistenz und benutzte Clavaviridae. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie ähnliche Sequenzen verwendet hat. Es wäre hilfreich, wenn ich ihr das zukommen lassen könnte. Sie besitzt möglicherweise nützliches Zusatzwissen.«
»Woran haben Sie das erkannt?«
Zur Abwechslung hatte der zugeteilte FBI-Agent nur stumm herumgestanden, ohne sie ständig zu stören, und keinen bedrohlichen Eindruck gemacht. Karza konnte zwar verstehen, dass der Geheimdienst bei diesem Fall nicht lockerließ, aber dessen Einstellung kam der Arbeitsweise der meisten Forscher nicht gerade entgegen.
»Ich ...« Shull sah nervös auf.
»Es gibt ... typische Merkmale«, half ihm Karza. »Man kann diverse Methoden verfolgen, um ein genetisches Rätsel zu lüften. Er will wahrscheinlich sagen, dass diese hier Miss Fondors Handschrift trägt.«
»Hey, hey, hey«, rief Tim und streckte die Hände in die Luft. »Sie ist keine Verdächtige! Jaime würde so etwas niemals tun!«
»Aber Sie behaupten doch, dass es sich um ihre ... Handschrift handelt?«, hakte der Agent nach.
»Nein«, wehrte Karza ab. »Oder höchstwahrscheinlich nicht. Sie ist ähnlich. Jemand hat sich nicht nur professionelle SynBio vorgenommen, sondern sich auch intensiv mit der Arbeit von Amateuren auseinandergesetzt.«
»Und das ist wichtig.« Der Agent blickte finster drein. »Es sieht so aus. Ihr Jungs macht Bio. Ich nicht. Oder kaum, und darum bin ich in diesem Labor. Wir beschäftigen uns mit Ermittlungen. Sie deuten an, dass der unbekannte Täter die Informationen der Amateur-SynBio-Strömung nachverfolgt hat. Das bedeutet, dass es sich dabei möglicherweise um ein Mitglied der SynBio-Boards handelt. Sie besitzen eine Liste dieser Personen, richtig?«
»Ja«, antwortete Tim nervös.
»Und Sie sagen, dass es entsprechende Erkennungszeichen, quasi Signaturen, gibt.« Der Agent wurde unruhig. »Wir lieben Signaturen. Wenn wir einen Algorithmus des gesamten Virus erhalten, können wir eine Datenbank erstellen, um die veröffentlichten Gene, oder was das für ein Zeug ist, damit zu vergleichen und auf ähnliche Signaturen zu überprüfen ... Wenn jemand jemals etwas auf den Boards veröffentlicht hat, finden wir diese Person.«
»Es geht darum, dass diese Person die Verfahren und Signaturen anderer Forscher kopiert«, betonte Dr. Karza. »Das bedeutet, dass Sie einer Menge unschuldiger Menschen einen gehörigen Schrecken einjagen werden. Unschuldige, die nicht gut arbeiten, wenn sie Angst haben.«
»Wir werden uns mit dieser Ms. Fondor in Verbindung setzen«, sagte der Agent. »Wir werden sie als wichtige Zeugin vorladen. Auf die nette Art, okay?«
»Können Sie dafür garantieren?«, fragte Karza.
»Lassen Sie uns einfach machen. Wir können höflich sein. In der Zwischenzeit, ja. Shull, Sie kennen die Arbeiten dieser Menschen. Achten Sie weiter auf solche Signaturen. Je mehr ›Lieferanten‹ wir finden, desto exakter fällt das Profil aus, das wir erstellen können. Auf welchen Boards hat sich die unbekannte Person herumgetrieben, welche Verfahren hat sie kopiert? Es wäre gut, wenn wir dafür einen Algorithmus erstellen könnten. Gibt es schon so etwas?«
»Sie wollen also, dass ich die einzigen Freunde ans Messer liefere, die ich auf der Welt habe?« Tim wurde wütend. »Sie sind dazu bereit, Jaimes Tür einzuschlagen, und verlangen von mir, dass ich das auch zahllosen anderen Leuten antue?«
»Ich werde weitergeben, dass sich diese Leute aller Erwartung nach keines Verbrechens schuldig gemacht haben«, versicherte der Agent. »Aber, Tim, bedenken Sie Folgendes: Während Sie sich darum sorgen, ob Sie die Gefühle Ihrer Freunde verletzen, geht die Welt rasant vor die Hunde.«
»Korrekt«, pflichtete Dr. Karza bei. »Tim, haben Sie persönliche Kontaktdaten von Jaime Fondor ...?«
»Dr. Curry«, sagte Bateman trocken. »Vielen Dank, dass Sie uns mit Ihrer Anwesenheit beehren ...«
Das ›Treffen‹ wurde per Videokonferenz abgehalten. Zumindest in Currys Fall. Der Sitzungssaal, in dem sich der Rest von ihnen versammelt hatte, befand sich fünf Stockwerke über und einige Räume neben Currys Labor. Doch seit es ihm zugeteilt worden war, hatte er es nicht verlassen. Und er hatte dies in absehbarer Zeit auch nicht vor.
»Sie haben es vielleicht schon in den Nachrichten gehört. Der Kleine, der die duale Expression ausgeknobelt hat, ›kooperiert‹ mit dem CDC.« Curry kratzte sich am Kinn. »Ich bin skeptisch, ob er unmittelbar etwas mit dem Virus zu tun hat. Er hilft ihnen, hat gerade an einer Abstimmung mit der WHO und anderen Experten teilgenommen und erwähnte dabei auch eine mögliche ... nennen wir es Linderung. Keine Heilung, aber etwas, das sich als wirksam erweisen könnte. Ich betone: könnte. Ich halte ihn für etwas zu schlagfertig, eventuell bin ich auch einfach zu zynisch. Aber das spielt keine Rolle. Die wichtigste Neuigkeit, die alle anderen bei Weitem übertrifft, lautet: Kalium könnte die Expression des sekundären neurologischen Pakets hemmen. Für mich heißt das im Umkehrschluss, wir alle sollten damit anfangen, Kaliumpräparate einzunehmen. Dabei kann man sich allerdings eine Überdosis verpassen. Zu viel Kalium tötet einen genauso wie zu wenig. Aber solange Sie auf die Dosierung achten, rate ich Ihnen entschieden dazu.«
»Das sind gute Neuigkeiten.« Bateman sah Tom an.
»Ich werde das durch unser ärztliches Personal vorbereiten lassen.« Tom tippte eine Notiz in sein iPhone.
»Dann kommen wir zu dem Impfstoff«, sagte Dr. Curry. »Es hat sich herausgestellt, dass es ein echter Motherfucker von Virus ist. Ich will den Experten nicht zu sehr heraushängen lassen, aber dieses Monstrum erschafft nicht nur zwei Viren aus einem Paket, sondern erzeugt zwei Viren, die so unterschiedlich sind wie Tag und Nacht. Hier nur die Kurzversion: Grippe ist ein Orthomyxovirus. Er verfügt über das volle RNA-Paket und ist ziemlich komplex. Bei dem neurotopischen, blutpathogenen Paket handelt es sich dagegen um ein Rhabdoviridae-Virus. Rhabdoviridae unterscheiden sich von Orthomyxoviridae so deutlich, dass einige plausible Theorien besagen, dass sie aus zwei völlig getrennten evolutionären Prozessen hervorgegangen sind. Im direkten Vergleich mutete es an, als könne eins der beiden genauso gut außerirdischen Ursprungs sein. Und dem durchgeknallten Bastard, der dieses Teil erschaffen hat, muss es irgendwie gelungen sein, beide Formen von einem einzigen Pathogen ausbilden zu lassen. Das ist so, als werde eine menschliche Mutter schwanger und bringe neben einem normalen Baby auch ein Nilpferd zur Welt. Unmöglich. Brillant. Und für die Entwicklung eines wirksamen Impfstoffs äußerst problematisch.
Das CDC, Hongkong und Pasteur haben allesamt ausführliche Anweisungen für ihre experimentellen Impfstoffe ausgegeben. Die wollen Sie noch nicht haben. Die sind wirklich experimentell. Experimentell auf Trial-and-Error-Basis. Da bleibt jede Menge Raum für Irrtümer. Man hat bereits einen Impfstoff für das durch die Luft übertragene Paket ausgearbeitet. Aber die Herstellung des Grippe-Impfstoffs gestaltet sich ... kompliziert. Und sie dauert. Ich könnte es in diesem Labor nicht einmal schaffen, wenn wir einen genauen Bauplan hätten. Was ich herstellen kann, wenn es funktioniert, ist der Blutpathogen-Impfstoff. Aber damit will ich warten, bis sie die Schwachstellen ausgemerzt haben.«
»Welche Unterschiede gibt es?«, wollte Bateman wissen. »Und was sind die Risiken?«
»Nun, die Risiken fallen derzeit sehr hoch aus.« Curry kicherte. »Einige ihrer Laborratten haben sich mit dem Virus angesteckt. Das ist der ›fehlerbehaftete‹ Teil. Aber das bekommen sie in den Griff. Dann kommen erst die wahren Probleme. Wie dem auch sei ... Ich werde grob umreißen müssen, wie der Impfstoff produziert wird. Denn ich werde ein wenig mehr Ausrüstung brauchen.«
»Worum handelt es sich?«, fragte Bateman. »Ich dachte, Sie hätten alles, was Sie benötigen?«
»Alles, was man in einem normalen Labor finden kann, ja«, antwortete Curry. »Angesichts der Größe ist es sogar ein überdurchschnittlich ausgestattetes Labor. Was mir fehlt, sind Geräte, mit denen man einen Impfstoff herstellt. Dazu muss ich ein wenig ausholen. Ähm ... Vakzination für Anfänger: Die Ursprünge der Verfahren zur Schutzimpfung von Menschen gegen Pocken reichen zurück bis ins antike China und Indien. Aber die Vorgehensweise war damals verdammt gefährlich und das Risiko fast genauso groß, dass man sich dabei mit der Krankheit ansteckte. Es gibt viele Entwicklungen, die ich an dieser Stelle auslassen will, aber Edward Jenner entwickelte eine Methode, um Kuhpocken als Impfstoff einzusetzen. Damit legte er die Grundlagen für die moderne Impfung.
Louis Pasteur entdeckte, dass sich Pathogene ›abschwächen‹ lassen. Man spricht von ›Attenuierung‹. Anschließend setzt man die derart abgeschwächten Pathogene als Impfstoff ein. Zunächst kam es zu einem Misserfolg mit Hühnercholera, aber daraus leiteten sich alle erfolgreichen Impfstoffe Pasteurs ab. Das genaue Verfahren, mit dem er sein Ziel erreicht hat, spielt keine Rolle, denn es wurde durch andere Verfahren abgelöst. Moderne Impfstoffe werden auf verschiedene Weisen hergestellt. Die wenigsten setzen weiterhin auf Attenuierung. Doch sie gilt noch immer als schnellste Methode zur Gewinnung eines Serums. Und die Experten sind sich ziemlich sicher, dass dieser Krankheitserreger mit einem attenuierten Impfstoff ausgeschaltet werden kann.«
»Warum haben sie aufgehört, ihn zu verwenden?«, fragte Bateman.
»Probleme.« Dr. Curry wedelte mit der Hand hin und her. »Streitfragen. Prozesse. Immunologie für Dummies. Das Immunsystem ist wesentlich komplexer, als man es in der High School erklärt bekommt, aber die Grundlagen bleiben dieselben. Antikörper identifizieren Krankheitserreger und binden sich an sie. Das signalisiert anderen Fresszellen, sie anzugreifen und zu vernichten. Ursprünglich werden Antikörper jedoch produziert, weil die Leukozyten feststellen, dass sich Pathogene im Körper befinden. Daher muss man sich erst einmal infizieren. Und wenn man über ein leistungsfähiges Immunsystem verfügt, verläuft alles harmlos und man schüttelt das Ganze nach einer Weile ab. Wenn man jedoch kein starkes Immunsystem hat oder der Krankheitserreger wirklich aggressiv ist, na ja ... dann stirbt man.
Also ... bei einem attenuierten Impfstoff handelt es sich quasi um beschädigte Bestandteile einer Infektion. Gerade genug, um dem Körper zu verstehen zu geben: ›Hey, du hast dir eine Infektion eingefangen! Und sie sieht so aus!‹, ohne einen wirklich zu infizieren. Es ... gibt zwei Probleme. Nun, eigentlich noch mehr, aber egal. Das größte besteht darin: Falls der Impfstoff nicht stark genug ist, kann sich der Körper den Krankheitserreger nicht gut genug ansehen. Wenn man sich danach tatsächlich ansteckt, ist man nicht ausreichend vorbereitet und kommt um. Oder der Impfstoff ist zu stark, es ist noch zu viel vom Pathogen übrig, dann steckt man sich mit der Krankheit an und kommt ebenfalls um. Oder man ist allergisch gegen einzelne Bestandteile des Impfstoffs. Zack, das war’s. Oder man wird zumindest ernsthaft krank. Oder sie senden im Fernsehen eine Gruselgeschichte. Oder die Menschen machen für den Autismus ihres Kindes die Impfstoffe verantwortlich. Oder ... was weiß denn ich. In all diesen Fällen kommen Anwälte ins Spiel, was ausufernde Gerichtsverhandlungen nach sich zieht ...«
»Über welchen dieser Punkte müssen wir uns Sorgen machen?«, fragte Bateman.
»Keine Ahnung.« Curry hob die Schultern. »Wird beispielsweise Dr. Depene der Impfstoff injiziert? Bei ihm treffen so viele Risikofaktoren aufeinander, medizinisch und psychologisch. In diesem Fall lautet die Antwort: alle.«
»Na, vielen Dank auch«, sagte Depene.
»Wenn die Formel stimmt und ich den Impfstoff herstelle ... besteht weiterhin ein geringes Risiko, dass sich jemand mit der Krankheit infiziert, anstatt davor geschützt zu werden. Ein halbes Prozent? Und für die Herstellung benötige ich einen Strahlungsgenerator. Das ist der wesentliche Unterschied zwischen Pasteur-Impfstoffen und den mit modernen Methoden attenuierten. Die Attenuierung erfolgt damit weitaus exakter, ganz zu schweigen von der Zeitersparnis, die die Strahlung ...«
»Nun, kein Wunder, dass niemand darauf vertraut!«, unterbrach Depene. »Sie werden mir keinen radioaktiven Impfstoff injizieren!«
»Wie ich schon sagte«, fuhr Curry fort. »Psychologische Risikofaktoren, die für sich genommen oder in der Folge hypochondrische Reaktionen hervorrufen können. Der Impfstoff ist nicht radioaktiv, Sie Trottel. Er wird mit Strahlung beschossen, die ihn lediglich durchdringt. Er zerstört die RNA des Virus. Es gibt keine Reststrahlung. Ich werde, um Ihnen ein Beispiel zu nennen, den Röntgenapparat eines Zahnarztes verwenden. Haben Sie sich schon mal die Zähne röntgen lassen? Eines der neuen Caesium-Modelle ist mehr oder weniger überlebensnotwendig. Sie sollten mir besser schnellstmöglich eins beschaffen, sonst gibt es keine mehr auf dem Markt, bis Sie endlich beschließen, auf Einkaufstour zu gehen.«
»Und das funktioniert als Impfstoff?«, hakte Bateman nach.
»Gegen das neurologische Paket«, bestätigte Curry. »Das sollte es. Das andere Problem ist, dass es beinahe zwei Wochen lang dauern wird, um annähernd ›sicher‹ zu sein. Keine Sicherheit im Sinne von ›Das ist von der Arzneimittelzulassungsbehörde zugelassen und hat alle Tests durchlaufen‹. Eher wie in ›Das wird Sie vermutlich nicht umbringen und aller Voraussicht nach die Krankheit aufhalten‹. Darin liegt das eigentliche Problem. Damit eins davon verteilt wird, sind alle möglichen Zulassungen erforderlich. Und dann gibt es da noch ... andere Probleme.
Doch sobald die grundlegenden Prüfungen abgeschlossen sind, fange ich mit der Herstellung an. Und ich werde der Erste sein, der sich damit impft, wenn das Dr. Depene beruhigt. Oh, und es bedarf der Injektion eines Primers und eines Boosters. Man ist erst wirklich geschützt, wenn man auch den Booster verabreicht bekommen hat. Diesen sollte man allerdings frühestens verabreicht bekommen, wenn nach der Primer-Impfung eine Woche vergangen ist. Daher ... arbeiten wir gegen die Zeit, die Ausbreitung der Krankheit und die Entwicklung und Herstellung des Impfstoffs. Das wird knapp. Für uns. Für den Rest der Welt? Da will ich mich gar nicht erst auf Spekulationen einlassen.«
»Gibt es andere kritische Faktoren?«, fragte Bateman.
»Keine, die Sie nicht im Fernsehen verfolgen könnten«, entgegnete Curry. »Aber Sie müssen mir diesen Strahlungsgenerator besorgen. Und es sind einige Installationsarbeiten erforderlich. Unter anderem zur Abschirmung der Strahlung. Das sind allerdings Kleinigkeiten, die ich zusammen mit Mr. Smith in den Griff bekommen werde. Bis der Impfstoff vorläufig freigegeben ist, hängen wir in der Warteschleife.«
»Na schön.« Bateman wirkte zufrieden. »Ich danke Ihnen noch einmal für Ihre Unterstützung, Dr. Curry.«
»Stellen Sie einfach sicher, dass der Scheck gedeckt ist.« Dr. Curry kicherte.
»Schalten Sie die Übertragung ab«, sagte Bateman.