13
»Das ist ein guter Laden, vertraut mir.« Es herrschte kein dichter Verkehr, aber Tom hatte trotzdem Probleme, mit dem Wagen voranzukommen. Auf den Straßen standen immer mehr verlassene Wagen, die in zweiter Reihe parkten. Und das Amt für Straßensicherheit kam offensichtlich mit dem Abschleppen nicht mehr hinterher. Anscheinend tendierten die Menschen bei der Zombifizierung nicht nur dazu, sich auszuziehen, sondern sie ließen auch gern ihr Auto im Stich. Zumindest taten das die meisten. Einige verwandelten sich zu schnell und fuhren dabei ihren Wagen zu Schrott. »Und er hat vor allem noch geöffnet.«
»Vertraut mir wie in ›Vertraut mir, ihr werdet nicht von einem Zombie gebissen‹?«, fragte Faith scheinheilig.
»Das ist nicht fair, Faith«, mahnte Sophia.
»Entschuldige, Onkel Tom«, lenkte Faith ein. »Das war wirklich nicht fair. Vor allem nicht nach dem ganzen Mist, den ich mir selbst eingebrockt habe.« Sie streichelte die Saiga-Büchse, die sie bei sich trug, und grinste. »Aber diesmal bin ich perfekt vorbereitet.«
»Ich bin ein großer Junge.« Tom grinste zurück. »Und wenn du die einsetzt, solltest du verdammt noch mal sicherstellen, dass du nur dein Primärziel triffst und dass du ein zulässiges Ziel vor dem Lauf hast.«
»Mit anderen Worten«, mischte sich Steve ein, »setze sie nicht ein. Dein Ausweis hält einer genauen Überprüfung nicht stand.«
»Spielverderber«, meckerte Faith. »In Wahrheit will ich gar nicht rumballern. Dazu fühle ich mich noch viel zu durcheinander. Aber das Teil beruhigt die Nerven ungemein.«
»Ich hoffe, du hast ihnen gesagt, dass sie ›eine private Sicherheitsfirma‹ bewirten.«
»Klar doch«, versicherte Tom. »Wir mussten uns bei ein paar Punkten einigen, aber alles im grünen Bereich.«
»Haben sie etwas gegen Leute mit Waffen?«, wollte Sophia wissen. Sie hatte eine Panzerweste angelegt und vollständige Einsatzkleidung angezogen, sich aber nur für eine Pistole und einen Taser entschieden. Pistole am rechten Oberschenkel, Taser am linken.
»Das Restaurant ist bei einer bestimmten Klientel legendär«, berichtete Tom. »Der Besitzer reagierte nervös auf mein Anliegen, weil er sie nicht ... verärgern wollte.«
»Wir sind da, Sir.« Durante parkte die Limousine vor einem bescheidenen Sandsteingebäude an der Upper East Side.
»Wirkt unscheinbar.« Faith öffnete die Tür und stieg aus.
»Du solltest das Durante machen lassen«, wies Sophia ihre Schwester zurecht. »Du wirst nie lernen, wie man einen Auftritt hinlegt, hab ich recht?«
»Lass mich erst den Weg kontrollieren, Faith.« Durante streckte eine Hand aus. Er ging in Richtung der Tür, suchte beide Seiten nach Bedrohungen ab, während der Fahrer ausstieg und den Bürgersteig sicherte.
»Von den Guten lernen das nur die wenigsten«, sagte Tom. Er trug einen schlichten Business-Anzug. Natürlich hatte er darunter ebenfalls eine Waffe versteckt. »Die Wahrheit lautet, hier ist man solche Auftritte durchaus gewöhnt. Nur nicht so offensichtliche Bewaffnung.«
»Oh«, entfuhr es Steve. »Diese Art von Klientel meintest du.«
»Welche Art Klientel?« Faith sah ihn an.
»Mr. Smith!« Der Sprecher entpuppte sich als kleiner rundlicher Kerl mit starkem sizilianischem Akzent. »Es ist schön, Sie wiederzusehen!«
»Mr. Fattone.« Tom nickte ihm zu. »Ich hoffe, wir machen Ihnen keine Unannehmlichkeiten.«
»Nicht im Geringsten«, plapperte Mr. Fattone munter weiter. »Wir müssen uns doch alle sicher fühlen, nicht wahr? Treten Sie ein, treten Sie ein.«
Er geleitete Tom, Sophia, Steve und Stacey in das Restaurant wie königlichen Adel. Das Restaurant glich einem langen, aber ziemlich schmalen Schlauch mit Nischen auf der rechten Seite und Tischen in der Mitte. Überraschenderweise war es auch ziemlich gut gefüllt. Die Gespräche verstummten kurz, als Faith und Durante den Raum betraten, wurden aber schnell fortgesetzt.
»Für Sie und Ihre Freunde.« Mr. Fattone wies auf eine Nische im hinteren Bereich.
Faith wurde davon abgehalten, sich in die Nische zurückzuziehen.
»Äh, ähm.« Faith räusperte sich.
»Sie sitzen am Tisch«, flüsterte Fattone. Neben der Nische, in die nur vier Personen passten, stand ein leerer Tisch. Er fragte sich offensichtlich, warum er das erklären musste.
»Ich nehme den Tisch.« Tom lächelte. »Dieses Abendessen war Faiths Idee.«
»Wir können zusammenrücken«, schlug Stacey vor. »Du und Faith auf dieser Seite.«
»Das klappt schon.« Tom sah Faith an. »Ich setze mich nicht an die Wand.«
»Ich trage die ganzen Waffen«, betonte Faith. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich da durchrutschen kann.«
»Gib mir die Saiga, Faith«, brummte Durante.
»Aber wenn sich jemand in einen Zombie verwandelt?« Faith presste sie an ihre Brust. »Das mein ich ernst. Ich mach das nicht noch mal unbewaffnet durch.«
»Und ich meine es wirklich ernst, dass ich den Auftrag habe, mich darum zu kümmern.« Durante streckte die Hand aus. »Saiga. Dann passt du auch in die Nische.«
»Okay.« Faith öffnete den Haltegurt der halbautomatischen, mit Stangenmagazin geladenen Selbstladeflinte und reichte sie ihm. »Aber ich hänge unglaublich an den Pistolen.« Sie hatte drei mitgenommen. Eine in einem Holster an der Hüfte und zwei in Brustholstern. Sie trug außerdem – Tom hatte darauf bestanden – einen Taser X26 mit Doppelschuss und Ersatzkartuschen. Da sie alle ihrer Meinung nach möglicherweise neu nachgeladen werden mussten, hatte sie auch mehr Munition dabei als Durante.
»Du kannst die Pistolen behalten«, sagte Tom. »Jetzt rutsch rein.«
»Riecht gut.« Stacey musterte die Speisekarte. Auf Papier gedruckt stand da eindeutig: ›Das hier können Sie heute Abend haben, liebe Gäste‹. »Was empfiehlst du?«
»Alles.« Tom wischte mit der Hand über die ganze Speisekarte. »Es schmeckt alles lecker. Ich nehme normalerweise Frutti di Mare.«
»Ich weiß nicht, ob ich unter diesen Umständen Meeresfrüchte wählen würde«, mischte sich Steve ein. »Die Lieferkette ist total im Eimer.«
»Ich denke, da brauchst du keine Angst zu haben.« Tom klang völlig überzeugt. »Er hat ziemlich gute Lieferanten.«
»Ich will Vorspeisen«, plapperte Faith dazwischen. »Und ... so Zeug. Ich weiß gar nicht, was ich bestellen soll. Ich ess normalerweise immer Spaghetti mit Fleischklößchen.«
»Werd nicht gierig«, mahnte Steve.
»Lass sie«, wiegelte Tom ab. »Das geht aufs Spesenkonto. Und das Geld verwandelt sich sowieso in elektronischen Müll. Und die Fleischbällchen hier sind zum Sterben gut.«
»Wie lange haben wir?«, fragte Stacey.
»Hängt vom statistischen Modell ab.« Tom fuchtelte in der Luft herum. »Wenn wir eine schöne Nacht in der Stadt verbringen wollen, sollten wir das heute machen, mehr kann ich dazu nicht sagen. Frag mich nicht, wie es morgen Nacht aussieht. Es wird mehr oder weniger so weiterlaufen und irgendwann aufhören. Wenn der Umkehrpunkt überschritten ist, bricht alles ganz schnell zusammen.«
»Können wir bitte über was anderes reden als über das Ende der Zivilisation?«, bettelte Sophia.
»Wie wär’s mit was Interessantem und völlig Nebensächlichem?«, schlug Tom vor. »Sie räumen still und heimlich alle bedeutenden Kunstmuseen und schaffen das Zeug an einen ›geheimen‹ und entfernten Ort. Wenn alles vollständig zusammenbricht, haben sie im Grunde genommen alle bedeutenden Kunstwerke gerettet. Das Gleiche gilt für historische Schriften und Dokumente.«
»Das hör ich gerne«, sagte Stacey. »Würde mir gar nicht gefallen, einen Tizian brennen zu sehen.«
»Was ist mit den privaten Sammlungen?«, fragte Steve.
»Da bin ich mir nicht sicher«, gab Tom zu. »Ich schätze, wenn es einen van Gogh in einer Privatsammlung geben sollte und man ihn zum Schutz einreicht, wird ihn das Kunstmuseum kaum zurückweisen. Die meisten dieser ›Privatsammlungen‹ gehören ohnehin größeren Firmen. Und die meisten davon haben selbst Vorbereitungen für solche Notfälle getroffen. Bei der Bank haben wir das für die Wertsachen von Aufsichtsrat und Vorstand bereits erledigt. Ich bin mir nicht sicher, ob es was bringt. Zum Teufel, selbst bei den Museen weiß man das nicht so genau.« Er seufzte.
»Wie ist dein Plan?«, erkundigte sich Faith.
»Solide«, sagte Tom. »Zu großen Teilen ist das Sophia zu verdanken. Das hier geht übrigens wegen deiner Leistungen auf die Spesenrechnung, nicht wegen Faith.«
»Na, vielen Dank«, empörte sich Faith. »Ich habe nur Zombies davon abgehalten, dein Gebäude zu übernehmen, und wäre dabei fast draufgegangen!«
»Stimmt«, meinte er. »Ich zieh dich doch nur auf. Richard Bateman sagte mir, er schätze die Bemühungen von euch beiden außerordentlich.«
»Möchten Sie bestellen?« Die Kellnerin war am Tisch aufgetaucht.
»Ich weiß bei den meisten Sachen nicht mal, was das eigentlich ist.« Faith betrachtete den Berg von Vorspeisen. Tom hatte im Prinzip alles auf der Karte bestellt.
»Das schmeckt klasse«, freute sich Sophia. »Was ist das?«
»Tintenfisch in eigener Tinte«, gab Tom bereitwillig Auskunft.
»Pfui Teufel.« Faith legte es zurück.
»Versuch’s«, forderte Steve sie auf. »Nur einen Bissen.«
»Ich bin doch kein kleines Kind mehr.« Faith biss einmal ab. »Okay, es schmeckt lecker. Aber die Konsistenz ist voll eklig.«
»Macht mir nichts aus.« Sophia kostete eine weitere Vorspeise. »Du hast recht, das ist alles prima.« Sie sah sich um und beugte sich zu Stacey hinüber. »Mit etwas Wein schmeckt es bestimmt noch besser ...?«
Stacey schob ihrer Tochter das Weinglas zu und füllte ihr fast leeres Wasserglas aus der Flasche nach.
»Das ist also der Trick«, sagte Faith. »Alles schmeckt gut, wenn man es mit Wein runterspült?«
»Auch ’ne Methode«, bestätigte Tom. »Du willst gar nicht wissen, was ich mit Alkohol schon alles runtergewürgt habe.«
»Affe.« Sophia nahm einen Schluck. »Oooh. Es schmeckt mit Wein wirklich besser.«
»Probier Faultier«, schlug Steve vor. »Das ist übrigens wirklich ekelhaft. Ich hab mal eins aufgrund einer Wette probiert. Hat geholfen, dass ich dabei sternhagelvoll war. Hinterher hab ich mich übergeben. Aber die Wette war gewonnen.«
»Ich hab mal Nacktschnecke gegessen«, sinnierte Tom. »Allerdings hatte ich kein Bier zum Nachspülen. Wir hingen eine Weile am Arsch der Welt fest. Sah eigentlich köstlich aus. Wenn du wirklich Hunger hast, sind sie das wohl auch.«
»Igitt«, schüttelte sich Faith. »Okay, kein Ende-der-Welt-Geschwätz und auch nichts mehr über merkwürdiges Essen.«
»Keins von den schleimigen Biestern, die am Boden leben«, redete Tom munter weiter. »Sondern eine Baumschnecke. Farbig. Erinnerte mich an eine rotblaue Banane, nur dass sie sich halt bewegt hat. Es stellte sich raus, dass sie leicht giftig sind. Vom restlichen Einsatz hab ich nicht mehr viel mitbekommen.«
»Man isst keine rotblauen Baumschnecken.« Sophia zwinkerte ihm zu. »Verstanden. Nur falls mir mal eine über den Weg kriecht.«
»Da wir gerade davon sprechen, wie geht’s euren Vorräten?«, erkundigte sich Tom.
»Wir haben sie aufgestockt, bevor wir hergekommen sind«, antwortete Steve. »Das heißt, das Boot ist randvoll beladen. Das sollte gut einen Monat lang reichen. Hängt davon ab, wie lange wir im Hafen bleiben.«
»Nicht mehr lange«, versprach Tom. »Nach heute Nacht verfrachten wir die Mädchen zurück aufs Boot. Wir beenden das Projekt, an dem Sophia gearbeitet hat. Es ist ... so weit abgeschlossen, wie es nötig ist.«
»Verstanden.« Stacey sah zu ihren Kindern. »Und ich freue mich, wenn ich sie wiederhabe. Nichts für ungut.«
»Es war ein echtes Abenteuer, so viel ist sicher.« Tom lachte. »Ich sollte mich vielleicht noch mal entschuldigen, aber ...«
»Was faselst du da immer von Abenteuern, Dad?« Faith stupste ihren Vater an.
»Ein Abenteuer ist etwas, das jemand anders erlebt hat, vorzugsweise weit weg und vor langer Zeit«, zitierte Steve. »Wenn es tatsächlich geschieht, handelt es sich eher um Horror, Schrecken oder eine Tragödie.«
»Eines Tages wird das hier ein Abenteuer sein.« Faith kicherte.
»Okay, es stimmt.« Faith rülpste, während sie in ihrem Tiramisu stocherte. »Das Essen in New York ist unglaublich. Ich hätte dieses Frutti-di-Mare-Zeugs bestellen sollen. Ich mag eigentlich keine Meeresfrüchte, aber das war der Wahnsinn.«
»Und das ist echt nur ein kleines Restaurant in der Nachbarschaft«, schwärmte Tom. »Aber eines der besten der Stadt.«
»Müssen wir gleich zurück aufs Boot?«, erkundigte sich Sophia.
»Es wird dunkel«, sagte Steve. »Und es gibt eine Ausgangssperre.«
»Die kaum durchgesetzt wird.« Tom klopfte mit dem Finger auf den Tisch. »Selbst mit Unterstützung der Nationalgarde sind sie derzeit viel zu beschäftigt, die Infizierten zusammenzutreiben.«
»Und es wird dunkel«, beharrte Steve.
»Das sollen eure Eltern entscheiden.« Tom hielt sich raus. »Einige Clubs haben noch immer geöffnet und ich habe gehört, dass im Washington Square Park mehr oder weniger rund um die Uhr Konzerte stattfinden. Eher ein Rave, wenn ich’s mir recht überlege.«
»Ein Konzert.« Sophias Augen leuchteten.
»Im Dunkeln«, betonte Steve. »Im zombieverseuchten New York.«
»Ich bin noch nie auf einem Konzert gewesen, Dad.« Faith klang wehmütig. »Na, das ist doch eine der Sachen, die man als Teenager so macht. So wie sich die Sache entwickelt, bekomme ich nie die Gelegenheit dazu. Oder mein Abschlussball ...« Sie schluchzte.
»Wir werden in einem zombieverseuchten New York keinesfalls nachts auf ein Konzert gehen, das in einem Park stattfindet!«, sagte Steve wütend. »Und das ist mein letztes Wort!«
»Die Band ist scheiße«, brüllte Faith gegen den Lärm an.
»Vorgruppe«, schrie Tom zurück. »Das sind sie meistens. Die guten kommen erst später!«
Es schien kaum jemanden zu stören, dass die Band nichts taugte. Mit genug Alkohol und Drogen klang alles gut. Und wenn man sich den aufgetürmten Müll so ansah, schien die Party schon eine ganze Weile zu laufen. Die Bühne war direkt vor dem Bogengewölbe errichtet worden und wurde anscheinend von einigen Generatoren mit Strom versorgt, die ihre eigene Kakofonie zu dem Spektakel beisteuerten.
»Keine Security?« Sophia entdeckte nirgends Anzeichen von Polizeipräsenz. Niemand schien sich hier verantwortlich zu fühlen.
»Das sind dann wohl wir!« Tom verzog das Gesicht zu einem Lächeln. »Nein, das ist hinsichtlich der örtlichen Gesetzgebung von New York City ein vollkommen illegales Zusammentreffen. Aber das kommt ziemlich häufig vor und es gibt so viele andere Probleme, dass sich niemand sonderlich um die Einhaltung der Vorschriften kümmert. Hier hält man sich auf eigenes Risiko auf. Aber Durante und ich sind dabei, also geht das in Ordnung.«
»Verstanden«, meinte Sophia. Die Frauen in der Menge standen entweder in großen Gruppen zusammen oder befanden sich in männlicher Begleitung. »Trinkt nichts aus offenen Behältern und nehmt keine Geschenke an. Für alles andere habe ich die hier.« Sie tätschelte ihre Pistole.
»Das wird wahrscheinlich jedes Problem im Keim ersticken.« Tom tippte auf das große BERT-Schild, das mit Klettverschluss an der Vorderseite ihrer Schutzweste befestigt war. Er hatte auch Security-Freigaben für alle besorgt. Auf den Ausweisen, die an Clips um ihren Hals baumelten, stand ›Privater Sicherheitsdienst für biologische Notfälle‹.
»Was?« Sophia riss die Augen auf. »Meinst du das Gerücht, dass BERT-Lieferwagen Leute entführen und zu Impfstoff verarbeiten? Das glaubt niemand!«
»Du musst es nur oft genug erzählen.«
Trotz ausdrücklicher Warnung verzog sich Sophia an den Rand der Gruppe und ließ den Blick über die Menge schweifen. Die meisten Anwesenden waren jung. Zumindest wirkte das so. Wer konnte es schon so genau sagen? Irgendwie empfand sie die Situation als grotesk. Niemand schien allzu viel Spaß zu haben, aber jeder gab sich Mühe, so zu wirken, als habe er Spaß. Es gab auch einige, die diesen Anschein nicht vermittelten, doch die mussten schon vor Anbruch der Dunkelheit so stoned oder besoffen gewesen sein, dass sie inzwischen längst verdrängt hatten, sich auf einem illegalen Konzert im Park aufzuhalten, das jederzeit aufgelöst werden konnte.
»Hey.« Ein Kerl raunte sie von hinten an, so dicht an einem Flüstern, wie es bei plärrenden Lautsprechern mit nuklearer Lautstärke möglich war. »Qualitativ bester Impfstoff!«
Sie drehte sich um und schaute ihn an. In der hohlen Hand des Mannes lag ein Fläschchen.
»Ich kann auch Spritzen besorgen.« Der Kerl trug ein strahlend rosafarbenes Rayon-Hemd, eine Yankee-Jacke und Jeans. Er wirkte wie eine wandelnde Reklame für böse Drogendealer. »Saubere Spritzen.«
»Ich hab schon welche. Danke.«
Sophia drehte sich ganz zu ihm um, damit er das Logo an ihrer Panzerweste und den Ausweis um ihren Hals erkennen konnte. Sie blickte ihn kalt und ausdruckslos an.
»Oh ... Scheiße«, stammelte der Kerl und seine Augen weiteten sich. Er wirbelte herum und hetzte davon, warf gelegentlich einen Blick über die Schulter.
»Wow, das funktioniert wirklich«, strahlte Sophia.
»Hey.« Ein Mädchen sah sich um, um sicherzustellen, dass niemand sie hörte. »Kannst du mir was rüberwachsen lassen?«
»Es ist nicht wirklich so, dass wir Impfstoff herstellen.« Sophia seufzte. »Und ich arbeite nicht mal auf der Straße. Ich gehöre zum Betreuungspersonal.«
»Was machst du?«, fragte der männliche Begleiter des Mädchens leicht lallend. Er schien ziemlich offensichtlich stoned zu sein, bemühte sich aber, alles auf die Reihe zu bekommen.
»Antikörpertests«, erwiderte Sophia. »Laborarbeit. Sicherstellen, dass unsere Kunden nicht infiziert sind. Wir haben einen Vertrag mit einzelnen Unternehmen abgeschlossen. Der Rest unterliegt der Schweigepflicht.«
»Das ist cool«, gluckste der Kerl. »Hey, willst du eine E-Bomb?« Er hielt ihr ein paar Pillen vor die Nase.
»Du willst doch nicht wirklich, dass jemand mit einer Pistole und einem Taser auf Drogen durch die Gegend rennt.« Sophia musste lachen. »Nichts für ungut.«
»Bist du als Security hier?«, fragte das Mädchen.
»Nö. Ich genieße nur die Show. Na ja. Die sind scheiße.«
»Stimmt«, pflichtete ihr das Mädchen bei. »Die Guten kreuzen erst auf, wenn es schon dunkel ist ...«
Das Mädchen hieß Christine, ihr Freund (»Ich hab ihn nur abgeschleppt, weil er eine Quelle hat, ehrlich!«) stellte sich als Todd vor. Sie waren beide in New York geboren, genau wie ihre Freunde. Die Gruppe hatte sich zum Schutz gegen die immer chaotischere Menge zusammengedrängt. Direkt rechts neben der Bühne standen einige Punks und hatten einen Moshpit eröffnet, was den Zaun erklärte, den man zum Schutz der Band aufgestellt hatte.
Nachdem die Sonne untergegangen war, wechselte die Band. Sie kamen ebenfalls aus New York, aber es klang schon besser. Nicht wesentlich, aber immerhin besser.
Die Band machte Platz für einen Sänger, den sie wiederzuerkennen glaubte: ein hochgewachsener, düsterer Kerl mit Akustikgitarre.
»Ist das Voltaire?«, erkundigte sich Sophia.
»Ja.« Christine schaute zur Bühne. Sie hatte direkt aus einer Flasche Chivas Regal getrunken und war stockbesoffen. »Er spielt jeden Abend.«
»Brains, Brains, Brains ...!«, brüllte die Menge im Chor.
Natürlich fing er mit Brains an, danach kamen die ganzen Klassiker. Dead Girls, Goodnight Demonslayer, USS Make-Shit-Up ... Sophia kannte jeden Song und hatte schon immer mal eins seiner Konzerte besuchen wollen.
Ein Underground-Konzert in einem Park in NYC während einer Apokalypse. Einfach ... perfekt.
Mitten in Day of the Dead hörte sie den ersten Schuss einer Schrotflinte ...
»Die 1911 ist klasse«, schrie Faith. »Aber die Technologie ist total veraltet. Und sie hat nur sieben Schuss! Die Heckler & Koch gefällt mir viel besser.«
»Versuch mal, Leistung aus ihr rauszuquetschen«, brüllte Durante zurück. Sie standen nebeneinander. Faith schaute sich die Band an und Durante die Dunkelheit, die sie umgab. Sie trugen beide Stöpsel in den Ohren, selbst nachdem Voltaire die Bühne betreten hatte. Sie konnte ihn zwar ertragen, war aber kein großer Fan von ihm. »Und eine 1911 hat kein ›Ich breche, wenn du mich schief anstarrst‹-Griffstück aus Polymer.«
»Die H&K kann man unter Wasser abfeuern.«
»Mit der 1911 klappt das ebenfalls. Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, warum man das tun sollte. Das Argument lass ich nicht gelten.«
»Einmal vielleicht«, hielt Faith dagegen. »Aber eine H&K hat einen Achtkantlauf, der hält viel höheren Belastungen stand.«
»In einigen Punkten sind wir einer Meinung, in anderen nicht.« Durante lächelte.
»Ich wünschte, Atreyu oder Avenged Sevenfold wären im Line-up«, seufzte Faith. »Aber Sophia hat sicher einen Riesenspaß.« Sie passten alle ein wenig auf sie auf.
»Scheint so«, sagte Durante. »Die Musik gefällt ihr ...« Er stutzte und blickte sich um. »BOSS! GESELLSCHAFT!«
»Cops?« Faith schielte über die Schulter.
»Nein.«
Aus dem Schatten der Bäume traten zwei nackte Menschen, ein Mann und eine Frau, und liefen auf die Konzertbesucher zu.
»Scheiße.« Sie zog den Taser.
»Überlass sie mir.« Durante zog seinen eigenen. »Weniger Fragen.«
Die Zombies kamen nicht direkt in ihre Richtung, daher trat Durante ein paar Schritte zur Seite, um sich zwischen den Zombies und der Menge aufzubauen.
»Ich bin überrascht, dass es so lange gedauert hat.« Tom zauberte aus dem Nichts eine Glock hervor.
»Oh-oh.« Faith deutete zur Seite. Zwischen den Bäumen tauchten weitere Zombies auf. Eine Menge Zombies. Und sie bewegten sich schnell. »Onkel Tom?«
»Ich glaube nicht, dass die Taser reichen«, rief Tom. »DURANTE! DA SIND NOCH MEHR! SCHARFE MUNITION!«
Durante hatte schon zwei Zombies getasert und einem eine Injektion verpasst. Er ließ den Injektor fallen und wollte gerade dem zweiten eine Spritze verpassen, da wechselte er zur Saiga.
»Siehst du? Ich hab doch gleich gesagt, dass das eine schlechte Idee ist.« Steve hielt die 1911 in beiden Händen und Stacey deckte ihm mit einer SIG Sauer den Rücken.
»Das Handynetz ist ausgefallen«, sagte Tom. »Scheiße. Schießt ohne Rücksicht auf Verluste.«
»Schon dabei.« Faith wich nach rechts aus. Durante hatte sich nach links orientiert, um sich den ersten beiden Infizierten zu stellen. Weiter rechts konnte sie Sophia besser decken. Sie und die Gruppe, die bei ihr stand, bemerkten die Gefahr anscheinend überhaupt nicht.
Faith spähte über das Visier der Saiga und nahm den ersten näher kommenden Zombie aufs Korn.
»So wird man mit einer Zombieapokalypse fertig«, flüsterte sie. Durante drückte im selben Augenblick ab.