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Nate Dolan, Bachelor of Science, 25 Jahre alt, 1,62 Meter in Socken und ein Biologie-Fachidiot von Weltrang mit einer nahezu vollständigen Sammlung von The Amazing Spider-Man, um diese Tatsache zu untermauern, bedauerte immer mehr, welche Jobs er sich ausgesucht hatte, um während des Studiums finanziell über Wasser zu bleiben.
Intergen war zwar ein toller Arbeitgeber gewesen, auch wenn er bei der Teilzeitstelle einen Großteil des Tages in einem Raumanzug hatte verbringen müssen. Aber seit nunmehr drei Tagen beobachtete ein FBI-Agent mit glänzenden Augen jede einzelne seiner Bewegungen und erwartete gleichzeitig, dass er für weniger als die Hälfte seiner Bezüge bei Intergen ›aushalf‹. Natürlich in einem Raumanzug.
LAX, der Flughafen von Los Angeles, war nicht wirklich dichtgemacht worden. Aber da er als eine der Hauptquellen für die Pazifische Grippe gehandelt wurde, hatte man ihn bereits vorübergehend geschlossen und würde es sicher wieder tun. Vor allem, wenn es ihnen nicht gelang, allmählich die Herkunft des Erregers ausfindig zu machen. Und offen gestanden musste jeder ein Idiot sein, der in normalen Klamotten auf dem Airport-Gelände herumspazierte, während alle ›offiziellen‹ Personen entweder Distanz hielten oder Raumanzüge trugen.
Die Leute an der Macht waren zu diesem Zeitpunkt davon überzeugt, es bei H7D3 mit einem von Menschenhand erschaffenen Virus zu tun zu haben – eigentlich einem richtig coolen Virus –, und dass ein manueller Verteilungsmechanismus existieren musste. Der Fachbegriff dafür lautete Angriffsvektor. Das hatte Nate erfahren, als er ein kurzes Briefing bezüglich der Suche erhielt. Was diesen Clowns mit den minderwertigen Anzügen hätte zeigen sollen, dass er nicht dahintersteckte! Aber bis sie Spuren von H7 in der Umgebung entdeckten, was er für ausgesprochen schwierig hielt, konnte es ihnen auch nicht gelingen, den Angriffsvektor zu finden.
Sie hatten jede Menge falsch positive Resultate. Die verwendeten Antikörpertupfer waren ein normaler Grippe-Test. Sie schlugen an, sobald sie auf etwas stießen, das im Entferntesten einer Grippe ähnelte. Und das traf offensichtlich auf die Hälfte aller organischen Chemikalien zu, die es auf diesem Planeten gab. Bis zum heutigen Tage hatten sie für die Tests allesamt zu verschiedenen Labors geschickt werden müssen.
Heute hatte man endlich einen präziseren Antikörpertest geliefert. Für die Erstprüfung setzten Sie weiterhin die Streifen ein, doch jetzt ließ sich ein Nachtest direkt vor Ort durchführen: Wirf den Streifen in ein Reagenzglas, gib ein wenig von der magischen Flüssigkeit hinzu und warte auf das Ergebnis.
»Ich hab noch eins«, verkündete Luiz Lopez und hielt einen Streifen hoch. Er leuchtete tatsächlich grellrot.
Lopez hatte sich das Innere einer der Toilettenkabinen vorgenommen. Die gute Nachricht lautete, dass alle Erreger vom Raumanzug ferngehalten wurden. Die schlechte Nachricht lautete, dass sich etwa die Hälfte aller falsch positiven Ergebnisse in den Toiletten finden ließ. In diesen Kabinen fand man einfach alles. Es war hart, unter Mysophobie zu leiden und als Biologe zu arbeiten. Diese Arbeit hatte dazu geführt, dass er sich eine Ansteckungsphobie zugezogen hatte. Längst hatte er sich geschworen, nie wieder eine öffentliche Toilette zu benutzen.
»Und was haben wir ...« Nate schüttelte das Reagenzglas. Die Flüssigkeit war rot wie Blut. »Positiv? Ehrlich?«
»Haben wir eine Probe für einen Kreuztest erhalten?«, wollte Luiz wissen.
»Glaubst du, die geben mir etwas H7?«, erwiderte Nate und blickte in die Kabine. Kaum ein Graffito zu sehen. Das Problem mit diesen Flughafen-WCs bestand darin, dass sie einerseits wahre Jauchegruben darstellten, andererseits aber auch regelmäßig geputzt wurden, nur eben nicht sorgfältig. Trotzdem dürfte das meiste Spurenmaterial, einschließlich des gesamten vorhandenen H7, entfernt oder längst durch Umwelteinflüsse zersetzt worden sein. Selbst wenn es vor einigen Wochen einen Vektor gegeben hatte, hatte man das H7 inzwischen weggeputzt oder es war allein durch die Umgebungshitze und die Feuchtigkeit zerfallen. Außerdem gab es hier keine Sprühbehälter zum Desinfizieren. Danach hatten sie als Erstes Ausschau gehalten. »Ich stehe kurz davor, unseren ›Betreuern‹ alles vor die Füße zu werfen.«
»Mach darüber keine Witze«, sagte Luiz. Er stammte aus Argentinien und wie Nate arbeitete er gerade an seiner Masterarbeit an der UCLA. »Dir gestehen sie zumindest einige Rechte zu. Wenn Sie mich auch nur verdächtigen, sitze ich schon in einem Flugzeug nach Guantanamo.«
»Wo hast du es gefunden?« Nate sah sich in der Kabine um.
»An den Wänden und den Türen«, antwortete Luiz.
Wenn es in der Kabine H7 gab, musste es irgendwie dorthin gekommen sein. Erst vor Kurzem. Sie war offensichtlich gereinigt worden. Zwei weitere Tests ergaben, dass die Wände, Türen und sogar der Boden verseucht waren. Laut dem Tupfer und dem Röhrchen.
Was sich dort fand, war ein Luftverbesserer an der Tür. Ein rundes grünes Gehäuse mit dem Aufdruck ›Rettet den Planeten. Weniger Abfall, wiederverwenden, wiederverwerten. SaveThePlanet.org‹. Der Slogan war in den Kunststoff gestanzt worden.
Er hatte sie schon zuvor betupft. Das Teil war ihm gleich in der ersten Kabine aufgefallen. Und er stellte fest, dass die Substanz im Lufterfrischer ein falsch positives Resultat ergab. Was genauso gut ein falsch negatives Resultat sein konnte. Sobald der Träger ausreichende chemische Ähnlichkeit mit der Proteinhülle des Virus aufwies, konnte er in Abhängigkeit des Tests als falsch positives Ergebnis ausgelegt werden. Wenn etwa die evaporative Hülle nach wie vor den Virus umgab, um nur eine mögliche Erklärung zu nennen.
Er streckte vorsichtig die Hände aus und brach den Lufterfrischer auf.
»Ich möchte, dass du das schnellstens persönlich zu Dr. Karza bringst.« Nate benutzte einen Spatel, um ein wenig von der beigefarbenen Substanz herauszukratzen. »Sag ihm, dass er es durch das tragbare Rasterelektronenmikroskop jagen soll ...«
»Warum haben Sie das nicht früher erkannt?«, fragte der FBI Supervisory Special Agent. »Diese Kanister wurden getestet, nicht wahr?« Ich meine, das ist doch offensichtlich ...«
»Weil es bei der Mikrobiologie nicht so einfach läuft wie beim ABKNALLEN VON MENSCHEN!«, fluchte Dr. Azim Karza, während seine Augen an der Darstellung des Rasterelektronenmikroskops klebten.
»Das ist kein Grund, um ...«, begann der Agent, dann begann er zu husten und zu schniefen. »Ach du ... Scheiße ...«
»ZUM TEUFEL, VERSCHWINDEN SIE AUS MEINEM LABOR!«, befahl Dr. Karza. Nachdem der Agent den Raum verlassen hatte, testete er rasch sein eigenes Blut und atmete erleichtert durch. Noch immer kein Anzeichen von H7D3. Er hatte den Special Agent dabei beobachtet, wie dieser mangelhafte Übertragungsprotokolle verwendet hatte, war aber gezwungen gewesen, mit ihm auf engstem Raum zusammenzuarbeiten. Das bedeutete, dass das Schniefen des Agent etwas anderes als H7D3 sein musste. Karza hätte es mit den gleichen Tests klären können. Doch der unmoralische Bastard sollte ruhig noch ein wenig schwitzen.
»Cune!«
»Das FBI hat die Quelle des Pazifischen Grippevirus gefunden. Wer auch immer an einem öffentlichen Ort grüne Lufterfrischer mit dem Schriftzug ›Rettet den Planeten‹ findet, sollte sich unverzüglich entfernen und sofort die lokale Polizeidienststelle benachrichtigen oder die gebührenfreie Hotline des FBI wählen ...«
»Das Verdunstungsmaterial ergab eine falsch negative Reaktion auf die Antikörpertests.« Dr. Dobson klang müde.« Wir haben die Lufterfrischer getestet und durchgewunken. Gestern. Als wir dann die neuen Antikörperstreifen erhielten, überlegte einer der Techs, dass es einen kontinuierlich verbreiteten Erreger geben muss. Wenn man sich das Material unter dem Rasterelektronenmikroskop ansieht ...« Er gestikulierte in Richtung der Aufnahme und hob die Schultern. »Ich weiß nicht, ob das zum ursprünglichen Plan des Übeltäters gehört, jedenfalls funktioniert es. Sie wurden inzwischen an über 60 Orten entdeckt. Mindestens einer pro Toilette, die meisten davon entlang der Westküste ...«
»Dann haben wir es mit einem Angriff von Ökoterroristen zu tun?«, fragte Dr. Xiu Bao. Der aktuelle Repräsentant des chinesischen Gesundheitsministeriums war sich seiner Sache offensichtlich sehr sicher. Schon alleine deshalb, weil die chinesische Regierung bereits diese Annahme zum Anlass nahm, bei ihren eigenen Umweltaktivisten hart durchzugreifen.
»Das FBI gibt dazu keinen Kommentar ab, aber es ist möglich«, gab Dr. Dobson zu. »Wenn Sie allerdings mit dem Finger auf Ökoterroristen zeigen wollen, ist das natürlich ein willkommener Anlass, damit anzufangen. Ehrlich, Doktor, ich hoffe wirklich, dass niemand darauf hinweist, dass diese Lufterfrischer in China hergestellt wurden ...«
»Wir versichern, dass wir damit nichts zu tun haben ...«
»Ich weiß das«, sagte Dobson. »Jeder mit einem Rest Menschenverstand weiß das. Aber das bedeutet nicht, dass manche Idioten nicht trotzdem darauf herumreiten werden ...«
»Dies war kein Ökoterrorismus«, beharrte der Greenpeace-Sprecher. »Kein anständiger Umweltaktivist täte so etwas! Und selbst wenn einer so wahnsinnig wäre, dass er die Menschheit mit einer tödlichen Seuche anstecken wollte, hätte er keinen nicht wiederverwertbaren Behälter benutzt! Außerdem möchte ich darauf hinweisen, dass diese Behälter in China hergestellt wurden! Einer Nation, die zu den größten Ökoterroristen dieses Planeten zählt!«
»Langsam!«, mischte sich O’Reilly ein. »Ganz langsam! Das gilt für das meiste Zeug der heutigen Zeit. Mit dem Finger auf die chinesische Regierung zu zeigen, halte ich gelinde gesagt für vorschnell ...«
»Ich habe nie behauptet, dass die ...«
»Leider ist unsere Zeit zu Ende. Als Nächstes beim O’Reilly-Faktor ...«
»Wenn es ein nächstes Mal gibt.« Dr. Curry schüttelte die Popcorntüte, um an die Körnchen ganz unten heranzukommen. Das Labor, das er von der Bank zur Verfügung gestellt bekommen hatte, hatte eine vollständige Ausstattung, doch derzeit nutzte er überwiegend die Mikrowelle. Mr. ›Smith‹ hatte ihn etwas komisch angesehen, als er 600 Tüten Popcorn angefordert hatte. Doch selbst wenn der Strom ausfallen sollte, davon war er überzeugt, verfügte man bei der BotA über Generatoren. Mit Wasser, Dekontaminationsduschen und Popcorn konnte er es bis zum Jüngsten Tag aushalten. Oder bis der Strom endgültig ausging. »Ich habe bei der Apokalypse gern einen Platz in der ersten Reihe.«
»Sie wissen alle, was für ein gewaltiges Problem wir derzeit haben«, begann Lieutenant Simmons. »Glücklicherweise sind andere Verbrechen auf einem neuen Tiefststand. Doch wir sehen uns einem steigenden Verkehrsaufkommen gegenüber ...«
»Die Ratten verlassen das sinkende Schiff«, meinte Patterno.
»Die Menschen haben Angst«, korrigierte Simmons. »Das Fernsehen vermeidet das Z-Wort, aber im Internet wimmelt es davon. Das und die Tatsache, dass es sich dabei um einen Bioterrorangriff im großen Stil handelt, beunruhigt die Bevölkerung. Wir arbeiten das Problem einfach ab. Einige der Leute auf der Straße durchlaufen das neurologische Stadium, während sie hinter dem Steuer sitzen. Die Nachtschicht hatte es mit vielen Unfällen zu tun. Jeder Reservebeamte, der unserem Ruf gefolgt ist, wurde angefordert ...«
Young blendete das Briefing aus. Er hatte noch immer einen Bericht wegen der Schießerei abzugeben. Anfangs hatte man ein paar Worte mit ihm gewechselt, doch am Ende seiner Schicht hatten derart viele Cops von ihrer Schusswaffe Gebrauch gemacht, dass sie seinen Fall nicht einmal für eine nähere Untersuchung in Betracht zogen. Bisher hatte er auf drei der ›Befallenen‹ schießen müssen, um sie zu verwunden, und auf zwei weitere, um sie zu töten. Der Befehl lautete weiterhin ›überwältigen und in Gewahrsam nehmen‹, aber es gab mit jeder Schicht mehr 10-64er-H7s. Und für das Überwältigen wurden mindestens zwei Officers benötigt. Dem folgten noch mindestens zwei Stunden Papierkram pro 10-64 ...
»Bei Anrufen zu diesem Thema haben wir den Begriff ›10-64er-H7‹ zur Rufzeichenliste hinzugefügt.« Simmons kam auf die Hauptsache zu sprechen. »Allein in dieser Nacht wurden insgesamt 46 10-64er-H7 gemeldet.«
»Sicher?«, hakte Patterno nach. »Wir sind doch nur 40 Officers! Ein 10-64er mit Transport und Schreibkram dauert ...«
»Darum hat der Chief die Büroarbeit verkürzt.« Simmons hielt einen Stapel Formulare in die Luft. »Lass mich einfach ausreden, Joe. Das sind 10-64er, Formulare für einen mutmaßlich Infizierten im neurologischen Stadium mit H7-Virus. Versuchen Sie die Person eindeutig zu identifizieren, transportieren Sie sie ab und füllen Sie das Formular aus. Die tatsächliche Diagnose spielt keine Rolle. Der Staatsanwalt hat in Übereinstimmung mit einer Änderung der geltenden Gesetze, die noch vom Gouverneur unterzeichnet werden muss, bekannt gegeben, dass niemand diese Personen vor Gericht stellen wird. Außerdem ... ist das Krankenhaus überfüllt. Alle Krankenhäuser sind überfüllt. Der Transport aller 10-64er-H7s erfolgt nun nach 127 Curb Court, Lagerhalle sieben ...«
»Das Industrieviertel?« Young sah auf.
»Sie bleiben dort nur so lange, bis eine geeignetere Unterbringungsmöglichkeit gefunden wurde.«
»Versuchen Sie einfach die Identität eindeutig zu bestätigen, fixieren Sie die Person und transportieren Sie sie ab. Fordern Sie keinen Krankenwagen an, außer Sie haben einen Zivilisten ernsthaft verletzt, der unbedingt einen Transport benötigt. Die Sanitätsfahrzeuge quellen vor Verletzten über und wir haben zu wenig medizinisches Personal für die Krankenwagen ... Inzwischen wurden die Behältnisse mit dem Angriffsvektor an Standorten der Ostküste bestätigt. Das FBI teilt mit, dass sie schon seit einer Woche dort aufgehängt sein müssen. Einen davon hat man auch hier in Williamsburg entdeckt ...«
»Ach du heilige Scheiße«, stammelte Young und schüttelte den Kopf. Er hatte seine Eltern und seinen Bruder angerufen. Sie blieben allesamt im Haus und gingen nicht zur Arbeit.
»Der einzige Lichtblick ist, dass das CDC inzwischen verlautbaren lässt, dass die 10-64er möglicherweise, und ich betone: möglicherweise, den Erreger nicht durch die Luft übertragen«, erläuterte Simmons weiter. »Die Kehrseite der Medaille ist, dass sie bei Blutkontakt ansteckend sind und der Krankheitserreger im Blutkreislauf unglaublich aggressiv ist. Falls Sie mit dem Erreger im Blut in Kontakt kommen – entweder weil die betreffende Person blutet oder aufgrund von Blut, das durch die Luft spritzt ... desinfizieren Sie sich augenblicklich. Wir händigen pro Auto ein Dekontaminationsset aus. Glücklicherweise sind sie bereits eingetroffen.«
»Lasst euch nicht beißen«, warnte Patterno. »Unter gar keinen Umständen.«
»Young, das haben Sie doch zuerst erwähnt. Ich habe nie erfahren, welche Geschichte dahintersteckt.«
»Ich habe gestern einen 10-37er untersucht«, erklärte Young. Es kam ihm vor, als liege die Angelegenheit schon Jahre zurück. »Eine Familie belud ein Segelboot. Sie benutzten dazu ein Dock eines der zwangsgeräumten Anwesen drüben in Hunter Creek. Beluden es für eine lange Reise und gaben zu, dass sie Unmengen von Waffen in ihrem Fahrzeug mitführten. Der Mann wusste von der bevorstehenden Ankündigung des CDC. Das war kurz vor Mittag. Er riet mir ebenfalls, ich solle den Krankheitserreger im Blut meiden. Gleich danach hat sich die Situation, nun, verschlimmert. Das war einer der Gründe für meine Entscheidung, an diesem Tag mit tödlicher Gewalt vorzugehen. Ich schwöre bei Gott, dass ich nicht skrupellos gehandelt habe ... wie ein Killer. Ich hatte es einfach mit zwei 10-64ern gleichzeitig zu tun ...«
»Lassen Sie es gut sein.« Simmons winkte ab und verzog das Gesicht. »Das steht momentan nicht zur Debatte. Ich darf die Schusswechsel nicht kommentieren. Diesbezüglich bleiben unsere Verhaltensregeln unverändert. Setzen Sie so wenig Gewalt ein wie nötig, um die 10-64er zu überwältigen. Unter Berücksichtigung des neuen Verständnisses des Sachverhalts ... der genaue Wortlaut, den ich erhalten habe, ist: ›Setzen Sie so wenig Gewalt ein wie nötig – im Einklang mit einem vollständigen Verständnis der Gefahr und der Natur der Bedrohung, um sich selbst und andere mit hoher Priorität zu schützen und eine sichere Abwicklung der mutmaßlich mit H7D3 infizierten Person zu gewährleisten.‹ Wann immer Sie angegriffen werden, sollten Sie sich ins Gedächtnis rufen, dass das Menschen sind. Menschen, die an einer gottverdammten Krankheit leiden. Sie sind nicht daran schuld ...«
»Es wäre in vielerlei Hinsicht leichter, wenn wir es mit wandelnden Toten zu tun hätten«, rief Patterno dazwischen.
»Versuchen wir, diesen Begriff möglichst zu vermeiden«, betonte Simmons.
»Glauben Sie, ich wollte diesen Kerl mit zwei Kugeln durchlöchern, nur weil er krank war?« Young schüttelte den Kopf.
»Da sind Sie nicht der Einzige, Mann«, wies ihn Rickles zurecht.
»Wir empfehlen, dass alle Officers, die mit 10-64ern zu tun haben, vorläufig Regenkleidung tragen, bis es eine bessere Lösung gibt.« Simmons nickte.
»Das wird verdammt heiß«, sagte Young.
»Sieht zum Glück so aus, als ob es ein kühler Tag wird«, erwiderte Lieutenant Simmons.
»Für wen?«, fauchte Patterno zurück.
»Wenn ich nicht wüsste, warum wir das hier machen, hätte ich echt Spaß dran.« Steve blickte hinüber zu seiner Frau.
Der Wind wirbelte die Schaumkronen vom unruhigen Wasser der Chesapeake Bay in die Luft und die Hunter neigte sich um 30 Grad, während sie nach Norden zum Baltimore Canal pflügte. Steve hielt das Boot bewusst ein gutes Stück neben der Hauptverkehrsroute im Osten, damit sie einen ungehinderten Ausblick auf die Küste im Westen bekamen. Bisher gab es keinerlei Anzeichen für einen Zusammenbruch des gesellschaftlichen Lebens, was seine Entscheidung bekräftigte, zum Schifffahrtskanal zu segeln.
»Ich würde mir besseres Wetter wünschen.« Stacey zog den Anorak enger um den Körper. »Zumindest wärmeres.«
»Das ist doch schönes Wetter«, gab Steve zurück. Der Wind, der nach der Kälte aufgezogen war, wehte zwar kalte Luft heran, aber beständig, und das wertete er als positiv. »Das gibt uns die Möglichkeit, uns an das Klima auf hoher See zu gewöhnen, bevor es zu rau wird.«
»Ganz der Optimist«, ätzte Stacey kurz angebunden.
»Machst du dir Sorgen?«, fragte Steve, ohne sie anzusehen.
»Du etwa nicht?« Sie deutete mit dem Kinn zur Kajüte. Man hörte die Mädchen, die ununterbrochen und nicht gerade sinnvoll diskutierten. »Ist einer von uns schon infiziert? Was machen wir in so einem Fall?«
»Wir werden uns gegenseitig fesseln«, murmelte Steve.
»Ich glaube, darauf müssen wir in nächster Zeit erst mal verzichten, Schätzchen.« Stacey wurde leicht rot.
»Denk mit einem anderen Organ.« Steve grinste. »Ich führe mir wirklich nicht gern vor Augen, dass es uns selbst treffen könnte. Daher denke ich lieber darüber nach, was andere Leute unternehmen sollten. Keine Seuche ist zu 100 Prozent tödlich. Die Pest hat, zugegeben, ganze Familien und Dörfer ausgerottet. Aber sie bekam dabei jede Menge Hilfe. Selbst wenn wir alle infiziert wären, halte ich es für unwahrscheinlich, dass jeder von uns ... das gesamte Spektrum der neurologischen Anzeichen aufweist. Daher werden wir uns, wenn wir nicht aktiv mit etwas beschäftigt sind, mit einem Seil festbinden. Sobald einer von uns neurologische Symptome entwickelt, arbeiten die anderen zusammen, um ihn zu fixieren, bis ein Gegenmittel oder eine andere Lösung gefunden wurde.«
»Oder eine andere Lösung ...« Stacey runzelte die Stirn.
»Wir werden uns etwas ausdenken müssen. Aber nur wenn wir vermeiden können, dass wir uns gegenseitig beißen.«
»Na ja ...« Stacey kuschelte sich dichter an ihn. »Gegen ein bisschen Knabbern ist ja nichts einzuwenden.«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Steve. »Warst du denn ein gutes Mädchen? Hast du dir das Knabbern überhaupt verdient?«
»Ich war ein sehr böses Mädchen«, flüsterte ihm Stacey ins Ohr. »Daher habe ich das Knabbern eindeutig verdient ...«
»Oh mein Gott.« Faith schnitt eine Grimasse. Sie war plötzlich im Durchgang zum Gesellschaftsraum aufgetaucht. »Ihr seid sooo ekelhaft!«
»So viel zu ein wenig Ungestörtheit.« Steve atmete tief durch. »Was ist los?«
»Was essen wir zu Abend?«, fragte Faith.
»Du weißt, wo die Vorräte sind«, antwortete Steve.
»Also müssen wir hier kochen?«, bohrte Faith weiter.
»Wir werden mit Sicherheit keine Pizza bestellen«, sagte Stacey. »Sollen wir den Karton mit den Mountain-House-Rationen öffnen?«
»Besser als ein Menü zu kochen, wenn wir kaum aufrecht stehen können.« Steve lächelte. »Denkst du, dass du rausfindest, wie man Wasser kocht?«
»Hier drinnen?«, fragte Faith. »Niemals! Es stürmt!«
»Das ist kein Sturm«, korrigierte Steve. »Im Rahmen unserer Planungen wirst du irgendwann am eigenen Leib erfahren, was das Wort ›Sturm‹ in einem 14 Meter langen Segelboot bedeutet. Das hier ist nicht mal ein Starkwind.«
»Ich schaff das«, mischte sich Sophia ein. »Glaub ich.«
»Nein«, wehrte Steve ab. »Stace, nimm das Steuerrad. Ich werde deinen Töchtern eine Lektion über das Wasserkochen und das Hantieren mit kochenden Flüssigkeiten bei leichtem Wellengang erteilen.«
»Versuch, dich nicht umzubringen, und steck das Boot nicht in Brand«, scherzte Stacey.
»Vielen Dank für das Vertrauensvotum, Erster Offizier.«
»Der Grund dafür, dass die Krankheit sowohl über die Luft als auch durch das Blut übertragen wird, wird jetzt offensichtlich ...«, erklärte Dr. Bao. »Forscher an der University of Hong Kong haben den genetischen Code und eine proteincodierende Gensequenz entschlüsselt. Der Grippevirus produziert zwei verschiedene und eigenständige ›Sprösslinge‹. Einer ist eine Kopie der H7D3-Virusgrippe. Beim zweiten haben wir es mit einer hochgradig modifizierten Variante des Tollwutvirus zu tun ...«
»Zwei Viren in einem?« Dr. Curry beugte sich vor und stellte die Popcorntüte auf den Tisch. »Was zum Teufel?«
»Oh ... oh ... oh ... oh nein ... nein ...«
Tim Shull hatte die SynBio-Version von Tschernobyl in Echtzeit verfolgt und dabei mehrere Quellen parallel überwacht. Tim konnte sich um so etwas kümmern, weil er wirklich nichts Besseres zu tun hatte. Nachdem er aus seinem Master-Programm geflogen war, weil er sich mit Dr. Wirta zerstritten hatte, war er wieder bei Mom eingezogen. Und seit Starbucks seine Arbeitszeit verkürzt hatte, verfolgte er den ganzen Tag verschiedene SynBio-Gremien, Nachrichten und Blogs. Das Ganze glich der virtuellen Beobachtung eines Zugunglücks in Zeitlupe. Und ob die Welt nun unterging oder nicht: So oder so versetzte es der Amateur-SynBio-Branche den Todesstoß.
SynBio lautete die Kurzform für synthetische Biologie, die Erschaffung neuer oder modifizierter Organismen. Der gängigere Ausdruck lautete Gentechnologie. Ein Fachbereich, in dem Tim mittlerweile als ausschließlich im Internet anerkannter Experte galt. Er war bei seinem Berufszweig auf der Überholspur gewesen, als er sich mit dem Betreuer seines Master-Studiengangs verkracht und die Uni verlassen hatte. Anschließend setzte er seine Forschungen buchstäblich im Keller seiner Mutter fort, bis er im vergangenen Jahr einen Durchbruch erzielt hatte. Nach der Veröffentlichung einer Masterarbeit zu diesem Thema hätte man ihn vermutlich mit Preisen überhäuft, wenn nicht sogar den Nobelpreis verliehen. Ein garantierter Doktortitel wäre der Lohn gewesen. Aber nachdem er es auf eigene Faust im Untergeschoss erledigt hatte, erntete er eher spärliche Auszeichnungen.
Bislang hatte er sich darauf beschränkt, ein Video ins Netz zu laden und einen Blog zu schreiben, in dem er seinen Durchbruch dokumentierte. Genau das verschaffte ihm die erwähnte Berühmtheit in der Amateur-SynBio-Community. Obwohl es bei Hobbyforschern schon einige Erfolge gegeben hatte, war seiner der erste wirkliche theoretische Durchbruch. Das bedeutete, dass er unter den Amateur-SynBio-›Pionieren‹ die größte Anzahl von Twitter-Followern hatte und seinen Worten – innerhalb der Community – das gleiche Gewicht zukam wie denen eines ausgewiesenen Experten.
Leider handelte es sich bei seinem Durchbruch ausgerechnet um den Umstand, wie man einen einzelnen Virus dazu brachte, aus sich selbst heraus zwei verschiedene Organismen auszubilden. Und er hatte das Video bei YouTube hochgeladen ...
»Ich bin soooo am Arsch ...«
Von oben erklang ein donnerndes Krachen und er hörte das Schreien seiner Mutter ...
»HINLEGEN! HINLEGEN! HINLEGEN! DAS FBI VOLLSTRECKT EINEN GÜLTIGEN DURCHSUCHUNGSBEFEHL ...!«
Er sah sich um, doch aus diesem Keller gab es keinen Fluchtweg.
»Als Urheber des Pazifischen Grippevirus wurde der 24-jährige Timothy Shull identifiziert, ein Abgänger des Stanford-Master-Programms für Mikrobiologie ...«