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»Wo ist denn der übliche Bürobote?« Die Assistentin des Finanzvorstands entpuppte sich als Dame Mitte 40, die Faith innerlich als ›Lehrergesicht‹ abstempelte.
Faith spielte irgendwie lieber das Mädchen von der Post als die Archivarin. Dadurch blieb sie immer in Bewegung, traf Leute und konnte sich mit ihnen unterhalten. Natürlich wurde sie von der Hälfte der Personen ausgefragt, warum ihre Schwester gegen einen Zombie gekämpft hatte. Sie hatte es aufgegeben, die Sache zu erklären, auch wenn es ihren Stolz verletzte. Und der Daumen tat immer noch höllisch weh – eine weitere Verletzung.
»Ist nicht zur Arbeit aufgekreuzt.« Faith reichte der Frau die nächste Ladung Pakete. FedEx hatte aktuell Probleme mit der Auslieferung. »Geht nicht an sein Handy. H7? Die Stadt verlassen? Wer weiß das schon ...« Auch an diese Frage hatte sie sich längst gewöhnt.
»Oh mein Gott ...« Die Vorstandsassistentin starrte auf ihren PC-Monitor.
»Was?« Faith beugte sich vor.
»Ein Flugzeugabsturz.« Die Frau zeigte auf den Schirm und drehte die Lautstärke etwas höher.
»... Diese Bilder wurden unmittelbar nach dem Absturz mit einem Handy aufgenommen ...«, kommentierte die Stimme aus dem Off. Das Flugzeug war in einem Vorort zu Boden gegangen. Die Ortsmarke lautete ›Bellefonte, PA‹. Man sah eigentlich nur wabernden Rauch und Flammen, konnte nicht einmal ein Flugzeug erkennen. »Nach Meldungen der Luftfahrtbehörde ist einer der Piloten laut abgebrochenem Funkspruch aus dem Cockpit dem H7-Virus erlegen ... Es wurden keine überlebenden Passagiere gemeldet ...«
»Kein Wunder, dass FedEx nicht liefert«, merkte Faith an.
»Sie müssten längst den Impfstoff verteilen«, sagte die Assistentin traurig. »So etwas sollte nicht passieren. Wo bleibt der Impfstoff?«
»Hängt von der Art ab.« Faith hob die Schultern. »Für das Pasteur-Verfahren braucht man infiziertes Material. Das bekommt man nur von höher entwickelten Primaten. Da es in den Vereinigten Staaten nur eine begrenzte Anzahl von Rhesusaffen gibt, dürfte der Vorrat nicht besonders groß sein. Bei dem anderen Verfahren muss man erst Proteine züchten. Das dauert mindestens zwei Monate. Und dann ...«
»Das ist nicht wahr«, schnauzte die Assistentin.
»Welcher Teil?« Faith war verdutzt. »Ich meine, ich habe mit ...«
»Es dauert nicht so lange, den Impfstoff herzustellen! Sie halten uns nur hin, weil die Pharmakonzerne den Preis in die Höhe treiben wollen!«
»Tun sie das?« Faith wusste nicht, was sie sagen sollte. »Laut Dr. Curry muss man die Proteinkristalle herstellen ...«
»Junge Dame.« Die Vorstandsassistentin beruhigte sich ein wenig. »Ich weiß, dass Sie zu wissen glauben, wovon Sie da reden. Aber daran ist die Bush-Regierung schuld, die es der Medizinbranche ermöglicht hat, Riesengewinne mit Medikamenten zu erwirtschaften. Die wissen, dass sie für ihren Impfstoff alles verlangen können, wenn sie noch etwas warten. Und auch dann wird es noch gefährlich sein, ihn einzusetzen. Impfstoffe sind der Grund, warum bei unseren Kindern Autismus und Allergien auftreten, eine weitere Sache, die unter der Bush-Regierung ausgeufert ist. Meiner Meinung nach wurde der Virus von den Pharmakonzernen selbst entwickelt, nur damit sie damit Geld scheffeln können. Sie verdienen derzeit schon Unmengen von Kohle mit den Beruhigungsmitteln für die armen infizierten Menschen.«
»Laut dem FBI und dem CDC ist eine Einzelperson dafür verantwortlich.« Faith beharrte auf ihrer Meinung. »Man hat die Ausbreitung zurückverfolgt.«
»Ihr jungen Leute«, tadelte die Frau. »Ihr glaubt auch alles, was man euch erzählt! Nur weil es im Fernsehen gezeigt wird, ist es noch lange nicht wahr.«
»Okay ... Ich denke, Sie könnten recht haben.«
»Vertrauen Sie mir, ich habe recht«, sagte die Frau. »Ich weiß nicht, wer Ihnen diesen ganzen Unsinn in den Kopf gesetzt hat, aber daran sind definitiv die Pharmakonzerne schuld.«
»Ist gut.« Faith zweifelte weiterhin an der Darstellung der Frau. »Nun, ich mache mich dann besser wieder an die Arbeit. Die restliche Post muss ausgeliefert werden.«
»Ja, das sollten Sie tun.« Die Vorstandsassistentin beachtete sie schon gar nicht mehr.
Faith setzte ihre Runde fort und lieferte pflichtbewusst Pakete in den Büros ab. Man stellte ihr die altbekannten Fragen. Wo ist der übliche Kerl? Ist nicht zur Arbeit erschienen. Geht nicht an sein Handy und nimmt keine Festnetzanrufe entgegen. Wo ist Ihre Schwester dem Zombie begegnet? Ist sie nicht. Nur ein Missverständnis.
Es gab weitere Gerüchte. Jeder fütterte sie mit mindestens einem. Das H7 sei Gottes Urteil über die Welt. In Wahrheit verwandele gar nicht der H7-Virus die Menschen in Zombies, sondern dahinter stecke eine Verschwörung. Dafür durfte man sich einen oder mehrere Kandidaten aussuchen: das Verteidigungsministerium, die Republikaner, die Pharmakonzerne, die Demokraten, Greenpeace oder sogar die Medien, die damit ihre Einschaltquoten nach oben treiben wollten. Bevor sie ihre heutige Tour begonnen hatte, waren ihr Begriffe wie Trilaterale Kommission oder Skull & Bones noch nie untergekommen. Also erklärten sie ihr die Hintergründe. Und wehe ihr, wenn sie die Argumente des Erklärenden anzweifelte. Sie lag natürlich falsch. Alles, was sie von Sophia oder Tom gehört hatte, stimmte nicht. Wollte sie denn immer noch nicht kapieren, dass eine riesige Verschwörung dahintersteckte?
»Hey, Gizelle.« Sie lud die Pakete für Toms Büro aus. »Ist mein Onkel da?«
»Ist er«, antwortete Gizelle. »Kam eben von einem Außentermin zurück.«
»Kann er ein paar Minuten für seine zweitliebste Nichte erübrigen?«
Sie tippte eine Nachricht in ihren Computer, dann nickte sie.
»Geh rein.«
»Hey, Onkel Tom«, grüßte Faith.
»Ich möchte nicht unfreundlich sein, aber kannst du direkt zur Sache kommen?« Tom saß in Jeans und T-Shirt vor dem Computer. Keine typische Kleidung für einen leitenden Angestellten. »Ich bin gerade ein wenig überfordert.«
»Also, wer hat den Zombievirus losgelassen?«, fragte Faith.
»Ein noch unbekannter Akteur.«
»Also nicht die Trilaterale Kommission?«, hakte sie nach.
Tom sah hoch und lächelte.
»Vertraue niemals einem Gerücht, auf gar keinen Fall.« Tom behielt das Lächeln im Gesicht. »War es vielleicht ein organisierter terroristischer Anschlag? Ja. Wem geben sie noch die Schuld? Einflussreichen Bankern?«
»Die haben sie nie erwähnt.« Faith zwinkerte. »Pharmakonzerne, die Bush-Regierung. Eine Organisation namens ›Skull & Bones‹.«
»Wenn du woanders arbeiten würdest, hätten sie es erwähnt.« Tom lehnte sich im Stuhl zurück. »Banken und Broker werden normalerweise als Erste und am häufigsten beschuldigt. Die Blogs sind voll mit Verschwörungstheorien über H7. Und jede Gruppe, die zuvor in einem beliebigen Kontext als Bösewichte gehandelt wurde, wird von einer anderen Gruppe beschuldigt. So gehen die Menschen mit solchen Entwicklungen um. Im Mittelalter schob man die Pest dem Teufel in die Schuhe und tötete die Katzen, um sie loszuwerden. Da sie von den Ratten übertragen wurde, war es das Schlimmste, was sie tun konnten. Aber, nein, keiner von denen, die du genannt hast, steckt dahinter.«
»Das wollte ich den Leuten ja erklären ...« Faith klang verzweifelt.
»Lass es einfach gut sein.« Tom sah sie eindringlich an. »Sie werden dir nicht glauben. Sie glauben nur vertrauenswürdigen Quellen wie einem Kerl in einem Forum, das sie täglich lesen, der behauptet, er sei Forscher beim CDC, obwohl er ein Enzym nicht mal von einer Lyse unterscheiden kann und eigentlich als Hausmeister in einem unbedeutenden Forschungslabor in Peoria arbeitet. Trotzdem vertrauen sie diesem Burschen mehr als sämtlichen Experten, weil es immer auf Zustimmung trifft, wenn man die Mächtigen kritisiert. Also hör einfach zu und ignorier das meiste.«
»Dauert es wirklich zwei Monate, den Impfstoff herzustellen?«, fragte Faith. »Niemand glaubt das.«
»Ich schätze, ich sollte Curry eine einfache Erklärung abgeben und in Umlauf bringen lassen.« Tom machte sich eine Notiz. »Aber es stimmt, soweit ich das verstehe. Die Proteinkristalle brauchen so lange, um auf der Matrix zu wachsen. Dann muss daraus der Impfstoff hergestellt werden. Und dann ist da noch ein gesetzliches Genehmigungsfenster von mindestens vier Monaten, das eingehalten werden muss. Selbst dann ist der Impfstoff noch nicht optimal. Man bekommt ihn selten beim ersten Mal richtig hin. Er wird schädlichere Nebenwirkungen haben als derjenige, der das vollständige Genehmigungsverfahren durchlaufen hat. Doch wenn sie ihn produzieren können, ehe alles zusammenbricht, werden sie ihn trotzdem verteilen. Du weißt schon, weil die Welt auf das Ende zurast.« Er deutete auf seinen Computer.
»Verschwende keine Zeit mit sinnlosem Streiten. Wenn sich etwas wirklich relevant anhört, erzähl es mir.« Tom schaute sie erneut an. »Noch was?«
»So ziemlich jeder weiß, dass die Bank einen Impfstoff hat.« Faith wurde nervös. »Manche sagen, er stamme von Affen. Andere behaupten, er stamme von Menschen.«
»Das Schöne an diesen haarsträubenden Gerüchten, die hier die Runde machen, ist, dass es sich dabei nur um weitere Gerüchte handelt.« Tom biss sich auf die Unterlippe. »Gut, weitere Fragen?«
»Nein.« Faith hörte sich definitiv nicht besonders glücklich an.
»Wenn ich nicht erst in aller Herrgottsfrühe nach Hause komme, unterhalten wir uns später weiter.« Tom hob den Zeigefinger. »Und du gehst keine Zombies jagen!«
»Hab ich schon, kommt nicht noch mal vor.« Faith zeigte ihm den lädierten Daumen. »Davon hab ich genug, bis ich eine Schrotflinte einsetzen darf. Taser sind Scheiße.«
»Ich danke dir für dieses kleine Treffen.« Tom wies mit beiden Händen auf die Tür. »Jetzt muss ich eine Schiffsladung voll Arbeit erledigen. Und du solltest ebenfalls eine Wagenladung davon auf dem Tisch haben.«
»Eigentlich bin ich fast fertig«, wiegelte Faith ab. »Jedenfalls mit dieser Ladung.«
Faith lieferte ihre letzten Pakete ab und steuerte anschließend auf den Fahrstuhl zu. Schon der Weg zur Poststelle glich einer Qual. Die Bank of the Americas belegte nicht das gesamte Gebäude, sondern nur die oberen 15 Etagen. Die Poststelle hingegen befand sich im Keller. Faith konnte sich für große Höhen nicht recht begeistern und wurde bei jedem Gang zum Fahrstuhl von Neuem daran erinnert.
Als sie sich der offenen Kabine näherte, standen dort drei weitere Menschen. Sie warteten, dass die Gruppe im Aufzug herauskam. Mit einer gemurmelten Entschuldigung schob Faith ihre Sackkarre in die Ecke.
»Wo ist der übliche Postbote?«, fragte einer der Männer. Er trug ein BotA-Poloshirt und eine lange Hose. Faith hatte gelernt, dass es sich dabei um die Uniform der mittleren Führungskräfte handelte. Seinem Aussehen nach stufte sie ihn als IT-Mitarbeiter ein.
»Ist nicht zur Arbeit erschienen«, erwiderte Faith. »Geht auch nicht ans Telefon.«
»Diese Einstellung verbreitet sich wie Ausschlag«, empörte sich der Kerl.
»Sie verhalten sich, als sei das ein Witz!«, schnauzte eine Frau. Kleidung und Alter nach zu urteilen, arbeitete sie wohl als Sekretärin oder Schreibkraft. Mitte 20 und so angezogen, dass sie ihre optischen Reize optimal zur Schau stellte. Sie packte den Manager am Hemdkragen. »Es geschehen schlimme Sachen!«
»Hey!« Der Kerl wollte sie beruhigen. »Regen Sie sich ab.«
»SIE regen sich jetzt ab!«, kreischte die Frau. Dann begann sie, sich hektisch an den Armen zu kratzen. »WAS KRABBELT DA AN MIR RUM? WAS KRABBELT DA AN MIR RUM?« Sie zog sich schnell und mit geübten Bewegungen aus.
»Oh, nein, nein, nein, nein, NEIN«, stammelte Faith. »Beruhigen Sie sich! Fangen Sie jetzt nicht so an!«
Die Frau kreischte und riss sich in einer Tour die Kleider vom Leib, während die beiden Männer vor ihr zurückwichen.
»ZOMBIE!«, schrie Faith. Sie hatte nicht einmal den Gummiknüppel dabei, daher trat sie der Frau in den Bauch, sodass diese zusammenknickte. Faith stemmte die Sackkarre in die Höhe und ließ sie auf den Kopf der Frau krachen, was diese zu Boden gehen ließ. Leider war die Karre nicht besonders schwer und schaffte es nicht, die Sekretärin bewusstlos zu bekommen. In einem Wust aus nicht zugestellten Paketen und internen Memos sprang sie zurück auf die Beine.
Die Frau kreischte wieder und stützte sich auf Faith, die keinerlei Platz zum Ausweichen hatte. Faith schob ihr den Arm unters Kinn und presste den zuschnappenden Mund nach oben und von sich weg, packte die Lady mit einer fließenden Bewegung fest am Handgelenk. Aus dieser Position gelang es ihr, sich unter dem Arm der Erwachsenen durchzuwinden und sie in einen Würgegriff zu nehmen. Der Zombie trug noch immer Stöckelschuhe, wenn auch kein Hemd und keinen BH mehr. Als die Tür des Aufzugs zur Seite glitt, stolperten beide in den Flur. Die auf den Fahrstuhl wartenden Personen stoben erst auseinander, dann traten einige von ihnen um die kämpfenden Frauen herum und stiegen in den Aufzug, während anderen scheinbar spontan einfiel, dass es noch andere Orte gab, an denen sie lieber wären. Der IT-Kerl huschte aus dem Lift und rannte in eine mehr oder weniger vom Zufall bestimmte Richtung.
Faith stand plötzlich vollkommen allein im Gang und kämpfte mit einem Zombie.
»Ich danke euch allen für die Hilfe und Unterstützung!«, brüllte sie. Für seine Größe war der Zombie unglaublich stark. Faith spürte bereits, wie ihr die Kräfte ausgingen, während sie versuchte, die Frau zu kontrollieren. »KÖNNTE JEMAND BITTE DIE SECURITY RUFEN?«
»Ich dachte, Sie wären die Security?« Eine Frau hob den Kopf aus ihrer Arbeitsnische. Faith bemerkte, dass sie inzwischen nicht mehr allein war, sondern eine Traube von Menschen anlockte.
»ICHBINDIENEUEPOSTBOTIN!«, brüllte Faith barsch und ohne Luft zu holen, während der wild um sich schlagende Zombie sie durch den Gang rollte. »ALARMIERENSIEDIESECURITY!«
»Da wird ein Kampf mit einem Zombie im 31. Stockwerk gemeldet.« Durante überprüfte den Alarmcode. Die Doppelbelastung durch den BERT-Job und seine reguläre Arbeit laugte ihn langsam aus. Und dies war heute bereits der neunte Zombie-Alarm. Allein sechs davon hatten sich als Falschmeldung entpuppt.
»Das bedeutet zwei Zombies.« Kaplan erhob sich. »Ich nehme mein Team mit.«
»Faaaith!« Kaplan stand mit den Händen an den Hüften im Gang. »Dein Onkel hat dir doch bestimmt verboten, weiter auf Zombiejagd zu gehen!«
»Sie hat sich in dem verschissenen Aufzug vor meinen Augen verwandelt!« Faith fluchte. Sie hatte die Frau endlich in einem Griff, bei dem sie sich nicht mehr zwischen den Arbeitsnischen hin- und herrollen konnte, hatte die Beine um die Frau eingehakt und drehte ihr einen Arm auf den Rücken. Ganz zu schweigen von dem anscheinend völlig nutzlosen Würgegriff. Faith war von all der Hilfe, die ihr zuteilwurde, wenig beeindruckt. Es gab nämlich schlicht und ergreifend keine. »SCHICKT SIE EINFACH SCHLAFEN!«
Kaplan beugte sich dienstbeflissen nach unten und rammte einen Injektor mit Beruhigungsmittel in den Oberschenkel der Frau.
»Siehst du, so funktionieren diese Teile.« Kaplan zeigte ihr den Injektor. »Am roten Ende kommt die Nadel raus.« Er nahm einem der beiden anderen Wachmänner, der eher amüsiert reagierte, den Elastanbeutel aus der Hand und stülpte ihn der Frau über den Kopf. »Und jetzt ist sie auch nicht länger bissig.«
Als die Frau erschlaffte, drückte Faith sie von sich weg, rollte sich über die Schulter ab und kam auf die Beine.
»Hoffentlich habe ich keine Verletzungen.« Sie sah an sich herab. »Du weißt schon, außer dem Loch in meinem Daumen. Ich habe ihr meine Sackkarre über den Schädel gezogen, aber das hat sie nicht aufgehalten. Dann hat sie mich wegen der Platzwunde an ihrem Kopf von oben bis unten vollgeblutet.«
»Wir bringen dich besser zur Dekontaminierung.« Kaplan wurde ernst. »Ich wusste nicht, dass es so schlimm ist.« Überall an Faiths Körper klebte Blut.
»Ich habe über ein Problem nachgedacht«, sagte Faith.
Die Entgiftungsdusche erwies sich zu ihrer Überraschung als ganz normale, komplett verflieste Dusche. Mit Wasser, das komisch roch und seltsam schmeckte. Man hatte ihr aufgetragen, sich gründlich mit Seife abzuschrubben, damit hatte es sich aber auch schon erledigt. Kaplan hatte ihr Desinfektionsmittel auf den Daumen gespritzt, mal wieder, was immer das auch helfen mochte.
»Und was ziehst du jetzt an?«, fragte die weibliche Sicherheitsbeamtin, die man eigens für sie abgestellt hatte.
»Außer den Sachen am Körper hatte ich keine andere Kleidung bei mir«, erklärte Faith.
»Ein Hinweis für die Zukunft, wenn du mal älter bist: Ich finde es immer nützlich, wenn ich mir genau überlege, welche Sachen ich mir anziehe, bevor ich sie ausziehe. Nur so als Tipp.« Die Stimme der Wachfrau klang amüsiert.
»Sehr witzig«, gab Faith zurück. »Meine Kleidung ist mit Zombieblut getränkt. Ich konnte sie nicht schnell genug abstreifen.«
»Das hab ich mitbekommen«, sagte die Wachfrau. »Ich werde mal sehen, ob wir einen Satz Dienstkleidung in deiner Größe haben.«
»Die mittlere Größe für Männer passt meistens.« Faith seufzte. Was konnte sie denn dafür, dass sie unter Gigantismus litt?
»Ich werde sehen, was sich machen lässt ...«
»Gesetzt den Fall, dass ich keine Zombieitis habe und überhaupt mal älter sein werde«, fügte sie leise hinzu.
Steve griff nach seinem Telefon, als er Toms Klingelton hörte. Es wurde langsam Zeit für den täglichen Kontrollanruf. Bisher hatte es keine nennenswerten Zwischenfälle gegeben.
»Hey, Tom, wie läuft’s ...? Äh-aha ...«, sagte er wertfrei. »Klar ... okay ... Wie geht es ihr?«
Als Stacey das »Wie geht es ihr?« vernahm, schob sich ihr Kopf hinter dem Tablet hervor.
»Okay ... Und wie ist das passiert?« Es gab eine lange Pause. »Bleib mal dran, Stacey fallen schon die Augen aus dem Kopf.« Er sah sie an und verzog missmutig das Gesicht. »Faith ist an einen Zombie geraten. Anscheinend nicht das erste Mal. Das haben uns alle gewissenhaft verschwiegen. Sie hat sich ... vielleicht infiziert.«
»Oh mein Gott.« Stacey stand auf. »Ich muss an Land!«
»Tom, du bist mein Bruder. Und Gott weiß, dass ich selbst schon einiges getan habe, was ...« Pause. »Einverstanden. Aber ich will dich noch mal daran erinnern, was du uns versprochen hast. Wie zum Teufel passt das zu deinem ›Ich versichere dir als ihr Onkel, dass sie während ihres Aufenthalts auf der Insel in Sicherheit ist‹ ...?« Er schwieg eine Weile, dann nickte er. »Okay. Einverstanden. Ja, es handelt sich schließlich um Faith. Ja, ich weiß. Genau ... So ist sie nun mal. Stacey will an Land gehen. Gibt es eine Möglichkeit ...? Okay. Verstanden. Klar. Wiedersehen.«
»Er schickt ein Boot rüber«, sagte Steve. »Mit Sicherheitspersonal für dich. Sie sind im Apartment. Ich denke, du kannst dort übernachten. Es gibt noch keine Ausgangssperre, aber du willst wahrscheinlich nicht in der Dunkelheit herumlaufen.«
»Was ist passiert?«, fragte Stacey.
»Ich ... denke, ich überlasse Faith die Erklärungen«, schob Steve die Verantwortung von sich. »Offenbar hat Tom versucht, sie von der Zombiejagd abzubringen, und dabei komplett versagt. Als sie es endlich aufgegeben hatte, verwandelte sich eine Sekretärin im Aufzug neben ihr in einen Zombie. Faith wurde nicht gebissen, aber sie hatte das Blut am ganzen Körper und außerdem einige Wunden von vorangegangenen Kämpfen. Daher haben sie Angst, dass sie sich angesteckt hat. Die gute Nachricht lautet, dass man ihr vorher den Impfstoff verabreicht hat, daher hoffen sie, dass sie wegen des geringfügigen Infektionsrisikos und der Impfung durchkommt. Sie hoffen.«
»Ich habe schon gepackt.« Stacey zögerte. »Das bedeutet, dass du ganz allein auf dem Boot Wache schieben musst ...«
»Das schaff ich schon«, versicherte Steve. »Ein paar schlaflose Nächte halt ich aus. Danken wir Gott für den Kaffee, solange es noch welchen gibt.«
»Es gibt gute und schlechte Nachrichten«, verkündete Dr. Curry.
Sie hatten Kleidung in Faiths Größe gefunden. Und auch Kampfstiefel. Faith wollte sich ab sofort immer so anziehen. Scheiß auf die Straßenklamotten.
»Lassen Sie uns nicht im Unklaren«, drängte Tom.
»Ihr Bluttest ist positiv in Bezug auf die Antikörper ausgefallen, aber ...« Er hob die Hand, um etwaigen Einwänden zuvorzukommen. »... das wäre sowieso der Fall gewesen. Sie hat den Primer-Impfstoff bekommen. Das bedeutet wahrscheinlich, dass sie wegen der Immunisierungsspritze in ihrem Blut sind. Aber sie könnte einen guten Schuss D4T6 erwischt haben ...«
»Was?«, wunderte sich Faith.
»Das ist die neue Bezeichnung für den Betaexpressor-Virus«, klärte Sophia sie auf. »Anders ausgedrückt: der Zombievirus.«
»Oh.«
»Daher beschreiten wir die vollständige Pasteur-Linie.« Dr. Curry hielt eine Spritze in die Luft. »Das ist der Primer. Noch einmal. In zwei Tagen hättest du den Booster erhalten. Wir verabreichen dir nun zwei Wochen lang täglich einen Schuss Primer oder Booster. Das sollte dein System angemessen ankurbeln, selbst wenn du dir bei deiner Rauferei eine Virusladung eingefangen haben solltest. Und wenn wir deinen Körper mit dem attenuierten Virus vollpumpen, zwingen wir dein Immunsystem zu einer Reaktion. Hoffentlich schneller, als der Virus dich übernehmen kann. Wir erhöhen auch die Dosis deiner Kaliumpräparate, pumpen dich mit Virostatika voll, auch wenn sie nur eine beschränkte Wirkung haben, und geben dir B-12, um dein Immunsystem anzustoßen.«
»Und du musst hier in Quarantäne gehen«, fügte Tom hinzu. »Der Raum ist einigermaßen komfortabel, aber es ist, seien wir ehrlich, eine Zelle. Wenn du dich bis morgen noch nicht verwandelt hast ...«
»Okay«, wimmerte Faith. Sie blickte sich um. Außer ihnen vier hielt sich niemand in Toms Büro auf. »Ist es in Ordnung, wenn ich über ›Du weißt schon, was‹ rede?«
»Ja«, sagte Tom.
»Wenn ich mich verwandle, möchte ich, dass ihr Impfstoff aus mir macht.« Faith blickte zu Boden. »Auf diese Weise erspare ich anderen Menschen ein ähnliches Schicksal.«
»Dazu wird es nicht kommen.«
»Onkel Tom ...«, sagte Faith mit erstickter Stimme.
»Ich weiß, was du denkst.« Tom hob die Hand. »Aber du wirst dich nicht verwandeln. Auf gar keinen Fall. Das lassen wir nicht zu.«
»Wenn es aber doch passiert?« Faith traten Tränen in die Augen.
Sophia beugte sich zu ihr hinunter, zog sie heran und umarmte sie.
»Ich werde es selbst tun.« Sophia schnürte es die Kehle zu. »Und wir werden den Impfstoff für ganz besondere Menschen aufheben.«
Faith schluchzte. »Vielen Dank.«
»Okay«, ging Dr. Curry dazwischen. »Wenn wir das jetzt abhaken können, sollten wir anfangen.«
Faith stand auf und krempelte einen Ärmel hoch.
»Los jetzt, Doc, versetzen Sie mir einen Schuss ...«
»Wie fühlst du dich?«
Durante und Kaplan hatten sich trotz all ihrer zusätzlichen Pflichten freiwillig gemeldet, um auf Faith aufzupassen.
»Wie eine Ratte in der Falle«, antwortete das Mädchen.
Die Zelle war nicht besonders klein oder unbequem, aber eben doch eine Zelle.
»Und wenn ich gehen muss, solltet ihr euch besser nicht meine Verwandlung ansehen«, schob sie hinterher. »Müsst ihr mich wirklich die ganze Zeit über auf Video aufnehmen?«
»Das ist für die Wissenschaft«, erklärte Durante. »Ernsthaft. Wenn du dich verwandelst, können die Fachleute das Krankheitsbild genauer studieren.«
»Wer genau?«, entrüstete sich Faith. »Falls ihr es vergessen habt, das wäre Kinderpornografie. Denn Zombies, na ja, die machen sich nackig.«
»Du bist bei YouTube nicht auf dem Laufenden«, klärte Durante sie auf. »Das FBI hat es aufgeben, die ›Nackte-Zombiemädchen‹-Videos zu überwachen. Die sind längst überall. Und in diesem Fall käme es wirklich der Wissenschaft zugute.«
»Das ist nutzlos«, beharrte Faith. »Ich kann euch den Verlauf der Krankheit beschreiben. Man wird richtig wütend und bissig, dreht durch und reißt sich die Kleidung vom Leib. Dann ist klar, dass man es mit einem Zombie zu tun hat.«
»Oder mit einer meiner Exfreundinnen«, witzelte Durante. »Tut mir leid. Geschmackloser Joke.«
»Keine große Überraschung, wenn man weiß, von wem er kommt«, konterte Faith. »Ich brauche was zum Lesen. Ein Tablet. Irgendwas.«
»Ich hab ein paar technische Handbücher«, schlug Durante vor. »Vielleicht möchtest du eins über die korrekte Handhabung von Injektoren lesen, wie wär’s damit?«
»Sehr witzig, Durante ...«
»Oooh.« Faith schleuderte die Decken zur Seite. Sie hatte Shorts und ein T-Shirt angezogen, während Tom aufpasste, dass ihr niemand dabei zusah. Ihre Klamotten waren schweißnass. »Durante? Wer ist da draußen?«
»Kaplan.«
»Ich bin krank«, sagte Faith. »Ich verglühe. Kann ich ein Aspirin oder so was haben? Und noch ein paar Flaschen Wasser?«
»Ich hole einen Sanitäter«, entschied Kaplan. »Wie sieht es mit Formikatio aus?«
»Bin ich dafür nicht noch etwas zu jung, Kaplan?«
»Formikatio.« Kaplan betonte jede einzelne Silbe. »Juckreiz auf der Haut? Fühlt es sich an, als ob Insekten auf dir krabbeln?«
»Ja.« Faith schauderte. »Ich weiß, was du meinst. Ein wenig. Die meiste Zeit über fühle ich mich aber einfach nur hundeelend.«
»Ein Pfleger ist schon auf dem Weg ...«
»Bitte beiß mich nicht«, bettelte der junge Mann. Er trug zur Sicherheit einen Schutzanzug.
Er prüfte Blutdruck und Puls und dann noch ihre Temperatur. Die Ergebnisse schienen ihn nicht gerade zu begeistern.
»Ich werde mein Bestes tun«, versprach Faith. »Aber da ist kein großer Unterschied zwischen Zombie-irrational und wie ich mich verhalte, wenn ich krank bin. Lassen Sie einfach alles bleiben, was ich nicht leiden kann, und ich versuche, keine Fleischbrocken aus Ihnen rauszurupfen, um drauf rumzukauen.«
»Ich rufe Dr. Curry und Dr. Simmons«, beschloss der Pfleger. »Deine Temperatur beträgt 40,6 Grad. Das ist nicht gut. Spürst du ein Jucken oder kommt es dir so vor, als ob Käfer auf deiner Haut krabbeln?«
»Formikatio.« Faith erinnerte sich an Kaplans Worte. »Juckreiz, aber ich hab generell trockene Haut. Mich juckt es ziemlich oft. Vielleicht gerade schlimmer als normal. Weiß nicht. Mir geht’s jedenfalls beschissen.«
»Wenn ich noch in der EDC-Station arbeiten würde, hätte ich dich jetzt unter eine lauwarme Dusche gestellt.« Der Pfleger überlegte kurz. »Mal sehen, was die Ärzte davon halten ...«
»Ich dachte, Sie hätten behauptet, diese Dusche wäre lauwarm!«, kreischte Faith. Das Fieber hatte sich in Schüttelfrost verwandelt und die kalte Dusche trug nicht gerade zur Besserung bei. »Ich er-f-f-frie-re ...«
Faith konnte sich kaum daran erinnern, wie sie zurück in die Zelle gekommen war. Die Mistkerle wollten ihr nicht einmal zusätzliche Decken geben, weil »die Temperatur nicht sprunghaft ansteigen darf«.
»Ich will kein Zombie sein ...«, stöhnte sie. »Aber ich möchte gern sterben ... jetzt, bitte ... Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt ...«
»Faith, Schätzchen ...?«
»Mom?«, wunderte sich Faith. Sie hatte einen sehr lebhaften Traum gehabt und förmlich miterlebt. Eine gewaltige Schlacht als Ritter auf einem Pferd. Inzwischen wusste sie selbst nicht mehr so recht, was Realität und was Halluzination gewesen war.
»Oh, warte.« Sie setzte sich auf. Ihre Mutter trug einen Schutzanzug. »Du bist echt.«
»Warum sollte ich nicht echt sein?« Stacey setzte sich auf das Bett.
»Ich dachte, ich halluziniere.« Faith rieb sich die Augen. »Du solltest nicht hier sein. Was, wenn ich zombifiziere?«
»Es ist ziemlich schwer, jemanden durch einen Schutzanzug zu beißen«, erwiderte Stacey. »Du kommst schon wieder in Ordnung. Konzentrier dich darauf.«
»Ja, du willst sicher nicht bekommen, was ich habe.« Faith sah ihre Mutter an. »Zombie oder nicht. Ich hab mich noch nie so mies gefühlt.«
»Alles kommt in Ordnung, Süße.« Stacey wiegte sie in den Armen. »Alles wird gut.«
»Mom ...«, sagte Faith. »Wenn du so flennst, verdirbst du damit das ganze ›Alles wird gut‹-Gerede.« Sie stockte und schaute sich hektisch um. »Ich glaub, ich muss kotzen ...«