13
Knoxville, Tennessee, Sol III
2200 EDT, 28. September 2014
Das titanische Geschütz stieß einen Flammenschwall aus, und das war dann auch alles. Das Geschoss hatte den Lauf viel zu schnell verlassen, als dass ein menschliches Auge ihm hätte folgen können.
Der Hauptbildschirm allerdings war mit einem Kamerasystem verbunden, das das Projektil auf seinem Flug verfolgte, und alle seufzten erleichtert auf, erleichtert darüber, dass sie noch da waren. Neben dem Bild konnte man auf einem Zifferblatt den Zeitraum zwischen Abschuss und Detonation ablesen. Das Geschoss war insoweit »intelligent«, als es seinen jeweiligen Standort und den Punkt, wo es seine tödliche Last ablud, präzise bestimmte, und Letzterer war bereits auf der Anzeige zu erkennen. Unmittelbar nach dem ersten Ausstoß von Sub-Munition begann ein Detonationszähler zu ticken.
»Sieben, sechs…«, sagte Castanuelo. »Verdammt, ich hätte draußen sein wollen, um mir das anzusehen!«
»Könnten wir es denn sehen?«, fragte Präsident Car-son.
»Das werden die in Pennsylvania sehen!«
Horner klappte plötzlich einen Metallbehälter auf und riss sein AID heraus. »O'Neal! Treffer in… einer Sekunde!«
Als O'Neal die Warnung hörte, zuckte er bloß die Achseln, so gut ihm das in seinem Panzer möglich war. Schließlich war er schon… Herrgott, er konnte es gar nicht mehr zählen… wenigstens fünfmal von Nukes durch die Gegend geschleudert worden. Ganz zu schweigen davon, dass er von einer Explosion von beinahe atomarer Stärke unter einem Gebäude begraben worden, von einem SheVa-Geschütz überfahren – zweimal bei diesem Einsatz – und schon verschiedene andere unangenehme Erlebnisse in seinem Anzug hinter sich gebracht hatte.
Und dann war da noch dieses arme Schwein Buckley, auf den ein ganzer Weltraumkreuzer gefahren war.
Auf Ground Zero von einer 2-Mt-Nuklearexplosion fünf Meter tief unter der Erde begraben zu sein, war keineswegs das Schlimmste, was er bisher erlebt hatte. In mancher Hinsicht war es sogar fast beruhigend.
»Geht klar«, sagte er und schaltete auf die interne Frequenz. »Bataillon, Einschlag erledigt.«
Ein kurzzeitiges Poltern war zu hören, hochfrequente Bodenerschütterungen, die dem Aufprall vorausgingen, aber weniger als eine Sekunde nach dem ersten Zittern, begann der Boden rings um O'Neal Krämpfe zu bekommen. Sie dauerten vielleicht fünf Sekunden und fühlten sich etwa so an, wie wenn man mit einem Jeep über unwegsames Gelände fährt, und dann war es vorbei.
»War's das?«, fragte jemand auf der allgemeinen Frequenz.
»Grandpa?«, sagte Cally benommen und musterte den Fremden.
»Yeah, Süße«, erwiderte er und trat einen Schritt vor und zerzauste ihr das Haar. »Ich bin's wirklich. Irgendwie. Glaub ich.«
»Aber du … ich dachte …«
»Tot?«, schnaubte er.
»Äh, ja.«
»Na ja, hier gibt es einen Ich … Tph… na, eben eine Krabbe, der das besser erklären kann. Im Grunde genommen sehen die Galakter den Tod nicht so als eine Sein-Nicht-Sein-Sache an, wie wir Menschen ihn wahrnehmen.«
»Also was ist, warst du oder warst du nicht?«, fragte Cally ärgerlich.
»Cally, Prinzessin?«
»Oh. Dann warst du also ›überwiegend tot‹.«
»Bingo. Ich denke schon, dass ich flachgelegen habe, wenn du das meinst. Aber die Himmit waren rechtzeitig da, um mir Hiberzine zu spritzen, und dann hat mich diese Krabbe hier… na ja, sagen wir, wieder in Gang gebracht.«
Cally starrte ihn erneut an und schüttelte dann den Kopf. »Dann bist du also du?«
»Ja, ich denke schon«, sagte Papa und zuckte die Achseln. »Ich denke, in meiner Erinnerung gibt es ein paar Löcher. Aber jünger bin ich. Stark. Es fühlt sich… erstaunlich gut an.«
»Ha, da bist du nicht der Einzige!«, sagte Cally. »Du solltest mal Shari sehen. Ich wette, da würde dir die Hose aufgehen.«
»Shari?«
»Das ist eine lange Geschichte. Ganz habe ich sie nicht verstanden. Aber die haben jedenfalls überlebt und sind aus der Urb rausgekommen.«
Papa O'Neal nickte und runzelte dann die Stirn. »Aus der Urb? Überlebt?«
»Du wusstest nicht, dass die Franklin Urb hinüber ist?«, fragte Cally. »Oder dass die Posleen im ganzen Tal rumwimmeln?«
»Ich war die letzten paar Tage weg. Was läuft denn?« Er sah sich in dem engen Raum um und musterte das Cyber-Team, das gerade angefangen hatte, sein Gerät zu verstauen. »Und was ist mit denen da, sind das weiße oder schwarze Hüte?«
»Weiße, denke ich«, sagte Cally. »Und wir kriegen gleich ein Nuke aufs Dach…«
»Oh Scheiße«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Schon wieder eines?«
Etwas an der Art und Weise, wie er das sagte, ließ Cally kichern, und dann konnte sie sich plötzlich vor Lachen nicht mehr halten, lachte und weinte gleichzeitig, hielt sich die Seiten und konnte einfach nicht mehr aufhören. »Yeah…«, stieß sie nach fast einer Minute heraus, wischte sich die Tränen aus den Augen und den Schleim, der ihr aus der Nase rann. »Schon wieder eines.« Und noch während sie das sagte, fing der Boden unter ihr zu poltern an.
Pruitt bugsierte das Munitionspack aus den Eingeweiden des Geschützes heraus und schwang es zu Metal-Storm Neun hinüber. Neun hatte es irgendwie geschafft, schneller als die anderen zu feuern und war jetzt ohne Munition. Es würde einige Mühe kosten, mehr davon nach oben zu befördern, und das noch dazu schnell.
Besonderen Spaß machte das nicht. Die Posleen hatten die MetalStorms entdeckt und bemühten sich, diesen neuen, lästigen Feind auf große Distanz unter Beschuss zu nehmen. Deshalb waren sie ständigem Beschuss aus Railguns und Plasmawaffen ausgesetzt, und es flogen fortwährend HV-Projektile über sie hinweg. Andererseits war er sich in dieser Höhe ziemlich sicher, die beste Aussicht über das ganze Geschehen zu haben. Und es war wirklich ein verdammt interessanter Anblick; die Schlacht war äußerst intensiv.
Die Infanterie hatte sich auf beiden Seiten wieder in Stellung begeben, wenn auch in einiger Distanz, und man konnte im Zwielicht die rote Leuchtspurmunition sehen, die durch die Dunkelheit zuckte, traf oder verschwand und schließlich in der Ferne unsichtbar wurde. Der ständige Regen von Artilleriebeschuss war natürlich faszinierend. Und dann eröffneten in Abständen die MetalStorms den Beschuss und spien flüssiges Feuer ins Tal. Und die Posleen füllten die Luft die ganze Zeit über mit Plasmaströmen.
Wirklich spektakulär.
Während er dies dachte, veranlasste ihn ein greller Blitz zu seiner Rechten über den Bergen, vom Bildschirm aufzublicken. Noch ehe er den Kopf heben konnte, füllte sich der ganze Horizont hinter den Bergen mit grellem Weiß, flackernd wie von Stroboskopen, als ob jemand Scheinwerfer, so groß wie ein ganzer Staat, ein- und ausgeschaltet hätte, und hüllte das ganze Tal beinahe vier Sekunden lang in ein Licht so hell, als wäre es Tag.
Er hob den Arm, um sich vor dem grellen Licht zu schützen, aber da war es bereits zu spät. Jede einzelne Explosion war ein atomarer Feuerball, und in dem stetigen Strom von Blitzen konnte er Pilzwolken in den Himmel steigen sehen, die sich bereits ausbreiteten, als das letzte Licht verlosch. Es war, als wäre die Welt im Süden von einer Sonne verschlungen worden und dann wieder schwarz geworden.
»Du großer Gott«, murmelte er, und das Wasser trat ihm in die Augen, als der Boden bebte und das SheVa hin und her schwanken ließ. »Ich glaube, ich muss mir eine neue Definition für ›spektakulär‹ einfallen lassen.«
Er setzte sich hin und schüttelte den Kopf, versuchte, seine Nachtsicht zurückzugewinnen, zum Teufel, irgendeine Sicht, und gab es schließlich auf.
»Du großer Gott.«
Cally hörte auf zu lachen, als das Poltern verstummte, und sah dann ihren Großvater grinsend an. »Also, wie ist's, gibt's in dieser Blechkiste Spielkarten?«
»Als ob ich zu allem Überfluss auch noch Geld verlieren müsste.« Papa O'Neal grinste zurück. »Verdammt, Enkeltochter, es tut wirklich gut, dein Gesicht wieder zu sehen.«
In der Höhle führten die Erschütterungen dazu, dass die Containerwand sich hochwölbte und Billy aus Sharis Armen glitt. Dann trat wieder die Stille des Grabes ein.
»AUF, AUF, MARSCH; MARSCH!«, brüllte O'Neal über die Bataillonsfrequenz. »Wir holen uns den Pass.«
Er ließ den Worten Taten folgen, scharrte das Erdreich über sich weg und stieß mit den Füßen nach unten. Bis oben waren es nicht einmal fünf Meter, aber er brauchte trotzdem Zeit und fürchtete zudem, dass sie diese Zeit vielleicht gar nicht hatten. Schließlich sah er über sich Licht und schob den Kopf hinaus, blickte auf totale Verwüstung.
So weit das Auge reichte, und das war vom Rand des Berges ein gutes Stück, war da nichts als blanker Boden. Kein Baum, kein Strauch, kein Haus, kein Fetzen Vegetation hatte überlebt; das titanische Feuer hatte das Erdreich einfach weggebrannt.
Er schüttelte den Kopf, sah auf seine Strahlungsmonitore und wurde blass. Die Anzüge konnten vierhundert REMs pro Stunde überstehen, aber einen Menschen würde die Strahlung sofort töten. Oder, zum Teufel, sogar die meisten Küchenschaben.
Allmählich begann der Staub sich zu legen; der Mond kam wieder heraus und schien auf das Gelände, aber an dem Mondlicht war etwas Seltsames. Im Mondlicht war alles grau, selbst nachdem die Bildsysteme der Anzüge sich eingeschaltet hatten, die alles auf Tageslichtäquivalent brachten. Es war hell, aber nur in schwarzen und grauen Schattierungen. Aber da war trotzdem etwas…
Er legte einen Schalter um, und sein Anzug projizierte einen Lichtfleck auf die glatt gefegte Granitfläche zu seinen Füßen. Er fluchte, ließ das Licht im Kreis wandern und ging dann von seinem Loch weg, sah auf den Boden und fluchte erneut.
»General Horner, hier O'Neal.«
»Ich freue mich, Ihre Stimme zu hören, alter Freund«, sagte der General. »Wie ist's denn gelaufen?«
»Wir waren unter der Erde«, erwiderte O'Neal. Horner konnte das Achselzucken des anderen fast über die Funkverbindung hören. »General, diese Bombe, die da gerade detoniert ist. Wo, sagten Sie, kam die her?«
»Knoxville«, erwiderte Horner verblüfft. »Warum?«
»Ich meine, wo ist sie entwickelt worden?«
»In Oak Ridge«, sagte Horner. »Und an der University of Tennessee. Warum?«
»Ja, das passt.« Eine kurze Pause. »Ich dachte nur, Sie sollten wissen, dass Rabun County jetzt orange ist.«
»Was?« Horner dachte einen Augenblick lang nach. »Der Boden…«
»Nein, General. Der Boden, die Felsen, die beschissenen Berge. Alles ist orange. Und nicht ›internationales Notsignal-Orange‹, Boss. Ein viel röteres Orange.«
Homers Gesicht verzog sich zu einem gewaltigen Grinsen, als er zu Dr. Castanuelo hinübersah. Der Wissenschaftler hatte gerade eine Dose Kautabak aus der Hüfttasche gezogen und las über die Schulter eines Technikers etwas von einem Bildschirm ab. Er hatte eine Baseballmütze mit der Aufschrift University of Tennessee auf dem Kopf und steckte in einer Windjacke, auf der UT Volunteers stand. Beides in auffälligem Orange.
»Das hat man davon, wenn man Rednecks mit Antimaterie spielen lässt, Boss«, sagte O'Neal.
Horner sparte sich den Hinweis auf den Geburtsort des Wissenschaftlers. Für ihn stand außer Frage, dass der Mann, der soeben den halben Norden Georgias mit den Farben von dessen bitterstem Football-Rivalen überzogen hatte, durchaus als »Hightech Redneck« bezeichnet werden konnte.
»Dr. Castanuelo«, sagte er mit einem strahlenden Lächeln, bei dem alle seine Zähne aufblitzten, »könnte ich Sie bitte einen Augenblick sprechen?«
Gleich nachdem Pruitt wieder hatte sehen können, hatte er sich daran gemacht, wieder Munition für die MetalStorms heranzuschaffen. Dazu konnte er Scheinwerfer einsetzen, darunter auch einen mächtigen Spot, der die ganze Oberseite des SheVa taghell beleuchtet hätte. Aber so wie die Dinge lagen, wollte er sich nicht unbedingt mehr als absolut nötig zur Zielscheibe machen.
Zum Glück war das Ladesystem, das die Reparaturleute des SheVa-Teams installiert hatten, die Einfachheit selbst, und der Kran von Neun verfügte sogar über einen automatischen Greifer, der auch funktionierte, ganz im Gegensatz zu dem System, mit dem Pruitt in der Ausbildung gearbeitet hatte. Er brauchte die Packs also nur aus der Luke zu ziehen, den Kran herumzudrehen und die Packs dann an der richtigen Stelle abzusetzen. Obwohl die Storms unablässig feuerten, war er ihnen inzwischen sogar ein Stück voraus.
Schließlich war er fertig und beschloss, sich einmal gründlich umzusehen. Der Kran verfügte über ein ordentliches Bildsystem, das auch mit den Hauptmonitoren verbunden war, und so fing er jetzt an, ein Bild nach dem anderen aufzurufen.
Den besten Ausblick lieferte anscheinend Monitor sieben. Die Kamera, die ihn mit Bildern versorgte, war hoch genug angebracht, um einen besseren Ausblick als sogar der Kran zu haben, und verfügte zusätzlich über ein Wärmebildsystem, sodass Pruitt sogar Einzelheiten erkennen konnte.
In der Ferne konnte er Ströme von Posleen wahrnehmen, die immer noch die Straße vom Pass herunterdrängten, aber sie waren jetzt ausgeschwärmt und bewegten sich auch nicht mehr annähernd so schnell. Das sah nach einem Hoffnungsschimmer aus. Aber ein paar Schuss Flächenfeuer konnten da trotzdem nichts schaden.
Er schwenkte die Kamera nach links und stellte fest, dass er gerade noch die Stelle erfassen konnte, wo der East Branch aus den Bergen herunterkam und sich ausweitete. Die Spuren, wo das SheVa das letzte Mal durchgekommen war, waren noch zu erkennen, und er seufzte. Eigentlich sollte man ein solches Monstrum wirklich nur einmal im Leben über die Berge steuern müssen.
»Over the mountains«, sang er und ließ die Kamera kreisen, »take me across the sky…«
Auf dem Bergkamm über dem East Branch war ein Rudel Posleen zu erkennen, und da war etwas, was ihn dazu veranlasste, die Kamera noch einmal zurückzuschwenken und genauer hinzusehen. Er erhöhte die Vergrößerung, aber erst als er auf Wärmebild schaltete, war ihm klar, was er da sah.
»Colonel«, hauchte er einen Augenblick später. »Sie sollten sich vielleicht mal Monitor sieben ansehen.«
Mitchell tippte den Schalter an und brachte damit das Bild von Kamera sieben auf den Hauptschirm. »Was sehe ich denn da, Pruitt?«
»Schauen Sie sich die Gruppe links auf dem Bergkamm an.« Pruitts Stimme klang ausdruckslos, tot, als ob jemand ihm gerade die Seele aus dem Leib gerissen hätte.
»Was ist denn los?«, fragte der Colonel und erhöhte die Verstärkung. »Der Kamm über dem East Branch?«
»Yes, Sir«, erwiderte Pruitt. »Schalten Sie auf Infrarot.«
Das tat Mitchell, und dann fluchte er. »Das sind… sind das menschliche Gestalten?«
»Captain Chain, laden Sie Ihre Geschütze neu«, sagte Mitchell mit eiskalter Stimme. »Bereiten Sie sich auf Feuerschutz im Nahbereich vor. Reeves, runter von dem Hügel. Pruitt, kommen Sie runter, Personaleingang eins.«
»Yes, Sir.« Der Fahrer sah auf seine Monitore und vollführte dann ein Wendemanöver um einhundertachtzig Grad, steuerte wieder den Hügel hinunter. Da er schon ahnte, wie der nächste Befehl lauten würde, stieß er zurück, so weit er konnte, und schob das Rückteil des SheVa den Savannah-Church-Hügel hinauf. Er sah, wie die Quetschies auf dem Hügel in Panik gerieten, als die gewaltige Metallmasse sich auf sie zu schob, aber in diesem Augenblick hatte er andere Sorgen. Zum Beispiel die, wie lange er wohl noch leben würde.
»Romeo Acht Sechs, hier SheVa Neun«, sagte der Colonel über das Divisionsartillerienetz. »Ich brauche Zeit-im-Ziel auf UZB 29448 Ost, 39107 Nord. Alles, was Sie haben.«
»Äh, Roger, SheVa«, kam die Rückmeldung. »Das wird aber ein paar Minuten dauern. Und das ist nicht unsere Feuerpriorität.«
»Tun Sie's«, sagte Mitchell. »Ihre Priorität ist mir egal. Tun Sie's jetzt gleich.«
»SheVa Neun, hier Quebec Vier Sieben.« Das war die Stimme von Captain LeBlanc. »Was in drei Teufels Namen machen Sie da?«
»Wir bereiten uns darauf vor, zum East Branch vorzurücken.«
Es dauerte ein paar Augenblicke, in denen Captain LeBlanc seine Aussage verarbeitete. »SheVa, das war nicht geplant.«
»Pläne ändern sich. Da gibt es eine Gruppe Menschen, die von den Posleen als mobile Nahrungsreserve benutzt wird. Und die holen wir uns.«
Angela Dale hatte sich umgedreht, als die erstaunliche Folge von Blitzen im Süden den Himmel erhellt hatte. Aber dann war sie gleich wieder in ihre eigene, unheilvolle Welt zurückgesunken. Seit die Posleen sie in der Nähe von Franklin eingefangen hatten, hatte sie das Gefühl, tagelang gegangen zu sein. Auf ihrer verzweifelten Flucht vor den vorrückenden Posleen hatte sie bereits die Verbindung zu ihren Eltern verloren und war sich ziemlich sicher, dass sie genauso wie alle in ihrer Gruppe, die nicht durchgehalten hatten, jetzt tot waren. Und vermutlich aufgefressen.
Sie konnte sich nicht erinnern, wie viele gestorben waren, wollte das auch gar nicht. Zu Anfang war die Gruppe wesentlich größer gewesen. Manchmal waren Leute dazugekommen. Einmal hatte man die Gruppe geteilt, und gelegentlich war eine Gruppe völlig konfuser Flüchtlinge dazugekommen, darunter auch eine Gruppe Indowy, die riesige Bündel auf dem Rücken trugen.
Dann hatte sie die Indowy angesprochen, eine einfache Begrüßung, die man ihr auf der Schule beigebracht hatte, und die kleinen, grünen Aliens waren offenbar zu dem Schluss gelangt, dass sie ihre beste Freundin war, und hatten sich um sie zusammengedrängt, so weit wie möglich von den Posleen und anderen Menschen entfernt. Ihr Anführer sprach Englisch, stockend zwar und auch mit fremdartigem Akzent, und er hatte Angela erklärt, dass die Posleen sie von einer anderen Welt geholt hatten, allem Anschein nach, damit sie für die Invasoren Pionierarbeiten leisten sollten. Sie hatten irgendwelche Brücken gebaut, und als die Zentauren dann den Rückzug hatten antreten müssen, hatte man sie zu der Gruppe von Menschen hinzugefügt, als – er benutzte den Posleen-Ausdruck – »Thresh«, als mobile Speisekammer. Und so war das.
Statt nämlich Flüchtlinge hinzuzufügen, griff häufig einer der sie bewachenden Posleen auf ein für die Menschen nicht erkennbares Kommando hin in die Gruppe und zerrte Leute heraus. Dann blitzten die Säbel. Von Zeit zu Zeit hatte man den Menschen in der Gruppe zu essen angeboten, aber auch wenn ihnen der Magen noch so laut knurrte, war keiner imstande gewesen, die noch von Blut triefenden Fleischfetzen anzunehmen, die noch Augenblicke zuvor ein Mitglied ihrer Gruppe gewesen waren.
Jetzt schienen die Posleen allerdings genügend Proviant zu haben; Gruppen waren nach hinten gekommen und hatten Massen von gelbem Fleisch angeschleppt, das nur von der Schlacht vor ihnen stammen konnte.
Die meiste Zeit nahm Angela niemanden zur Kenntnis. Sie hatte sich an einen warmen Ort, tief in ihrem Inneren zurückgezogen, einem Ort, wo nichts an sie herankonnte. Irgendwann einmal würde es für sie wieder Wärme geben, Wärme und Sicherheit. Irgendwann einmal würde sie wieder glücklich sein, und all das Schreckliche würde der Vergangenheit angehören. Sie wusste, dass es höchst unwahrscheinlich war, dass jener Ort auf dieser Seite des Himmels lag, aber sie hatte bereits aufgehört, sich darüber Sorgen zu machen. Sie ging einfach in die Richtung, die man ihr zeigte, und setzte sich an die Stelle, die man ihr zeigte.
Und so brauchte sie einen Augenblick, um zu bemerken, dass das Artilleriefeuer, das die ganze Ebene erfüllte, aufgehört hatte, und dass auch das Feuer, das in roten Massen den Tod herangetragen hatte, ebenfalls aufgehört hatte. Was in dieser Schlacht dort draußen geschah, war für sie und ihre Leidensgenossen eigentlich ohne Belang. Nichts und niemand würde sie retten, höchstens der Tod. Und der Tod fing an, recht erstrebenswert auszusehen. Bloß aufgefressen zu werden hatte noch Schrecken für sie.
Aber nach einer Weile drang das Murmeln der Menschen um sie und die Erregung der Posleen doch durch den Nebel, der sie umgab. Sie hatte Angst, es könnte bedeuten, dass sie wieder jemanden auswählen würden, und drängte sich nach innen, um sicherzugehen, dass sie in der Mitte der Gruppe war. Aber dann wurde schnell offenkundig, dass da etwas anderes im Gange war. Und als sie nach Norden blickte, tat sie das genau im richtigen Augenblick, um im Licht der Feuer im Tal und eines fahlen Mondes, der im Osten aufgegangen war, eine Masse aus Metall zu sehen, die sich über den Kamm vor ihnen schob. Und in dem Augenblick setzte der Artilleriebeschuss wieder ein.
»Gas geben, Reeves!«, schrie Mitchell. Der Fahrer war den Church Hill hinuntergerast und dann wieder mit Höchstgeschwindigkeit die Steigung auf der anderen Seite hinauf, weil dies nämlich der schlimmste Augenblick überhaupt war. In diesem Augenblick war nämlich die verletzbare Unterseite des gepanzerten Geschützsystems völlig ungeschützt dem feindlichen Beschuss ausgesetzt, und wenn die Posleen den Moment nutzten, waren sie tot. Dort befanden sich die Antriebssysteme und Reaktoren. Und ein Treffer dort würde zur Folge haben, dass sie bewegungsunfähig auf dem Hügel hängen blieben, ein unbewegliches Ziel für mindestens fünfzigtausend Posleen.
Aber die Kombination aus Artilleriebeschuss und Tempo und das Überraschende an ihrem Angriff schienen zu funktionieren. Das Feuer setzte zwar unverzüglich ein, aber da jagten sie bereits wieder auf der anderen Seite in die Tiefe.
»Kilzer! Wasservorhang, jetzt!«
»Äh…«, Paul sah zu dem Kommandanten hinüber und zuckte die Achseln. »Ich denke, ich habe vergessen, das zu erwähnen: Wir haben kein Wasser mehr. Wir hatten nur fünf Minuten und das haben wir schon vorher verbraucht.«
»Scheiße«, schimpfte Mitchell. »Chan!« Aber er hätte sich den Befehl sparen können, denn sämtliche Metal-Storms hatten bereits das Feuer eröffnet, als hinge ihr Leben davon ab. Was ja auch den Tatsachen entsprach.
Das Tal wimmelte immer noch von Posleen, und selbst diejenigen, die mit den menschlichen Verteidigern auf den Bergkämmen kämpften, drehten sich jetzt um und feuerten auf das stählerne Monstrum, das gerade den Abhang herunterpolterte und die Straße in Richtung nach Savannah nahm. Ein Feuersturm schlug ihm entgegen, aber SheVa Neun blieb den Angreifern nichts schuldig.
Wieder zuckte den Posleen rotes Feuer entgegen, sprang von einer Konzentration der Gäule zur nächsten. Der massive Artilleriebeschuss hatte das Gelände frei geräumt, und in dieses freie Gelände jagte jetzt das SheVa und spie nach allen Richtungen Feuer.
»Mitchell!« General Simosin wirkte ein wenig verstimmt. »Was in drei Teufels Namen machen Sie da?«
»Sie wollten einen Ausbruch, General«, sagte Mitchell, während der feindliche Beschuss gegen die Wände des SheVa prasselte. »Den haben Sie.«
»Sie blödes Arsch…«
»Am East Branch ist eine Gruppe Menschen«, fiel ihm Mitchell ins Wort. »Dort fahren wir hin. Und nichts wird uns aufhalten.«
Arkady Simosin starrte das Funkgerät einen Augenblick lang an und zuckte die Achseln. »Wir kommen hinterher.«
Er wandte sich dem Fahrer des Bradley-Panzers zu, in dem er sich gerade befand, und deutete nach vorn. »Junge, wenn Sie dieses SheVa nicht einholen, ehe es halb durch das Tal ist, lasse ich Sie erschießen.«
»Yes, Sir!«, sagte der Fahrer und hieb den Ganghebel des Kampfpanzers in Fahrstellung. »Kein Problem«, fügte er dann mit einem raubtierhaften Grinsen hinzu, als der Panzerkommandant seine Kanonen durchlud. Der Bradley war eines der Modelle, die mit doppelten 7.62-Gatling-Kanonen ausgestattet waren; das würde richtig Spaß machen.
Simosin schob seinen Funkoffizier beiseite und tippte die Divisionsfrequenz ein, als der Brad sich in Bewegung setzte. Er konnte das Stimmengewirr eines halben Dutzend Offiziere hören, brachte sie aber zum Schweigen. »Alle Einheiten angreifen. LOS, LOS, LOS. Hinter dem SheVa her. Bisherigen Plan vergessen. Befehl lautet jetzt DEM SHEVA NACH!«
»Tempo!«, schnaubte LeBlanc und kletterte die Leiter des Panzers hinauf. Und für eine Frau von nicht einmal einem Meter fünfzig Größe war das ein verdammt langer Weg. Sie sollte wirklich einen Brad oder einen Humvee haben. Die hatten mehr Funk und wurden weniger abgelenkt. Andererseits, wenn sie den Befehl über ihre Einheit weiter führen wollte, musste sie überleben.
»Aber was machen wir?«, rief der Chef der Bravo-Kompanie. Der Idiot stand neben seinem Abrams und sah verwirrt in die Runde.
»Wir fahren nach Savannah!«, sagte LeBlanc und stöpselte sich in das Interkomsystem des Fahrzeugs ein. Sie wollte dem Fahrer gerade Anweisung geben, loszufahren, aber der hatte seine Luke bereits zugeklappt und den Panzer in Bewegung gesetzt. Er fuhr ölig glatt an, wie es für die Abrams-Serie geradezu zum Markenzeichen geworden war, und so wie es aussah, würde nichts ihn aufhalten können. Dabei war ihr natürlich wohl bewusst, dass ein einziger, gut platzierter Treffer aus einem Plasmageschütz genau das bewirken würde. Man hatte die Panzerung der Abrams-Serie war zwar im Laufe des Krieges verbessert, aber gegen Plasma- oder HVM-Feuer waren sie immer noch nicht gefeit. Wenn es an der richtigen Stelle traf.
»Sehen Sie zu, dass Sie zurück zu Ihrer Einheit kommen und setzen Sie sie in Marsch!«, brüllte sie den Kompaniechef an und schaltete dann auf Bataillonsfrequenz. »Alle Einheiten, allgemeiner Ausbruch! Hinter dem SheVa her!« Sie sah zur Kommandantenluke hinaus, als der Panzer hügelaufwärts beschleunigte, und schüttelte den Kopf. Das 147th war ein ziemlich jämmerlicher Verein. So viel stand fest. Aber in den letzten ein oder zwei Tagen war etwas passiert, was ihnen neuen Schwung gegeben hatte, geradezu neuen Kampfgeist. Jämmerlicher Verein hin oder her – sie hatten den Vormarsch vom Balsam Pass hierher geschafft, und daran waren andere Einheiten gescheitert. Und irgendwie schienen sie auf den Geschmack gekommen zu sein, gegen die Posleen zu gewinnen, statt einfach Schläge einzustecken.
Und deshalb war ihr klar, dass sie ihre nutzlosen Kompaniechefs nicht in den Hintern zu treten brauchte. Zu beiden Seiten von ihr strömten die Männer der 147th wie eine unaufhaltsame Flut aus ihren Löchern. Und rannten nach vorn, brüllten.
Und die Posleen machten kehrt und rannten vor dem SheVa davon. Die Leute von der 147th würden sich einige von diesen Gäulen schnappen.
»Was für ein Chaos«, murmelte Mitchell nach einem Blick auf seine Monitorschirme. Er hatte eigentlich nicht mit Unterstützung gerechnet, aber er bekam sie weiß Gott.
Die Soldaten der Division waren aus ihren Verteidigungspositionen, die sie die letzten paar Stunden innegehabt hatten, geklettert, in manchen Fällen, wie es schien, sogar ohne Anweisungen, und stürmten nach vorn. Die meisten saßen nicht in Fahrzeugen und blieben deshalb weit hinter dem SheVa zurück, aber sie zogen das Feuer von ihm ab. Und wurden selbst abgeschlachtet.
Aber es schien ihnen nichts auszumachen. Mitchell sah, wie ein Bradley sich über den Kamm schob und mitten in eine Konzentration von Posleen hineinfuhr, einige von ihnen einfach niederwalzte. Einen Augenblick lang bepflasterten sie die Aliens mit ihren Fahrzeugwaffen, aber dann ging die Mannschaftsluke auf, und sie strömten ins Freie, bezogen rund um den Kampfpanzer Stellung und feuerten auf die Posleen.
Die Posleen, die es gewöhnt waren, sich gegen menschliche Verteidigungsstellungen zu werfen, reagierten mit Entsetzen und offenkundiger Angst. Für sie musste es so scheinen, als würden die Hasen die Wölfe angreifen, und das geschah jetzt überall.
Das ganze Tal war ein absolutes Tollhaus. Gruppen von Menschen rannten das Tal hinunter, einige im flachen Land, andere auf den steilen Kämmen an den Seiten, während ein Strom von Kampfpanzern durch den Pass rollte. Andere Fahrzeuge, Bradleys, Humvees und sogar ein paar Trucks, kamen über die Bergkämme, soweit diese befahrbar waren, und stürmten nach vorn, hielten manchmal an, um Infanterie aufzunehmen, waren aber im stetigen Vormarsch.
Die Artillerie befand sich in völliger Konfusion, und ihre Geschosse kamen fast nach dem Zufallsprinzip herunter, einige davon trafen menschliche Truppen. Aber selbst das schien sie nicht langsamer zu machen.
»Sind wir alle wahnsinnig?«, fragte Mitchell und schaltete auf die nach vorne gerichtete Kamera. Er betrachtete die wogenden Wellen von Posleen und das massive Feuer, das sie ihnen entgegenschleuderten, und grinste dann wie ein Wahnsinniger. »Yo.«