12
Clarkesville, Georgia, Sol III
1905 EDI, 28. September 2014
Now, first of the foemen of Boh Da Thone
Was Captain O'Neil of the »Black Tyrone«,
And his was a Company, seventy strong,
Who hustled the dissohite Chief along.
There were lads from Galway and Louth and Meath
Who went to their death with a joke in their teeth,
And worshipped with fluency, fervour, and zeal
The mud on the boot-heels of »Crook« O'Neil.
But ever a blight on their labours lay,
And their quarry would vanish away,
Till the sun-dried boys of the Black Tyrone
Tooka brotherly interest in Boh Da Thone:
And, sooth, if pursuit in possession ends
The Boh and his trackers were best of friends.
»The Baltad of Boh Da Thone«
Rudyard Kipling
Der beste der Gegner von Boh Da Thone
War Captain O'Neil von den »Black Tyrones«,
und seine Kompanie, siebzig Mann stark,
trieb den finsteren Häuptling vor sich her.
Das waren Jungs aus Galway und Louth und Meath,
die mit einem Witz auf den Lippen in den Tod gingen
und geläufig, hitzig und mit Eifer
den Dreck an den Stiefeln von »Crook« O'Neil anbeteten.
Aber auf ihren Plagen lag ein Fluch
und das Wild, das sie jagten, löste sich in Luft auf,
bis die sonnverbrannten Jungs von den Black Tyrones
brüderliches Interesse an Boh Da Thone entwickelten:
Und so wahr Hatz in Besitz endet
waren der Boh und seine Verfolger die besten Freunde.
»Ballade vom Boh Da Thone«
Tulo'stenaloor musterte seine Sensoren und zupfte dann an seinen Ohrringen; er hatte Besseres zu tun als sich Fähigkeiten anzueignen, die andere bereits besaßen.
»Wie viel Zeit haben wir?«
»Nicht viel«, erwidert Goloswin nachdenklich. »Die bereiten sich zum Abschuss vor.«
Der Estanaar sah auf das blutrote Oval auf der Darstellung und seufzte. Er hatte Jahre damit verbracht, das Lesen und Verstehen von Landkarten zu erlernen und wünschte sich jetzt, er hätte das bleiben lassen, denn er konnte sich nur zu gut vorstellen, was diese Höllenwaffe bewirken würde.
»Und die Strahlung?«
»Schlimm«, gab der Techniker zu. »Der direkte Wirkungsbereich der Waffe wird das ganze Tal fast bis zu der Ortschaft Dillard erfassen. Das primäre Isotop wird Karbon 13 sein, und das hat eine hohe Ionisierungsrate und wird thermische Schäden auslösen. Nach meiner Modellrechnung ist bei Oolt, die die Zone in der ersten Stunde passieren, mit zwanzig Prozent Verlusten zu rechnen, anschließend erwarte ich eine Abnahme von stündlich einem Prozent. Menschen sind natürlich relativ zerbrechlich; ungeschützte Menschen werden die Zone mindestens zehn Tage nicht betreten können.« Er ließ seinen Kamm flattern und klappte dann belustigt den Mund auf und zu. »Tatsächlich ist es eine sehr… wie würden die Menschen das ausdrücken? Auf ihre Art ist es eine sehr elegante Waffe. Ihre Sprengkraft ist natürlich beängstigend, aber zugleich verhindert sie eine Zeit lang den Zugang zum Territorium. Aber in ein oder zwei Monaten ist das Gelände wieder zugänglich und lässt Leben zu. Elegant.«
»Schrecklich«, erwiderte Tulo'stenaloor. Er wandte sich seinem Planungsoffizier zu und knurrte: »Ziehe alle Estanaral-Verbände heraus, die sich abziehen lassen; schicke nur lokale Verbände in diesen Wahnsinn. Und fange an, einen Plan auszuarbeiten, wie die Bewegungen nach dem Angriff geleitet werden können; wir haben diesen Menschen in Wellen zugesetzt und ihnen damit Zeit zur Erholung gelassen. Setze die Estanaral-Verbände so ein, dass sie die Lücken zwischen Blöcken der lokalen Verbände füllen und wir auf die Weise die Menschen kontinuierlich angreifen können.«
Der Planungsoffizier nickte und betätigte ein paar Schalter an seiner Sensoreinheit. »Die meisten Estanaral waren für einen Ausbeutungsangriff vorbereitet, sie befinden sich also hinter dem Bereich, wo die Waffe auftreffen wird. Sollte ich ihren Marsch eine Weile anhalten? Allmählich werden wir knapp an lokalen Einheiten.«
»Nein«, entschied Tulo'stenaloor nach kurzer Überlegung. »Wir werden so lange nicht genau wissen, wo die Waffe einschlägt, bis es so weit ist. Einige von ihnen werden überleben. Und das genügt.« Er schlappte erneut mit dem Kamm und betätigte sein Komm. »Orostan.«
Orostan blickte zum Pass hinauf und knurrte, als sein Komm aufleuchtete.
»Ja, Estanaar.«
»Die Menschen werden eine Höllenwaffe in den Pass schießen.« Tulo'stenaloor schilderte ihm in knappen Worten die Situation und wartete dann.
Orostans Kamm flatterte erregt, und dann knurrte er: »Wie viele von meinen Verstärkungen werde ich verlieren?«
»Etwa die Hälfte«, gab der Kriegsherr zu.
»Zu viele«, murmelte Orostan. »Dieses höllische SheVa-Geschütz ist verstärkt und verbessert worden und hat jetzt zusätzliche Waffensysteme statt wie bisher nur eines. Es ist in der Nähe des Savannah Valley in Stellung gegangen und frisst Oolt, als ob es Abat wären.«
»Du hättest es aufhalten sollen«, stellte Tulo'stenaloor fest. »Nicht zulassen, dass es dich aufhält.«
»Das versuche ich ja«, brauste Orostan auf. »Ich habe Teams bereitgestellt, die darauf warten, dass es durch den Pass kommt. Ich glaube, dass es an den Flanken verletzbar ist. Wenn es durchkommt, werden wir seine Räder und seine Ketten zerstören. Das wird es zum Stillstand bringen. Und zwar an einem Ort, wo es den Pass mit seinem Feuer noch nicht erreichen kann. Aber du solltest den Pass einnehmen und halten, Estanaar. Und bei dem Widerstand, den mir diese von der Hölle ausgespuckten Menschen entgegensetzen – mögen die Dämonen ihre Seelen fressen –, brauche ich zusätzliche Verbände.«
»Darum bemühe ich mich«, sagte Tulo'stenaloor. »Aber die Lage ist, wie die Menschen sagen würden, wirklich beschissen.«
»Das ist wirklich beschissen«, flüsterte Cally. »Ich bin noch viel zu jung, um zu sterben.«
Sie hatte sich zwar von den Posleen lösen können, sie abschütteln, aber die Gäule hatten sich wie Bluthunde an ihre Fährte geheftet. Jetzt waren sie beiderseits ihres Verstecks ausgeschwärmt und kamen den Hügel herauf. Cally hatte geglaubt, sie würde sich einfach verstecken und sie aussitzen können, aber das schien ihr nicht zu glücken.
»Papa wäre ihnen nicht so in die Falle gegangen«, murmelte sie und überprüfte ihren Munitionsbestand. Die Handgranaten waren ihr ausgegangen, und sie hatte nur noch zwei Magazine, von denen eines halb leer war. Ein volles Magazin in der Waffe. Posleen rechts von ihr, wenn sie also versuchte, sich wegzuschleichen, würden sie sie dort packen. Das Gleiche galt für die linke Seite. Und hinter ihr eine massive Wand… in den Büschen unter ihr raschelte es, und sie richtete ihre Waffe auf die Stelle, wo gleich ein Posleen auftauchen würde. »Na ja, Zeit, wieder einen wegzuputzen«, seufzte sie und schmiegte die Wange an den Kolben. Als die gelbbraune Schnauze sich aus den Büschen schob, berührte ihr Finger den Abzug. Es war der Gottkönig.
Selbst wenn sie nicht alle Posleen auf der Welt vernichten konnte, den hier würde sie erledigen.
Der Teamführer hielt inne und hob die rechte Faust, kauerte sich nieder. Vor ihnen konnten sie zwischen den Bäumen einen Schuss hören, dann das Knattern einer Railgun und gelegentlich das dumpfe Klatschen eines Plasmagewehrs.
Major Alejandro Levi war schon seit einer Ewigkeit ein Cyberpunk. Man hatte ihn bereits auf der High School angeworben, das brachte es mit sich, wenn man ein Westinghouse Stipendium hatte und Quarterback im Football-Team der Schule spielte. Und im Laufe der… na ja, Jahrzehnte musste man wohl sagen, hatte er eine ganze Menge schwieriger Einsätze absolviert. Aber mitten auf einem nuklearen Schlachtfeld herumzustreifen, auf dem es von Posleen, potenziell feindlich eingestellten Menschen und potenziell feindlich eingestellten »Anderen« wimmelte, war so ziemlich der Höhepunkt.
Er sah sich nach hinten und dann nach der Seite um und machte einen Schritt nach links. Und dann streckte er ruckartig die linke Hand aus und griff damit wie es schien ins Leere.
»Was haben wir denn da?«, flüsterte er und packte mit der anderen Hand zu, als ein Himmit seine Tarnung veränderte und drei seiner Hände um seinen Körper schlang. »Hast uns wohl bespitzelt, wie?«
»Für euch spioniert«, pfiff der Himmit in passablem Englisch. Der Alien war fast so groß wie ein Mensch, aber viel leichter und ähnelte auf verblüffende Weise einem symmetrischen Frosch. Er hatte vier »Arme« an den entgegengesetzten Enden seines Körpers und ziemlich genau in der Mitte des Körpers eine Ansammlung von Sinnesorganen. Beiderseits davon war je ein Paar Augen angeordnet. Man konnte den Eindruck haben, dass man mit Leichtigkeit zwei »Halb-Himmits« bekommen würde, wenn man den Alien in der Mitte teilte.
Alejandro hielt ihn an der Schädelvertiefung fest, im Zentrum des empfindlichen Bereichs mit den Sinnesorganen; er brauchte bloß mit seinen kräftigen Händen zuzudrücken und würde die Primärsensoren des Alien zerquetschen, eine vermutlich tödliche Wunde.
»Du bist aus dem gleichen Grund hier wie ich!«
»Woher weiß ich das denn?«, fragte der Cyber und lockerte den Griff etwas.
»Du bist hier, um Cally O'Neal und Michael O'Neal senior zu bergen«, erwiderte der Alien. »Und du kommst spät.«
»Der Verkehr war ziemlich dicht«, erwiderte Alejandro trocken. »Wo sind sie?«
»Michael O'Neal senior ist von der Druckwelle einer Lander Detonation erfasst worden und hat dabei tödliche Verletzungen erlitten. Cally O'Neal ist diejenige, die gerade schießt. Sie führt seit einer Weile ein Rückzugsgefecht mit einer Gruppe Posleen. Ich glaube, sie steckt jetzt in einer Falle.«
»O'Neal ist tot?«, fragte der Teamchef und schüttelte den Kopf.
»Der Ausdruck tot ist so endgültig«, erwiderte der Himmit. »Im Augenblick befindet er sich in meinem Fahrzeug. Sein augenblicklicher Realitätszustand ist mir nicht bekannt.«
»Wa… schon gut«, sagte Alejandro und schüttelte den Kopf. Wenn er nicht genau darauf achtete, wie er seine Frage formulierte, würde der Himmit den ganzen Tag nicht mehr zu reden aufhören. Er konnte von Glück sagen, dass das hier nicht länger gedauert hatte; der Himmit war ganz offensichtlich ein wenig durcheinander, sonst würde er sich nicht so abrupt äußern. Vielleicht lag das daran, dass er es nicht sonderlich schätzte, wenn man ihm die Finger in das Himmit-Äquivalent einer Nase drückte. »Wie viele Posleen?«
»Weniger, als es am Anfang waren; sie ist ein erstaunenswerter Submensch«, sagte der Himmit. »Als der Hinterhalt begann, waren…«
»Wie viele und wo?«, fragte Levi und verstärkte den Druck etwas.
»Vierzehn, fünfundsiebzig Meter«, erwiderte der Himmit und deutete. »Ausgeschwärmt. Sie ist dort oben auf dem Hang in Deckung, aber wenn sie sich bewegt…«
»Gottkönig?«
»Ein Kessentai, Plasmagewehr, tragbare Sensoren. Er setzt sie nicht sehr wirksam ein; offenbar ist er gewöhnt, dass seine Waffen für ihn gezielt werden.«
Der Cyber richtete sich auf und wies sein Team mit ein paar Handbewegungen an, auszuschwärmen, alle elektronischen Geräte abzuschalten und sich darauf einzustellen, den Feind anzugreifen. Das Abschalten der Elektronik war lästig, aber die Sensoren des Gottkönigs konnten jede auch noch so schwache Strahlung orten, selbst Hintergrundstrahlung.
Er sah zu, wie das Team plötzlich scheinbar aus dem Nichts auftauchte, ein paar Blätter, Baumrinde, ein Busch.
Die Cyberpunks hatten in der Zeit vor dem Krieg gegen die Posleen trainiert, wie man in feindliches Territorium eindringt und wie man Gefechtssysteme stört, die man nicht aus der Ferne »hacken« konnte. Sie waren dazu ausgebildet, auf dem Schlachtfeld wie Gespenster zu wirken, wie Schatten.
Aber sie waren auch dazu ausgebildet, die tödlichsten Gespenster auf der ganzen Welt zu sein. Jetzt galt es herauszufinden, ob sie auch die schnellsten waren.
Der Himmit sah ihnen zu, wie sie im Wald verschwanden und folgte ihnen dann so schnell ihm das möglich war, ohne seine Deckung aufzugeben.
Um nichts in der Welt würde er sich das entgehen lassen. Was für eine Story.
Cholosta'an trat vorsichtig einen Schritt nach vorn, seine Sensoren meldeten ihm, dass der weibliche Mensch zuletzt irgendwo auf diesem Kamm gewesen war. Aber seit sie ihr letztes elektronisches Gerät ausgeschaltet hatte, hatte er sie verloren. Möglicherweise war sie über den Kamm geflohen, aber der Hang war steil und bot keine Deckung, also hätten sie sie wahrscheinlich gesehen. Vermutlich versteckte sie sich in den Büschen unten am Sockel des Felsvorsprungs. Und in dem Fall würden sie sie bald haben.
Er hatte sie nur den Bruchteil eines Augenblicks lang zu sehen bekommen, lange genug, um zu erkennen, dass es sich in der Tat um einen weiblichen Menschen handelte, wie Tulo'stenaloor das gesagt hatte.
Sein letzter Gedanke, als er den Lauf des menschlichen Gewehrs sah, war »ein Nestling?«
Tulo'stenaloors Kamm schlappte, als die Anzeige erschien.
»So viel zu Cholosta'an«, murmelte sein Planungsoffizier.
»Ja, in der Tat«, erwiderte der Estanaar. »Und so viel zu dem Thema, die Nachschubversorgung der Threshkreen-Einheit zu behindern. Oder sie von hinten anzugreifen, wenn man bedenkt, dass alle anderen Verbände im Tal sich sammeln, um das SheVa aufzuhalten.«
»Der Lösungsansatz ist ganz einfach«, fuhr er fort. »Wenn wir die Threshkreen im Pass vernichten, können wir genügend Verbände durch das Gap schleusen, um das SheVa zu zerstören, ganz gleich, was auch sonst geschieht. Wenn wir andererseits schaffen, das SheVa zu zerstören, können wir am Ende auch die Threshkreen aufreiben. Wenn uns beides nicht gelingt…, dann sind wir gescheitert.«
»Im Augenblick gelingt uns keines von beidem«, gab der Essdrei zu bedenken.
»Richtig«, bestätigte der Estanaar. »Und wir haben auch nicht mehr geschafft als Orostan. Unsere Aufgabe ist es, die Threshkreen im Pass zu vernichten. Und dazu gehört Druck. Wenn wir anfangen, wieder Verbände in die Schlacht zu werfen, müssen wir dafür sorgen, dass sie sich stetig bewegen. Bis jetzt haben wir sporadisch zugeschlagen, in Wellen. Und das lässt ihnen Zeit, sich zu erholen.«
»Ja, Estanaar«, meinte der Oolt'ondai nachdenklich. »Die Frage ist, ›wie‹. Jedes Mal, wenn wir eine Reihe Oolt haben, dann… bewegen sie sich unstetig, manchmal schnell, manchmal langsam. Und das führt zu den Lücken in unseren Angriffen.«
»Wir werden die Front spreizen«, erklärte Tulo'ste-naloor nach kurzer Überlegung. »Die Elite-Oolt'ondai sollen ihr Oolt entlang der Strecke in Stellung bringen. Und du sorgst mir dafür, dass zwischen den Oolt, die in die Schlacht ziehen, Lücken frei bleiben. Auf diese Weise kann das nächste Oolt sofort einspringen, wenn eines vom Feuer der Threshkreen erfasst und vernichtet wird. Das verschafft uns den ständigen Druck, den wir wollen.«
»Sobald die Höllenwaffe detoniert, Estanaar.«
»Oh ja, nachher«, schnaubte Tulo'stenaloor. »Warum mehr Oolt'os vergeuden als unbedingt notwendig?«
Cally stellte das Feuer ein, als der gelbe Schädel des Posleen zerplatzte, und richtete die Waffe auf die Stelle, wo sie den nächsten Posleen vermutete. Aber als sich ihr Finger erneut um den Abzug krümmte, hörte sie eine Folge gedämpfter Laute, die so klangen, wie wenn jemand hustet, und dann das wilde Knattern einer Railgun, deren Geschosse von dem Felsgestein über ihrem Kopf abprallten.
Soweit ihr das bekannt war, waren die nächsten Menschen (die kämpften) das Bataillon ihres Dad oder vielleicht auch der Rest ihrer Gruppe. Aber die benutzten keine schallgedämpften Waffen. Wer war das also dort draußen? Freund oder Feind?
Vor Jahren hatte man einen Meuchelmörder ausgeschickt, um Papa O'Neal zu töten, und der Mann hatte nur deshalb seinen Auftrag nicht erfüllen können, weil er nicht damit gerechnet hatte, dass ein achtjähriges Mädchen mit Waffen umgehen konnte und auch bereit war, sie einzusetzen. Aber das hieß nicht, dass nicht wieder welche geschickt werden würden. Zugegebenermaßen schien es so etwas wie Overkill, mitten in einem atomaren Artilleriegefecht Meuchelmörder auszuschicken, aber wenn es wirklich Leute gab, die hinter einem her waren, war dieser Gedanke alles andere als paranoid.
Sie hörte unter sich ein Rascheln, anders als ein Reh es erzeugen würde, eher wie eine Feldmaus. Dann stand plötzlich ein Mensch über dem toten Posleen.
Ein Kommandokämpfer, ohne Zweifel Special Operations, das war deutlich zu sehen. Er, wahrscheinlich war es ein Mann, trug ein Ghillienetz am Rücken. Jetzt trat er einen Schritt zur Seite und schien sich dann plötzlich in Luft aufzulösen. Sie kniff die Augen zusammen und erkannte, dass er jetzt für alle Welt wie ein Busch neben einer der Pappeln aussah. Er war gut, wahrscheinlich sogar besser als Papa.
Sie beobachtete ihn scharf, als er einen Schritt nach vorn tat, ganz langsam, jeden Millimeter Boden prüfend, und hielt dann wieder inne.
Alejandro erstarrte, als er einen leichten Hauch menschlichen Geruchs auffing. Er hätte ihn wahrgenommen, hätte ihn wahrnehmen sollen, aber der Gestank des toten Posleen hatte ihn überdeckt.
Das Unangenehme am Geruchssinn ist, dass er nur in schwachem Maße richtungsorientiert ist. Es war fast völlig windstill, und die Luft war feucht, kalt und unbewegt. Aber irgendwo war hier ein Mensch, der sich nicht bewegte. Aber schwitzte, als ob… sie gerannt wäre.
Er sah sich um, konnte aber zu seiner Verblüffung nichts sehen. Dem Geruch nach war sie ganz nahe und hätte deshalb auffällig wie ein Berg sein müssen. Entweder fing er an alt zu werden, oder das Mädchen war wirklich gut.
»Cally O'Neal?«, flüsterte er.
»Ein falscher Atemzug, und Sie können sich begraben lassen«, sagte Cally. Es klang eher wie ein Seufzer als wie Flüstern.
Alejandro seufzte und sah zu der Stelle hinüber, wo das Geräusch herkam.
Das Mädchen kauerte unter einem Ghillienetz, das mit Blättern bedeckt war. Er fragte sich, wie sie es angestellt hatte, so mit ihrer Umgebung zu verschmelzen, und begriff dann, dass sie den kleinen Birkenbusch hinter sich geschüttelt hatte, um ihre Tarnung zu verbessern. Raffiniert.
»Man hat mich geschickt, um dich rauszuholen«, sagte er und richtete sich auf, achtete dabei aber darauf, seine MP-5 nach unten gerichtet zu halten.
»Sicher hat man das, aber dazu gehören zwei.« Cally hörte ein weiteres schwaches Rascheln auf der anderen Seite und erkannte, dass die sie in die Zange genommen hatten. Schon wieder. »Und wenn Ihr Kumpel einen Schritt näher kommt, müssen wir sehen, wie viele von euch ich erledigen kann. Angefangen mit Ihnen.«
»Ich fürchte, da haben wir jetzt eine so genannte Pattsituation«, sagte Alejandro. »Du vertraust mir nicht und ich weiß nicht, wie ich dich überzeugen soll.«
»Nicht ganz«, flüsterte eine Stimme von oben.
Cally erstarrte, als plötzlich ein Himmit aus dem Nichts auftauchte und sich auf den Boden herunterließ.
»Miss O'Neal, wir sind zu Ihrem Schutz hier«, pfiff der Himmit. »Wir haben keine Beweise dafür, aber ich gebe Ihnen mein Wort als Mitglied des Fos-Clans, dass Ihnen kein Leid zugefügt werden wird. Aber hier ist in weniger als fünfzehn Minuten ein Atomschlag zu erwarten…«
»WAAAS?«, schrie Cally. Aber der Cyberpunk übertönte sie.
»Sammeln!«, brüllte Alejandro. »Wo liegt das Ziel?«
»Gezielt wird auf das Gap, Major Levi«, sagte der Himmit und tarnte sich wieder. Seine Stimme schien sich zu entfernen. »Aber die Wirkungszone ist… ziemlich groß. Betrachten Sie diese Stelle als Ground Zero für einen 2-Mt-Schlag.«
»Warte!«, sagte Alejandro. »Kann dein Fahrzeug uns hier rausholen?«
»Ah, jetzt vertraut man mir also«, sagte der Himmit, und diesmal kam seine Stimme bereits von einem Punkt zwischen den Bäumen. »Gehen Sie sechshundert Meter nach Westen. Dort erwarte ich Sie.«
»Also, Miss O'Neal«, sagte der Cyber und wandte sich nach Westen. »Sie können jetzt mitkommen oder nicht. Es liegt ganz bei Ihnen.«
»Aus dem Weg, Kommando«, sagte Cally, rappelte sich hoch und sah auf ihren Kompass. »Ihr seid mir zu langsam.«
»Hier drüben.«
Der Himmit war wieder aufgetaucht, auch diesmal wieder wie aus dem Nichts, und seine Haut wechselte von der Farbe und der Struktur von Baumrinde auf sein offenbar »normales« Blaugrün. Er deutete auf eine Bodenspalte und floss schnell auf die Spalte zu und in das Loch hinein.
Cally blieb keuchend stehen und schüttelte den Kopf. »Wenn wir uns in einem Loch verstecken, wird uns das nicht vor einer Atomexplosion schützen!«, schrie sie.
»Sie können kommen oder hier bleiben«, sagte der Himmit und schob die »hintere« Hälfte seines froschähnlichen Körpers aus dem Loch. »Man hat mich aufgefordert, Sie und das Cyberteam zu bergen. Aber es war keine geschuldete Forderung. Und ich werde nicht hier bleiben und mich in radioaktiven Staub verwandeln lassen! Vier Minuten.« Damit verschwand er nach unten.
»Scheiße«, murmelte Cally und sah dann Alejandro an. »Cybers, hä?«, sagte sie, bückte sich und glitt dann in die Bodenspalte.
Die Spalte war breiter als sie aussah, aber selbst für sie schwer zu bewältigen; sie war nicht sicher, ob das Cyberteam damit zurechtkommen würde. Sie kroch und rutschte durch eine Folge von Windungen im 20°-Winkel nach unten. Es wurde schnell dunkel, aber sie kroch weiter und fragte sich, was sie wohl erwartete. Vermutlich ein Himmit-Hintern, aber die hatten ja keine Hintern. Sie hatte gerade damit begonnen, sich den Kopf zu zerbrechen, ob das verdammte Ding einfach bloß ein stockdunkler Tunnel in die Hölle war, als sie ein bläuliches Licht sah. Nach der nächsten Biegung sah sie die offene Luke eines Himmit-Schiffs und einen Raum dahinter. Sie kroch schnell hinein, schob sich dann in die hinterste Ecke und wartete gespannt darauf, ob die Cybers es schaffen würden.
Der Himmit war nirgends zu sehen.
Sie hatte von Tarnkappenschiffen der Himmit gehört, aber nie ernsthaft damit gerechnet, eines von innen zu sehen zu bekommen. Es war… seltsam. Fremdartig, alien, in einer schwer zu definierenden Art und Weise. Der Raum, in dem sie sich befand, durchmaß etwa drei Meter und war beiderseits mit einer Anzahl von Sitzen ausgestattet. Für sie war der Raum hoch genug, aber für die Cybers würde es vermutlich eng werden. Die Beleuchtung stimmte einfach nicht, und die Sitze waren zwar allem Anschein nach für Geschöpfe von Menschgröße gebaut, aber passten irgendwie nicht für Menschen. Sie nahm auf einem Platz, um ihn auszuprobieren. Die Lehne war zu niedrig und die eigentliche Sitzfläche zu schmal; für sie war der Sitz unbequem, und die Cybers, die ja längere Beine hatten, würden ihn nach kurzer Zeit geradezu als Martersitz empfinden. Vermutlich würde es einem Menschen ähnlich schwer fallen, etwas zu machen, was für einen Himmit bequem war.
In dem Raum lag ein beißender Geruch, so wie in einer Chemiefabrik, in der Müll verarbeitet wurde, und im Hintergrund war ein seltsames Ächzen und Stöhnen zu hören. Insgesamt ein recht unbehaglicher Ort, diesen Schluss hatte sie gerade gezogen, als der erste Cyber aus dem engen Gang kam und sich gebückt in den Raum zwängte. Er schob sich schnell auf den ihr gegenüberliegenden Sitz und lehnte sich zurück, nahm seine Tarnkapuze ab.
»Himmits«, murmelte der Mann. »Warum mussten es gerade Himmits sein?«
»Ich vermute, Sie waren schon einmal in einem solchen Ding?«, fragte Cally, gespannt auf die Antwort, die sie bekommen würde.
»So sind wir hergekommen«, erwiderte der Cyber und blickte auf den Eingang. »Da sollten Fahrzeuge bereit stehen. Richtige Fahrzeuge, meine ich. Ich gehe lieber hundert Meilen zu Fuß, als auch nur eine Viertelstunde in einem von diesen Dingern zu hocken.«
»Na ja, im Sturm ist einem jeder Hafen recht«, meinte Cally philosophisch und runzelte dann die Stirn. »Nicht um vor Fremden rumzumeckern, aber die letzten paar Tage waren schon recht lausig. Mein Hund ist tot, die Pferde sind tot, meine Katze ist tot und mein Großvater ist tot. Mein Dad steckt irgendwo dort draußen in der Scheiße und ist wahrscheinlich bis morgen früh ebenfalls tot. Oh, und ich habe schon zwei Atombombardements hinter mir. Da fühlt man sich selbst in einem Himmit-Schiff einigermaßen gut.«
Sie schüttelte den Kopf, als der nächste Cyber hereinkam, dem dann schnell der Rest des Teams folgte; der Teamchef zwängte sich als Letzter durch die Luke. Gleich darauf schloss sie sich, und fast im gleichen Augenblick schob sich die »vordere« Wand des Fahrzeugs auseinander und ein junger Mensch trat durch die Öffnung.
Sämtliche Cybers erstarrten förmlich beim Anblick des unbekannten Besuchers, aber Cally konnte ihren Blick nicht abwenden. Abgesehen von der Größe, dem Körperbau und der Haarfarbe ähnelte er ihrem Vater verblüffend; wenn Mike O'Neal einen Bruder gehabt hätte, hätte der Mann das sein können.
Auf den zweiten Blick freilich stimmte das nicht ganz. Die Arme des Besuchers waren länger, hingen fast bis zu den Knien herunter, und seine Nase war viel kleiner als die ihres Dad. Wenn man einmal von seinem Alter absah, sah er eigentlich aus wie… »Grandpa?«