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Green's Creek, North Carolina, Sol III
1648 EDT, 28. September 2014
Axes flash, broadswords swing,
Shining armour's piercing ring
Horses run with polished shield,
Fight those bastards till they yield
Midnight mare and blood red roan,
Fight to keep this land your own
Sound the horn and call the cry,
How many of them can we make die!
Follow Orders as you're told,
Make their yellow blood run cold
Fight until you die or drop,
A force like ours is hard to stop
Close your mind to stress and pain,
Fight till you're no longer sane
Let not one damn cur pass by,
How many oft hem can we make die!
»March of Cambreath«
Heather Alexander
Äxte blitzen, Breitschwerter schwingen,
weit hallt es, wenn das Schwert die Rüstung durchbohrt.
Pferde traben mit poliertem Schild.
Kämpft gegen die Schurken, bis sie weichen
Mitternachtsmähre und blutrotem Schimmel,
kämpft, damit dies' Land unser bleibt.
Lasst erklingen das Horn und ruft den Schlachtruf,
so viele von ihnen schicken wir in den Tod!
Befolgt die Befehle, wie man euch heißt,
lasst ihr gelbes Blut erkalten.
Kämpft, bis ihr sterbt oder zu Boden sinkt,
Kaum einer kann eine Macht wie die uns're halten.
Verschließt den Sinn gegen Schmerz und Qual,
Kämpft, bis ihr den Verstand verliert.
Lasst keinen einzigen verdammten Köter vorbei.
So viele von ihnen schicken wir in den Tod!
»Marsch von Cambreath«
»Herrgott, ist das schön, wenn man mal wieder leichtes Zeug verschießen kann.« Specialist Cindy Glenn war eine Frau wie ihre Vorgesetzte. Im Gegensatz zu dieser war sie allerdings der Ansicht, dass nichts an der Army, ganz besonders nicht in diesem Job, so etwas wie eine Karriere verhieß.
Die dem MetalStorm zugrunde liegende Theorie war kurz vor dem Erstkontakt entwickelt worden. Eigentlich war sie die Einfachheit selbst, so wie die meisten interessanten Erfindungen. Statt Kugeln mit einem komplizierten System zuzuführen, lud man sie einfach alle in den Lauf, eine über der anderen, und packte das Treibmittel dazwischen. Das Gerät wurde elektronisch gezündet und erzeugte eine gewaltige Feuerkraft, wenn binnen Sekunden buchstäblich Hunderte von Kugeln aus dem Lauf gespien wurden; ein Gerät hatte bei Tests eine theoretische Durchsatzmenge von einer Million Geschossen pro Minute geliefert.
Der Knackpunkt lag in der »Theorie«. Da der Lauf zugleich auch die Kugeln lieferte, bedeutete »Nachladen«, dass man den ganzen Lauf ersetzte. Außerdem war das Verhältnis »Kugel/Gewicht« des Systems geradezu astronomisch; für die Infanterie, die ohnehin ständig zu viel zu schleppen hatte, würde man dieses System also nie nutzen können.
Aber es hatte gewisse Vorteile. Nach dem Eintreffen der Posleen wurde MetalStorm weithin als »Flächenwaffe« eingesetzt; der Kugelhagel, den es erzeugte, ließ sich ohne weiteres als »Bleiregen« bezeichnen. Wenn es darum ging, Angriffswellen der Posleen zum Stehen zu bringen, es also auf die Feuerkraft ankam, war »mehr« immer besser. Und es gab nicht viel, was »mehr« als MetalStorm lieferte.
Außerdem wurde die neue Erfindung auch für gewisse Spezialsysteme eingesetzt; eines davon war die » MetalStorm Anti-Lander-Gesteigerte-Feuerkraft-Panzer-Kombination«, ein Waffensystem, das aus einem Abrams-Tank-Chassis mit einem MetalStorm-Pack à zwölf Rohre bestand, das oben montiert war. Die Rohre hatten Kaliber 105 mm, und jedes enthielt hundert Schuss panzerbrechende Treibkäfig-Sabots, auch Penetrator genannt. Auf Knopfdruck konnte das System in weniger als einer Minute zwölfhundert Schuss ausspeien. Man hoffte, dass dieser Sturm aus abgereichertem Uran mit demselben Typ und demselben Kaliber der Geschosse, die man ursprünglich für den Abrams-Panzer und für den Einsatz gegen sowjetische Panzer entwickelt hatte, imstande sein würde, die Panzerung von Posleen-Landers zu durchdringen und sie zu vernichten. Bedauerlicherweise wurde das Waffensystem dieser Erwartung nicht ganz gerecht – und die Besatzungen hassten es!
Bei der Konstruktion des Abrams hatte man zunächst an 105-mm-Granaten gedacht. Später wurde das System dann mit Erfolg auf 120-mm-Geschosse ausgebaut, eine nennenswerte Steigerung an Feuerkraft, die das System ohne Probleme bewältigte. In weniger als einer Minute zwölfhundert 105-mm-panzerbrechende-Penetrator-Granaten abzufeuern, erwies sich allerdings als… eine der wenigen Situationen, wo »mehr« nicht notwendigerweise auch besser war. Normalerweise schrien die Crews, wenn sie die MetalStorms abfeuerten. Viele Mannschaftsangehörige desertierten oder fügten sich selbst Verletzungen zu, um sich vor dem Einsatz in MetalStorm-Panzern zu drücken. Wenn diese zwölf Rohre nämlich anfingen, abgereichertes Uran zu speien, zitterten und bebten die 60-t-Panzer wie ein aus dem Gleichgewicht geratener Mixer. Knochenbrüche waren weit verbreitet, weil die Besatzungen in den Fahrzeugen gegen die Wände geschleudert wurden. Die meisten verglichen es damit, in einem Fass mit Rollsplitt herumgerollt zu werden.
Trotz seiner Feuerkraft stellte sich heraus, dass das Waffensystem für die Rolle, für die es geplant war, nicht geeignet war. Die Panzerung der Posleen-Lander war dick, die Schiffe waren groß und bewegten sich unglücklicherweise nicht in Bodennähe. Die Geschosse der MetalStorm-Panzer konnten zwar auf kurze Distanz, sagen wir fünfzehnhundert Meter, die Panzerung der Posleen-Schiffe durchschlagen, waren aber auf größere Entfernungen praktisch wirkungslos. Und der Versuch, auf solch kurze Distanz einen Lander abzuschießen, kam dem Selbstmord gleich.
Aber das Waffensystem war unter gewaltigem Kostenaufwand entwickelt worden, und einige Kompanien davon waren ausgerückt. Anstatt daher einfach die Türme abzumontieren und die Chassis als Ersatzteile zu benutzen, entschieden sich die maßgebenden Leute in der obersten Heeresleitung dafür, sie für die wenigen Verwendungszwecke einzusetzen, bei denen sie zu gebrauchen waren. Nämlich als Flächenwaffen.
Dies erforderte jedoch andere Waffensysteme. Das 105-mm-»Zwölferpack« eignete sich nur schlecht dafür, eine größere Zahl von Posleen zu töten. Die Geschosse erzeugten massiven Overkill, aber für den systematischen Einsatz gab es viel zu wenige davon. Aber da im MetalStorm-System beim Schießen nicht nur die Munition, sondern auch das Rohr ersetzt wurde, gab es keinen Grund, ausschließlich Kaliber 105-mm einzusetzen. Daraufhin entwickelte man ein ähnliches, sogar noch größeres Pack mit Kaliber 40-mm.
Man setzte dafür die weit verbreitete 40-mm-Granate ein, dasselbe Projektil, wie es das altehrwürdige Mk-19 Mod.4 benutzte. Es verschoss ein »kugel«-förmiges Projektil mit einer Reichweite von dreitausend Metern, das knapp siebenhundert Gramm wog und mit Sprengstoff und Draht gefüllt war. Beim Kontakt explodierte das Projektil und verstreute einen Hagel von gekerbtem Draht, der alles im Umkreis von fünf Metern tötete oder verwundete.
Jedes MetalStorm-»Vierziger Pack« enthielt zwanzigtausend Projektile.
Anstatt zwölf Rohre hatte dieses System hundert, zehn waagrecht und zehn senkrecht in einem rechteckigen Metallblock, der natürlich deutlich mehr als das »schwere« Pack wog. Und anstelle von hundert Geschossen pro Rohr waren es hier zweihundert.
Eine Masse Posleen war zu sehen, die gegen das massierte Feuer menschlicher Infanterie durch den Pass drängte. Sie wurden hingemetzelt, und die hinteren Reihen mussten über die Leichen der Erschossenen klettern, aber trotzdem schoben sie sich Zoll für Zoll nach vorne.
Und das würde jetzt gleich ein Ende haben.
Glenn legte ihr Fadenkreuz über die Vorderseite der Posleen-Masse und eröffnete das Feuer.
Was aus dem rechteckigen Paket auf einer U-förmigen Halterung des Tanks ausgespien wurde, hatte Ähnlichkeit mit erbrochenem Feuer. Eines von fünf Geschossen war ein Leuchtspurgeschoss, und bei dem hohen Schusstempo kamen diese Leuchtspurgeschosse nicht nur kontinuierlich, sondern überlappten sich sogar. Was zu sehen war, war demzufolge eine Feuerwand, die eineinhalb Meter breit war und die, sobald sie irgendetwas berührte, explodierte.
Die von der Flammenwand erfassten Posleen lösten sich buchstäblich in Nichts auf, verschwanden vom Erdboden, als jeden einzelnen Zentauren Dutzende von Geschossen trafen. Sobald klar war, dass der Vormarsch zum Stillstand gekommen war, ließ Glenn die Flammenwand die Straße hinaufwandern und schwenkte dabei das Geschütz hin und her, um sicherzustellen, dass sie die heranrückende Horde wirklich ganz erfasste. Es wirkte eigentlich gar nicht wie eine Waffe, eher wie ein flammender Besen, der die Posleen tötete und sie in handgroße Brocken zerfetzte, sodass die Überreste so aussahen, als ob sie ein wütender Gott durch einen Fleischwolf getrieben hätte.
Bedauerlicherweise waren selbst zweihunderttausend Schuss in kurzer Zeit verbraucht. Und deshalb verstummte Turm Eins nach nur vier Sekunden. Glenn hielt kurz inne und drückte dann den Auswurfknopf, und die massive Feuerkapsel wurde nach hinten ausgestoßen und blieb auf dem SheVa liegen.
»Ich bin leer geschossen, Ma'am«, sagte sie und schnippte die Ladewinsch an. »Aber ich bin gleich wieder so weit.«
Chan hatte die Wirkung der Vierziger-Packs oft genug gesehen, aber noch nie an einem derart konzentrierten Beispiel, und so dauerte es einen Augenblick, bis sie reagierte. »Ist ja schön. Kein Problem. Turm Zwei?«
»Zwei.«
»Beschuss fortsetzen. Und anschließend die Drei, wenn die Zwei leer ist…«
»Drei, verstanden.«
Chan schaltete sich aus der Kompaniefrequenz und dafür auf das Intercom des SheVa. »Major Mitchell, uns werden bald die Ziele ausgehen.«
Mitchell schüttelte den Kopf angesichts des Blutbads auf der Straße. Die Felswände beiderseits des engen Passes waren fast bis ganz oben gelb bespritzt. Und das bekam man nicht oft zu sehen.
»Wenn die Öffnung frei ist, schießen Sie steil über die Kammlinie. Wir haben hier oben nicht viel Manövrierraum; die Quetschies sind im Weg.«
»Verstanden, Sir. Ich würde uns gerne auf der nächsten Kammlinie positioniert sehen. Nach meinen Karten liegt die andere Seite darunter frei. Ich denke, dort oben könnten wir gute Arbeit leisten.«
Mitchell schmunzelte und nickte dann, was Chan nicht sehen konnte. »Einverstanden. Wir werden wahrscheinlich Ärger kriegen, weil wir die Kirche niedergewalzt haben. Ich werde mal mit der Division sprechen, ob die ein paar von ihren Quetschies wegschaffen können.«
»Yes, Sir.« Eine kurze Pause. Dann: »Türme Eins bis Sechs und Zwölf sind leer geschossen. Die anderen haben nicht die erforderliche Angularität.«
»Wie lange bis zum Nachladen?«, fragte Mitchell und drehte den Kopf halb zur Seite, als der Techniker ihm ein Zeichen gab.
»Etwa drei Minuten, Sir«, sagte Chan leicht verlegen.
»Wir verschießen dieses Zeug schneller, als wir nachladen können.«
»Augenblick«, erwiderte Mitchell, schaltete das Interkom stumm und sah Kilzer mit gerunzelter Stirn an. »Ja?«
»Den Turm drehen«, sagte Kilzer.
»Das hat sie«, erwiderte Mitchell scharf und verstummte dann. »Du lieber Gott!«
»Keine Sorge«, sagte Kilzer mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Ich habe länger über dieses Zeug nachgedacht als Sie.«
»Also, was ist, Boss, soll ich den Turm drehen?«, fragte Pruitt und schmunzelte.
»Major Chan«, sagte Mitchell, nachdem er das Intercom wieder eingeschaltet hatte. »Wir werden jetzt den Turm drehen, damit Sie Ihre restlichen Geschütze einsetzen können.«
Er zögerte kurz und lächelte dann. »Wenn Sie sich jetzt an den Kopf fassen, dann ist das schon in Ordnung. Ich tu das auch.«
»Danke, Sir«, rief Chan zurück, während Pruitt die Schalter betätigte.
»Augenblick, Pruitt«, sagte Chan und schaltete auf die Kompaniefrequenz. »Nummer Fünf, Sie sind dran. Alle aufpassen, wohin der letzte Turm geschossen hat«, fuhr sie dann fort, als der Feuerstrom über die Kammlinie zog. »Ich möchte die Fläche auf der anderen Seite des Kamms säubern.«
Sie nickte, als der Turm des SheVa sich zu drehen begann. Pruitt konnte das Feuer der MetalStorms offenbar sogar in dem schwer gepanzerten Kontrollraum spüren und hatte die Drehung automatisch eingeleitet, als Fünf geschossen hatte. Und als jetzt Sechs fertig war, tat er es erneut. Sie konnte also aufhören, sich darüber Gedanken zu machen.
Zeit, sich etwas anderes zu suchen, über das sie sich Sorgen machen konnte.
Sie schob den Kopf aus der Kommandantenluke und sah Glenn dabei zu, wie sie die Ladevorrichtung betätigte. Insgesamt waren vier Packs, drei Vierziger und ein Einhundertfünfer, unmittelbar hinter dem Turm mit dem Oberdeck des SheVa verbunden. Bei der Ladevorrichtung handelte es sich um eine Art Gabelstapler, der sich in mehreren Richtungen bewegen ließ und in spezielle Halterungen an der Unterseite der Packs eingriff. Sobald sie die Verbindung hergestellt hatte – und das war der komplizierteste Teil des Ganzen –, brauchte Glenn bloß den »Ladesequenz«-Knopf zu drücken, worauf das mehrere Tonnen schwere Pack angehoben, in allen drei Dimensionen verschwenkt und schließlich vorsichtig auf der Geschützbettung abgelegt wurde. Sobald das der Fall war, führte das System den Schildzapfen ein und war damit einsatzbereit.
Einfach. So einfach, dass sie bereits geladen hatten, ehe Neun mit Schießen an der Reihe war. Die Frage war, ob der Beschuss fortgesetzt werden sollte.
Im Innenraum waren weitere Packs gelagert. Aber um an die zu kommen, würde man den Kran benutzen müssen und jemanden brauchen, vermutlich Pruitt, der ihn bedienen konnte. Und das bedeutete, dass es etwa eine Stunde dauern würde, um sämtliche Packs neu zu laden. Und das wiederum bedeutete, dass sie wirklich nicht darauf aus war, all ihre Ersatzladungen blind zu verschießen.
»Colonel Mitchell«, sagte sie und schaltete wieder auf das Intercom. »Ich schlage vor, wir verpassen denen von hier aus noch ein Ding und fahren dann entweder weiter auf die Kammlinie zu oder beginnen mit der Fahrt nach Franklin.«
Mitchell tat es jetzt Leid, dass er Kitteket freigegeben hatte. Der weibliche Specialist war ihnen beim Rückzug eher zufällig zugefallen, aber es hatte sich als sehr nützlich erwiesen, jemanden für die ganze Kommunikation zu haben. SheVas waren im Großen und Ganzen recht kommunikationsintensiv. Sie blieben meist an einem Ort oder wurden erst nach sorgfältiger Koordination durch die jeweiligen örtlichen Befehlshaber in Bewegung gesetzt, denen die SheVas zugeordnet waren. Operationsbefehle, Marschbefehle und alles, was damit in Zusammenhang stand, wurde meist schon Tage im Voraus ausgegeben. Sonst konnte es leicht geschehen, dass sie so unwichtige Hindernisse wie Frontstellungen, Hauptquartiere oder in einem ganz besonders peinlichen Fall den gesamten Logistik-»Schwanz« einer Division überrollten. Es hatte schon seine Gründe, dass SheVa-Besatzungen alles, was nicht SheVa hieß – und dazu gehörten auch »kleinere« Panzer –, als »Quet-schies« bezeichneten.
Aber die Schlacht um das Tennessee-Tal war ein einziges Chaos gewesen, und Mitchell war, soweit er davon Kenntnis hatte, ein unabhängiger und unmittelbar dem Armeehauptquartier unterstellter Kommandant. Und das bedeutete, dass er nicht in die Entscheidungskette der örtlichen Division eingegliedert war. Darüber hinaus war die ganze Schlacht, sowohl der Rückzug wie auch der Vormarsch, notwendigerweise wesentlich fließender verlaufen als die meisten Schlachten, bei denen Gerät von der Größe etwa der ägyptischen Pyramiden im Einsatz waren. Und dann waren da auch noch die MetalStorms, das ehemalige Wolfsrudel.
Alles das hatte wesentlich umfangreicheren Fernmeldeverkehr zur Folge, als das für einen SheVa Kommandanten üblich war.
Und das war im Augenblick Mitchells Problem.
»Augenblick, Vickie«, sagte er und schaltete auf eine andere Frequenz zurück. »Whiskey Fünf Echo Sechs-Vier, hier SheVa Neun, Ende.«
»SheVa Neun, Sie sind für dieses Netz nicht autorisiert.«
»Ist ja klasse, Echo Sechs-Vier. Freut mich, dass Sie Ihre Elektronische Kampfführung so gut im Griff haben. Der Punkt ist, dass wir im Begriff sind, uns nach vorne zu bewegen, und wenn wir diesen Marsch nicht koordinieren können, werden wir etwa zwei Kompanien Ihrer Truppen überrollen, Ende.« Er war im Divisionskommandonetz und wusste, dass er eigentlich ein Support-Netz benutzen sollte, wahrscheinlich eines, das speziell für ihn frei gehalten wurde. So wurden SheVas üblicherweise geführt. Aber er hatte keine korrekte Frequenz. Er hatte lediglich einen hastig hingekritzelten Zettel, auf dem »örtliche Division« und eine Frequenz stand.
Willkommen in der Realität, Jungs.
»SheVa Neun, Victor Foxtrott bestätigen.«
»Schauen Sie, zunächst einmal haben die Posties unsere gesamte Funkverbindung geknackt, falls man Ihnen das noch nicht gesagt haben sollte. Einschließlich der gültigen Schlüssel. Zum Zweiten habe ich Ihre Schlüssel nicht. Es tut mir also Leid, ich kann nicht bestätigen. Schauen Sie, wir sind dieses riesige Ding aus Metall, auf einem Kamm in der Nähe von Green's Creek. Wenn Sie genau hinsehen, werden Sie entdecken, dass an der Seitenwand ›US Defense Force SheVa Nine‹ steht und dass wir an der Vorderseite ein großes Bild von einem Hasen haben. Und wir machen uns jetzt bereit, eines Ihrer Bataillone zu überrollen. Können wir also mit dem Theater aufhören?!«
»SheVa Neun, hier Grizzly Sechs, Ende.« Die Stimme klang barsch und hatte einen schwachen Akzent. Sie passte zu dem Namen.
»Grizzly Sechs, hier SheVa Neun, Ende.« Sechs bedeutete, dass es sich um einen Kommandeur handelte. Hoffentlich den Kommandeur der Einheit, die sie jetzt gleich überrollen würden – das würde dann bedeuten, dass die Quetschies vielleicht Platz machen würden.
»Sie haben Recht, aber das heißt noch lange nicht, dass Sie auch der sind, der Sie behaupten. Drehen Sie Ihren Turm hin und her.«
»Abwarten, Grizzly, wir sind gerade dabei, Stunk zu machen.« Mitchell schaltete das Funkgerät stumm und sah zu Pruitt hinüber. »Pruitt, wie weit sind wir?«
»Das war Acht. Wir sind fertig. Vickie möchte mit ihrer Muni sparen.«
»Okay, dann drehen Sie den Turm ein Stück hin und her. Und dass Sie sie in meiner Gegenwart nie mehr Vickie nennen.«
»Geht klar, Boss«, erwiderte der Kanonier und zuckte die Achseln. Er tippte an die Turmsteuerung, ließ ihn ein paar Grad hin und her drehen. »Und was sollte das jetzt?«
»Keine Ahnung«, erwiderte der Kommandant. »Aber wenigstens haben wir wieder Kontakt mit den Jungs vor Ort.« Er drückte auf den Mikroschalter und atmete tief durch. »Grizzly Sechs, Wunsch erfüllt.«
»Roger, willkommen im Netz«, sagte der Kommandeur. »Ich brauche mindestens zehn Minuten, um die Leute in Marsch zu setzen. Wo wollen Sie hin?«
»Da ist ein Sattel auf dem Kamm, direkt gegenüber der Baptisten-Kirche von Savannah. UZB dürfte… Nord 391111 Ost 293868 sein.«
Mitchell kam seine Antwort inzwischen schon lange nicht mehr seltsam vor. Gitterkoordinaten basierten auf imaginären »Linien« auf Landkarten, und je nachdem, mit wie viel Stellen sie angegeben wurden, umso höher war die Genauigkeit der Ortsbestimmung. Bei acht Stellen betrug sie weniger als einen Meter. Er hatte also gerade eine auf den Millimeter genaue Ortsdefinition geliefert, für einen »Tank« war das um runde hundert Meter zu genau.
Er wurde häufig danach befragt. Normalerweise verwendete man beim Militär, wenn man einfach bloß eine Karte las, für Ortskoordinaten höchstens sechs Stellen. Wenn er sie daher mit zwölf Stellen lieferte, löste das gewöhnlich Kommentare aus. Die Antwort, die er darauf zu geben pflegte, war recht einfach: Der Koordinatenrechner der SheVa-Geschütze lieferte die Koordinaten eben mit zwölf Stellen.
Er wusste nicht, warum das so war; vielleicht sollte er Kilzer fragen.
»Verstanden, SheVa«, erwiderte der Kommandeur einen Augenblick später. »Ich melde mich, wenn die Bewegung genehmigt ist. Bis dahin bleiben Sie, wo Sie sind.«
»Roger, nehmen Sie zur Kenntnis, dass ich, nachdem ich von jener Position aus gefeuert habe, beabsichtige, mich nach rückwärts zu bewegen und anschließend diese Kontrollzone zu verlassen. Ich ziehe es vor, das nicht über einen offenen Kanal zu diskutieren. Bitte informieren Sie die entsprechenden Leute. Ende.«
»Einverstanden. Nachdem Sie geschossen haben, essen wir zu Mittag.«
»Roger, Grizzly.«
»Grizzly Sechs, Ende.«
»Puh«, machte Mitchell. »Weiß einer, ob das der Bataillonschef war oder was?«
»Die Einheit hier ist die 147th Infantry Division«, erklärte Kilzer, ohne von dem Blatt Papier aufzublicken, auf dem er herumkritzelte. »Die Einheit hat als Symbol einen Grizzly-Bären.«
»Oh Scheiße«, stöhnte Mitchell. »Das war der Divisionskommandeur?«
Arkady Simosin war im Begriff zu lernen, was es mit der berühmten zweiten Chance auf sich hatte.
Nicht viele Korpskommandeure, die achtzig Prozent ihres Korps verloren hatten, bekamen eine zweite Chance. Die meisten befehligten nicht einmal mehr eine Instandsetzungskompanie. Wahrscheinlich sollte er sich also glücklich preisen.
Nach der Schlacht um Washington hatte man ihn seines Kommandos enthoben und zum Colonel degradiert. Der einzige Grund, dass man ihn nicht ganz aus der Armee geworfen hatte, war zum einen, dass der Ermittlungsausschuss zu dem Schluss gekommen war, es wäre unmöglich gewesen, den Hackerangriff auf das Feuerleitsystem seines Artilleriekorps vorherzusehen und demzufolge zu verhindern, und zum anderen, dass in den modernen Techniken ausgebildete Offiziere in hohem Maße knapp waren. So fand er sich wieder in der Uniform eines Colonels und arbeitete im Planungs- und Ausbildungsstab der Dritten Armeegruppe.
Nach einer Weile hatte man ihn sogar wieder für die Ernennung zum Brigadier in Erwägung gezogen. Dreimal. Die beiden ersten Male war er durchgefallen; ein oder mehr Angehörige des Beförderungsausschusses für Flaggoffiziere waren der Ansicht gewesen, dass er als General nicht akzeptabel sei. Beim dritten Mal freilich hatte er es geschafft. In der guten alten Zeit bekam man diese Chance nur einmal, aber je länger der Krieg dauerte, umso mehr Generäle fielen den Posleen zum Opfer, und das hatte dazu geführt, dass man die Regeln etwas lockerte. Etwas.
Er war in Army J-3 geblieben und anschließend in das Korps von Asheville versetzt worden, als offenkundig wurde, dass die einzigen »Pläne«, die sie hatten, dem Überleben galten.
Asheville war ein schwieriger Fall. Die fünf Divisionen, die dort die Verteidigungsfront bildeten, standen bereits seit einer Ewigkeit ständig im Kampfeinsatz. Wenn man von einigen Festungsstädten auf dem flachen Land absah, waren die Kämpfe vor Asheville wahrscheinlich die härtesten gewesen.
Es gab mindestens drei »leichte« Zugänge zu der Stadt, und die Posleen hatten nach jeder Landungswelle erneut massiert bei allen dreien zugeschlagen. Lander, K-Deks und Lampreys hatten dem planetarischen Verteidigungszentrum getrotzt und es sogar geschafft, innerhalb der Verteidigungslinie zu landen. Und fortwährende sondierende Angriffe – vermutlich einfach bloß die Idee eines Gottkönigs, der es entweder nicht besser wusste oder schlichtweg zu blöd war – stellten ein ständiges Problem dar.
Und deshalb standen die Verbände dort praktisch dauernd an der Front, gewöhnlich drei der fünf Divisionen, kamen fast nie zur Ruhe und wurden auch praktisch nicht ausgebildet. Und die beiden Divisionen, die gerade nicht an vorderster Front waren, betrachteten dies als Erlaubnis, einfach alle fünfe gerade sein zu lassen. Das war schließlich Teil der Begründung für den Austausch, und zwei drittel der Zeit, die sie hinter der Front verbrachten, war ja auch ausdrücklich als »Erholung« ausgewiesen. Aber den Rest der Zeit sollten sie mit Ausbildung verbringen. Also die Fähigkeiten des Einzelnen verbessern, »taktische Übungen ohne Truppen« für die Offiziere und, last but not least, taktische Ausbildung für kleine Einheiten.
In Wirklichkeit waren sämtliche Divisionen damit beschäftigt, ihren Papierkrieg zu erledigen, und was die Mannschaftsdienstgrade trieben, war ihnen egal.
Das war vor mindestens einem Jahr offenkundig geworden, als ein kleiner Posleen-Verband auf dem Butler Mountain Stellung bezogen und von dort aus die Nachschubverbände unter Störfeuer genommen hatte. Man hatte zuerst ein Bataillon, dann eine Brigade und schließlich eine ganze Division der »Erholungs«-Einheiten ausgeschickt und damit beauftragt, den Posleen-Verband, der nicht einmal Kompaniestärke hatte, aus seiner Stellung zu verjagen. Der Gottkönig, der dort das Kommando führte, war hartnäckig und schlau und hatte deshalb die Verteidigungsstellungen wieder aufgebaut und besetzt; dennoch hätte es keine Division brauchen müssen, um ihn aus den Stellungen zu verjagen.
Und wenn von den anderen Posleen in der Umgebung welche auf den Gedanken gekommen wären, ihn zu verstärken, hätte Asheville möglicherweise fallen können.
Das Problem war, dass die Frontverbände sich inzwischen meisterhaft darauf verstanden, ihre automatisierten Waffen zu betreiben, sonst aber so ziemlich alles vergessen hatten. Falls sie es je gelernt hatten.
Der G-3 und der Kommandeur des Korps wurden ihres Kommandos enthoben, und der G-3, der an ihrer Stelle gekommen war, hatte Arkady Simosin angefordert und ihn sofort nach seinem Eintreffen mit der Aufgabe betraut, den Ausbildungsstand der einzelnen Einheiten zu »bewerten«.
Was er vorgefunden hatte, hatte seine schlimmsten Erwartungen übertroffen. Es gab ganze Einheiten, die weder ihre Waffen eingeschossen noch ihre schweren Waffen justiert hatten; es gab ein Panzerlager mit genügend Panzern für zwei Brigaden, aber keine der Brigaden hatte in den letzten drei Jahren auf den Fahrzeugen trainiert.
Seine erste Maßnahme bestand darin, das »Erholungs«-Segment auf ein Drittel der »Etappenzeit« zu reduzieren. Er wusste, dass das nicht ausreichte, dass die Einheiten nicht genügend ausgeruht an die Front zurückkehren würden, aber solange sie nicht wieder gelernt hatten, was es bedeutete, Soldat zu sein, würde das Thema Erholung für sie einfach zweite Priorität haben.
Dann begann er mit Billigung des G-3 zu erforschen, welche Behinderungen »echt« waren und welche nur in der Fantasie der jeweiligen Vorgesetzten existierten. Einige davon wurden ihres Kommandos enthoben, andere würden wahrscheinlich lange Zeit ziemlich beleidigt sein. Na schön. Hier ging es darum, sicherzustellen, dass die Soldaten kampfbereit waren und nicht etwa nur in ihren Stellungen hockten und zusahen, wie sich die Posleen auf ihren Waffen aufspießten.
Körperliche Ertüchtigung, Waffenausbildung, taktische Ausbildung und mechanisierte Infanterie – alles wurde in die neuen Ausbildungslehrgänge hineingezwängt. Darüber hinaus wurde natürlich überprüft, ob die Soldaten ihren eigentlichen Job ordentlich verrichten konnten, und der bestand selbstredend nach wie vor darin, die automatisierten Waffen des Walls in Gang zu halten und zu bedienen.
Langsam, bedrückend langsam, brachte er es schließlich mit Drohungen und gutem Zureden und indem er eineinhalb Jahre täglich mindestens achtzehn Stunden auf den Beinen war und immer wieder auch persönlich nachsah, wie alles lief, wenigstens ein paar Einheiten so weit, dass sie immerhin im Dunkeln und mit beiden Händen ihren Hintern finden konnten. Eine Einheit, die das nicht schaffte, war die 147th Division.
Das war natürlich nie ihre Schuld. Wie es schien, hatten sie jedes Mal, wenn sie in die Etappe zurückkamen, am Wall gewaltige Verluste erlitten. Wo andere Einheiten bei einem massierten Angriff fünf oder zehn Prozent an Verletzten und Gefallenen verloren, betrugen die Verluste der 147th immer dreißig, vierzig, ja sogar fünfzig Prozent. Sie brauchten also ständig neue Rekruten. Und die Rekruten waren immer nur zur Hälfte ausgebildet.
Nachdem die 147th zum zweiten Mal ihren Etappenzyklus durchlaufen hatte, fuhr Arkady selbst zum Wall mit, als sie dorthin zurückkehrten. Und nachdem die Einheit ihren Ausbildungszyklus in der Etappe abgeschlossen hatte, waren die Rekruten nur mit Mühe fähig, ihre Waffen zu warten und voll zu nutzen, das war ihm wohl bewusst, aber statt am Wall selbst das Training massiv fortzusetzen, hatte die Division sich dort wie die Schnecken niedergelassen. Die wenigen Rekruten, mit denen er redete, wussten, dass sie keine Ahnung davon hatten, wie man gegen Posleen kämpft, selbst aus so massiv befestigten Stellungen. Aber ihre Offiziere und Unteroffiziersdienstgrade lehnten jedes Ansinnen ab, die Ausbildung fortzusetzen. Und wenn man die »Veteranen« fragte, so waren die einhellig der Meinung, dass es sowieso keinen Sinn hatte, die grünen Neulinge auszubilden. Die meisten von ihnen würden ohnehin beim ersten Angriff fallen. Warum sich also die Mühe machen?
Wie gesagt, das war alles nie ihre Schuld.
Einer der wenigen militärischen Aphorismen, an die Arkady vorbehaltlos glaubte, war, dass es »keine schlechten Regimenter, bloß schlechte Offiziere« gibt. Er war zwar speziell für die Ausbildung in der Etappe zuständig, aber ein Wort zu seinem G-3 reichte aus, dass dieser ihn beauftragte, sich speziell um die Methoden der 147th zu kümmern, gerade rechtzeitig für den nächsten Angriff.
Falls jemand Mittel und Wege gefunden haben sollte, die Gedanken von Posleen zu lesen, dann war das ganz sicherlich nicht der G-2 des in Asheville stationierten Korps. Marshall war kein übler Bursche, aber die Posleen überstiegen ganz einfach seine Vorstellungskraft oder die seiner Analysten. Arkady Simosin hatte sich das tägliche Briefing angehört und tauchte auch von Zeit zu Zeit dort auf, um sich zu vergewissern, dass »sein« Major nicht plötzlich anfing, in Zungen zu sprechen oder dergleichen. »Vertrauen ja, aber anschließend kontrollieren« war eine Maxime, die sich ebenso gut auf die handwerkliche Kunst der Führung wie auf nukleare Diplomatie anwenden ließ.
Der junge Lieutenant Colonel von G-2 – seit es routinemäßige Verjüngungsbehandlungen gab, sahen sie alle wie junge Spunde aus, aber dass dieser Typ auch wirklich einer war, fünfunddreißig vielleicht, allerhöchstens vierzig, war offensichtlich – hatte soeben seine Präsentation beendet, in der er zu dem Schluss gelangt war, dass »nur zwei von fünfunddreißig Indizes darauf hindeuten, in der nächsten Woche sei mit einem größeren Angriff der Posleen zu rechnen«. Mit anderen Worten: Alle konnten es sich wieder bequem machen und es sich gut gehen lassen. Soeben beendet, und der Typ von der Korps-Ari war gerade etwa in der Mitte seiner täglichen Valiumlieferung, als die Posleen Rabun Gap einnahmen und sich anschickten, sozusagen durch die Hintertür Asheville anzugreifen.
Mit den Posleen vor beiden Toren und immer mehr durch die ungeschützte Hinterseite heranrückenden Aliens hatte der Korpskommandeur keine andere Wahl gehabt, als die 147th dafür einzusetzen, die von Rabun anrückenden Posleen aufzuhalten. Das Rabun-Korps hatte bei dem unerwarteten Angriff massive Verluste erlitten, was nicht zuletzt mehreren nuklearen Detonationen eines zerstörten SheVa-Geschützes und mehrerer Lander zuzuschreiben war, die ein weiteres SheVa beim Rückzug abgeschossen hatte. Die Folge davon war, dass die ganze Einheit entweder ersetzt oder von Grund auf neu aufgebaut werden musste.
In der Zwischenzeit sollte das Asheville-Korps »ergänzend zu seinen anderen Pflichten« anfangen, die Posleen wieder aus dem »Flaschenhals« hinauszudrängen, sie durch enge Gebirgstäler und Pässe zurückzutreiben. Fast eine Million Zentauren aus dem Tal und von der schmalen Lebensader, der 1-40, zurückzudrängen, die die einzige Gewähr für das Überleben von Asheville war.
Eine gewaltige Aufgabe für Truppen jeder Art. Und ausgerechnet die 147th bekam sie.
Es war eine Aufgabe für die Zehntausend oder für die gepanzerten Kampfanzüge. Ein Auftrag für eine mechanisierte Eliteeinheit der Infanterie mit massiver Artillerieunterstützung.
Aber die 147th bekam ihn.
Die Division hatte unglaublich lange gebraucht, um sich überhaupt in Bewegung zu setzen. So lange, dass ein mobiler Verband der Posleen den äußerst wichtigen Balsam-Pass eingenommen und damit nicht nur die Mehrzahl des Rabun-Korps, sondern auch das einzige SheVa abgeschnitten hatte, das den Gegenangriff hätte unterstützen können.
Schließlich hatte die 147th versucht, den Pass anzugreifen. Und es erneut versucht. Und noch einmal. Dieser Versuch kostete die 147th Division nicht übermäßig viele Verluste, aber für das, was die Division damit erreichte, entschieden zu viele.
Da Arkady in Anbetracht des Rückzugs der letzten Einheit nicht viel zu tun hatte, schickte der Kommandeur des Korps ihn nach vorne, damit er sich ein Bild davon machen konnte, was da eigentlich im Gange war. Und das entsprach ziemlich genau seinen Erwartungen. Der Highway 74 zum Balsam-Pass hinauf war eine lange Kette zum Stillstand gekommener Fahrzeuge mit Soldaten, die in Doppelreihe neben der Straße bergauf marschierten. Die Fahrzeuge hatten keinen Verteidigungsring gebildet. Keiner der Soldaten schien zu wissen, was er eigentlich machte, wohin er ging, noch hatte Arkady den Eindruck, dass es ihn sonderlich interessierte. Sie waren alle mürrisch und verärgert darüber, dass man sie aus ihren bequemen Kasernen geholt hatte. Und keiner von ihnen schien auch nur die leiseste Ahnung von Feuer oder Bewegung im Gefecht zu haben.
Der Divisionsgefechtsstand war noch schlimmer. Simosin erinnerte sich an eine Schilderung des britischen Expeditionskorps in der ersten Schlacht in Frankreich. Wie hatte es da doch geheißen? »Generäle, die um das Zelt des Hauptquartiers streifen und nach einer Schnur suchen«. Er hatte das immer für einen Witz gehalten, bis er jetzt den Divisionskommandeur der 147th herumlaufen und jeden fragen sah, ob er einen gespitzten Bleistift hätte. Er selbst hatte einen Bleistift in der Tasche stecken.
Die »Front« war nicht viel besser. Ein Bataillon hatte den Auftrag erhalten, den Pass zurückzuerobern, aber die Straßensperren, die die Posleen errichtet hatten, hielten sie auf. Der Posleen-Verband hatte einige seiner »Normalen« die Straße hinuntergeschickt, wo sie jetzt aus der Deckung heraus die Menschen aufhielten.
Vor dem ersten Angriff hatte das Bataillon nicht einmal Kundschafter ausgeschickt, und die ersten paar Trucks voll Soldaten waren praktisch in einen Hinterhalt gefahren. Und das, obwohl der Alien am anderen Ende seiner Waffe ein Halbidiot war. Die Posleen hatten allerhöchstens ein Platoon getötet, aber plötzlich waren alle Einheiten davon überzeugt, dass die Posleen überall sein mussten.
Der Bataillonskommandeur trödelte herum, der S-3 quatschte dämliches Zeug und der XO hatte einen Nervenzusammenbruch. Dabei sah es so aus, als ob ein einziges Posleen-Normales sie zum Stillstand gebracht hätte. Befehle an die vorderen Kompanien, weiter vorzurücken, wurden ignoriert; die Kompaniechefs schafften es nicht, ihre Leute hochzubekommen. Anforderung von Artilleriebeschuss führte zu Feuer, das überall, bloß nicht im Ziel ankam und allenfalls einige Soldaten in den vorderen Rängen traf. Schließlich schaffte es eine Granatwerferabteilung, den einsamen Posleen zu erledigen, und einige der Soldaten konnten dazu bewegt werden, nach vorne zu kriechen. Aber bis zum Pass waren es fast viertausend Meter, und im Kriechgang würden sie nicht so schnell dort eintreffen.
Arkady war ins Korpshauptquartier zurückgekehrt und hatte dort eine knappe und etwas profane Schilderung der Lage am Pass geliefert. Der Korpskommandeur überlegte kurz und diktierte dann eine kurze Notiz.
»Major General (Brevet) Arkady Simosin wird anstelle von General Wilson Moser zum Kommandeur der 147th Infantry Division ernannt. General Wilson Moser wird abgelöst.«
»Arkady, Sie haben vierundzwanzig Stunden, um es bis Rabun Gap zu schaffen«, sagte der Kommandeur.
»Das wird ziemlich scheußlich werden.«
»Ist mir egal. Sie schaffen es bis Rabun oder in der Nähe und Sie kriegen Ihre Sterne auf Dauer.«
Er hatte seine zweite Chance. Er lernte dabei, dass die zweite Chance teurer war, ganz gleich wie viel Mühe die erste gekostet hatte.
Im Divisionshauptquartier hatte er die Notiz General Moser übergeben und sich dann eingelesen. Anschließend gab er dem Stabschef einige Befehle.
»Sorgen Sie dafür, dass dieses heillose Durcheinander wieder unter Kontrolle kommt. Wenn ich zurückkomme, erschieße ich den oder die Betreffende. Sollte ich einen einzigen Offizier davonrennen sehen, werde ich ihn abknallen wie einen Hasen. Wenn die Landkarten bis dahin nicht aktualisiert sind, erschieße ich Sie, Sie stehen alle unter Bewährung. Wir gehen nach Rabun Gap. Wenn wir dort ankommen und ich habe noch ein einziges Platoon übrig, dann wird das zumindest ein Platoon sein, das weiß, was Krieg bedeutet.«
Dann war er nach vorne zur Front geeilt. Die Kompanie dort war bereits wieder zum Stillstand gekommen, ein weiterer Vorposten der Posleen hatte sie aufgehalten.
Der Kompaniechef lag neben der Straße auf dem Bauch, als er auf ihn zuging.
»Runter, General!«, hatte der Captain geschrien. Ein Stück weiter vorn, an der Straße, war das Knattern von Railgunfeuer zu hören, und Arkady hörte die Geschosse über sich hinwegpfeifen.
»Captain, sterben Ihre Leute um Sie herum?«
»Nein, Sir.«
»Dann und nur dann dürfen Sie sich auf den Bauch legen, Captain.«
Die Kompanie kauerte beiderseits der Straße immer noch in taktischer Marschposition. Soweit er das feststellen konnte, gab es keinerlei Versuche, vorzurücken.
Er entdeckte den Scharfschützen der Kompanie am Straßenrand. Der Mann presste sich sein Barrett Kaliber .50 an die Brust.
»Junger Mann, wissen Sie, wie man dieses Ding abfeuert?«
»Irgendwie…«
»Hergeben.« Er nahm das Gewehr und die Ghillie-decke des Scharfschützen und rutschte die Böschung hinunter.
Die Kompanie kauerte hinter einer Kurve der zum Pass hinaufführenden Straße. Links gab es einen Graben und eine fast senkrecht in die Tiefe abfallende Klippe, an deren Fuß ein Bach verlief. An der Kehre selbst war ein kleiner Hügel, durch den man die Straße gesprengt hatte. Er rutschte die Böschung hinunter, brach sich dabei fast den Knöchel und arbeitete sich dann keuchend auf der rechten Seite den Hügel hinauf. Oben angelangt, wurde ihm bewusst, wie ein Achtzehn-Stunden-Tag und der Verzicht auf täglichen Sport der Kondition eines Menschen zusetzen konnten. Aber er legte sich die Ghilliedecke über die Schultern und robbte trotzdem weiter nach vorn.
Das Posleen-Normale befand sich in einer ähnlichen Position, etwa fünfhundert Meter weiter die Straße hinauf – nicht, dass Simosin es hätte sehen können. Er spähte in die Runde, aber da von den eigenen Leuten niemand zu sehen war, schoss der verdammte Gaul auch nicht. Angeblich setzten die Posleen überhaupt keine Scharfschützen ein; irgendwie war das nicht fair.
»Commander!«, schrie er hinunter. »Einer Ihrer Männer soll aufstehen!«
»Was?!«
»Ich muss sehen, wo der Posleen ist. Einer Ihrer Männer soll aufstehen, damit der Gaul ihn sehen kann.«
»Ich…« Der Mann zögerte. »Ich glaube nicht, dass die das tun werden!«
»Okay«, erwiderte der General und jagte einen Schuss in der Nähe des vordersten Mannes der Kompanie gegen die Bergflanke. »Sie dort! Gehen Sie auf die Straße hinaus. Sobald der Posleen feuert, können Sie sich wieder verstecken.«
Er konnte das Gesicht des Soldaten ganz deutlich sehen. Der Junge war vielleicht siebzehn und hatte panische Angst. Er sah zu dem Hügel hinüber, wo der General war, und schüttelte den Kopf. »Nein!«
Arkady atmete tief durch und jagte ihm einen Schuss in den Leib. Das Geschoss Kaliber .50 prallte hinter dem Private vom Felsen ab und fetzte von hinten ein zweites Mal durch ihn, dass das Blut spritzte.
»Sie! Hinter ihm! Auf die Straße. Sofort!«
Der Mann gehorchte. Und jetzt entdeckte Arkady den Posleen endlich. Es brauchte nur einen Schuss.
Als er zum Gefechtsstand der Kompanie zurückkehrte, sah er seinen Sergeant Major mit schussbereitem Gewehr hinter dem Kompaniechef stehen.
»Hätten Sie Ihren Job getan, würde der Junge noch leben«, erklärte der General eiskalt. »Wenn Ihre Männer sich nicht bewegen, müssen Sie sie dazu bringen. Und wenn sie Ihren Befehlen nicht gehorchen, müssen Sie sie dazu bringen, dass sie den Befehlen gehorchen. Ich gebe Ihnen eine zweite Chance. Ich will, dass Sie diese Straße hinaufgehen. Wenn Sie es nicht schaffen, hole ich mir einen anderen, der es schafft. Und wenn ich Sie ablösen muss, könnte es sein, dass man Sie in einem Body-Bag wegträgt.«
Er wandte sich an den Scharfschützen und warf ihm die fünfzehn Kilo schwere Waffe hin. »Lernen Sie, wie man mit dem Ding umgeht. Wenn Sie mich aufs Korn nehmen wollen, sollten Sie nicht daneben schießen.«
Seine Formulierung sprach sich schnell herum.
Nachdem ein Nuke den größten Teil der Posleen erledigt hatte und ein Angriff die wenigen Überlebenden von der Rabun Seite her erfasst hatte, schafften sie es bis zum Pass. Und auf der anderen Seite kamen die Dinge allmählich in Bewegung. Am Ende hatte er eine ganze Anzahl Leute abgelöst, und die Leute, die er eingesetzt hatte, lösten ihrerseits ein paar andere ab, aber die Division spurte jetzt allmählich.
Er hatte gehört, dass es noch ein paar Vorfälle von »friendly fire« gegeben hatte, zumindest einer davon von vorn nach hinten und nicht etwa umgekehrt. Aber das war ihm gleichgültig. Als sie den Pass geräumt hatten, hatte er ein Bataillon Abrams und Bradleys mit Kundschaftern ausgeschickt, die an dem rauchenden SheVa vorbei die Straße hinuntergerast waren. Sie hatten Dillsboro nach nur leichtem Widerstand eingenommen und waren dann unter zunehmendem Beschuss die Straße nach Green's Creek hinaufgerattert. Der Mann, den er anstelle seines Artillerieoffiziers eingesetzt hatte, hatte schließlich Leute gefunden, die es fertig brachten, die Längsseite einer Scheune zu treffen, und der Ersatz für seinen Logistikoffizier hatte herausgefunden, wie man LKWs in Marsch setzt. Und er hatte ihnen dazu bloß zu erklären brauchen, dass es recht vorteilhaft wäre, sich an das zu erinnern, was sie einmal gelernt hatten, andernfalls würden sie umlernen müssen.
Es machte ihm keinen Spaß, ein gemeiner Hund zu sein. Und es hatte ihm wirklich keinen Spaß gemacht, diesen armen Teufel von Private zu töten. Aber dieser eine Schuss hatte mehr dazu beigetragen, die Division auf den richtigen Weg zurückzuführen, als zwei Monate Ausbildung das vermocht hatten. Wahrscheinlich sogar mehr, als wenn er jeden zehnten Mann hätte erschießen lassen.
Aber bei Green's Creek waren sie erneut aufgehalten worden, und diesmal war das eher gerechtfertigt. Die Soldaten ganz vorne waren mit solchem Elan vorgegangen oder hatten solche Angst vor dem, was hinten auf sie wartete, dass sie bei dem Versuch, die Posleen aus dem Savannah Valley zu vertreiben, von diesen zu Hackfleisch gemacht worden waren. Und die nächste Brigade hatte bei dem Versuch, eine taktisch wichtige Höhenposition einzunehmen, noch mehr Verluste erlitten. Aber sie hatten den Hügel genommen. Das einzige Problem war, dass sie es statt mit von dem Atombeschuss demoralisierten, verstreuten Posleen mit scheinbar endlosen frischen Verbänden zu tun hatten, die vom Rocky-Knob-Pass herunterströmten. Seine Verbände bluteten aus, und die Posleen schienen kein Ende zu nehmen, als endlich – endlich! – das SheVa auftauchte.
Er hatte ein paarmal in der Umgebung dieser Monstrositäten gekämpft, aber eines, das so ausgestattet war, hatte er noch nie zu Gesicht bekommen. Oben auf seinem Turm war etwas, das wie ein 105-er MetalStorm aussah, und vorne an der Wanne glaubte er nachträglich angebrachte Panzerung zu erkennen. Und der Springbrunnen war auf spektakuläre Weise meilenweit zu sehen gewesen. Offensichtlich war das, was der Reparaturtrupp bei Scott's Creek gemacht hatte, mehr als bloß eine provisorische Schnellreparatur auf dem Schlachtfeld gewesen.
Wenn das Ding direktem Feindbeschuss gewachsen war, und so sah es aus, und wenn es imstande war, ins Tal hinunterzuschießen, würde er vielleicht, wenn er zugleich einen Angriff aus ihren augenblicklichen Stellungen startete, die Posleen bis ans Ende des Savannah-Tals vor sich her treiben können. Das Terrain dort eignete sich sogar noch besser, um die Posleen aufzuhalten, und im Verein mit den Nuke-Granaten, die das SheVa auf dem Pass abgefeuert hatte, würden sie vielleicht den Durchbruch schaffen.
Wenn… aber… vielleicht.
Es galt keine Zeit zu verlieren.
»Sohn, fahren Sie mich zum zweiten Bataillon«, sagte er. Er hatte sich angewöhnt, in einem Humvee auf dem Gefechtsfeld herumzukutschieren; und inzwischen hatte sich herumgesprochen, dass der General – ganz gleich, wo man sich gerade befand – jederzeit auftauchen konnte. »Mal sehen, ob wir den Bataillonsgefechtsstand finden können.«
»Yes, Sir.«
Die Bataillonschefs hatten sich angewöhnt, sich vorne an der Front aufzuhalten. Nur so konnte man sicherstellen, dass das meiste von dem, was man befahl, auch geschah. Und da man dort vermutlich auch den General sehen würde, kam es einfach nicht in Frage, sich in einem Befehlsstand hinter der Front zu verstecken.
Und das wiederum bedeutete, dass er mit einem vermaledeiten Humvee mitten ins Feuer der Posleen würde hineinfahren müssen. Wieder einmal.
Aber diesem eiskalten, wütenden Offizier würde er nicht mit »Nein« antworten.
Lieber die Posleen mit dem Taschenmesser angreifen.