15n
Xias Wohnzimmer war beeindruckend. Während er alles zusammensuchte, was sie brauchten, um beginnen zu können, stand Alexandrine an einem der bodentiefen Fenster und versuchte, ihre Nerven unter Kontrolle zu bekommen.
Der Ausblick auf die Bucht war atemberaubend. Alexandrine gab es auf, sich beruhigen zu wollen, und ließ sich stattdessen vollkommen in die Schönheit dieser Szenerie fallen, betrachtete den Mond, der über dem Wasser stand, während die Anspannung ein Loch in ihren Magen brannte.
Irgendwann begann sie, auch den Raum um sich herum wahrzunehmen, und sie sah sich gezwungen, das Bild zu korrigieren, das sie sich von dem Mann gemacht hatte, der dieses Haus besaß. »Elegant« war nicht das richtige Wort, »eindrucksvoll« traf es schon besser.
Eine Wand war in einem dunklen Blau gehalten, die anderen in strahlendem Weiß. Überall fielen ihr derartige starke Kontraste auf. Verschiedene nepalesische Teppiche setzten Akzente auf dem Bambusparkett. Xia schien eher strenges Design zu bevorzugen, einer der Teppiche jedoch wirkte wie eine wahre Explosion an Farben und Mustern.
Eine terrakottafarbene Couch stand schräg vor einem der Seitenfenster, eine weitere, kleinere Couch befand sich vor dem mit Gas betriebenen Kamin, der in eine Wand zwischen zwei Fenstern eingelassen war.
An den Wänden hingen tibetanische und nepalesische Masken, einige waren scheußlich bemalte Teufelsfratzen, andere aus dunklem Holz geschnitzte Tiergesichter. Es gab auch gerahmte Fotografien, allesamt schwarzweiße Naturaufnahmen. Auf dem Kaminsims tummelten sich Tierfiguren, manche abstrakt, manche erschreckend lebendig wirkend.
Als Xia den Raum betrat, hielt er in den Armen etliche Dinge, die er vor dem Kamin arrangierte. Eine verkorkte Glasflasche, eine Duftlampe, in deren Schale er Öl goss. Dann vollführte er irgendwelche Gesten mit der Hand, murmelte ein Wort, und eine Flamme sprang unter der Schale auf. Ein Holzkästchen fand seinen Platz daneben, ebenso sein Messer, das er aus der Scheide gezogen hatte.
Alexandrines Magen zog sich zusammen.
Schließlich öffnete er das Kästchen, und sie erkannte die Pillen, die darin lagen: Copa. Eine krümelte er in das Öl, und sie hätte schwören können, dass Funken über der Oberfläche tanzten.
Alexandrine ging zu ihm hinüber. Sie traute sich nicht, etwas zu sagen, weil sie fürchtete, dass er sofort ihre Angst bemerken würde. Ein Teil von ihr wollte fortrennen.
Während sie dort stand und den Duft des sich erwärmenden Öls einatmete, formulierte sie in Gedanken, wie sie ihm mitteilen würde, warum sie das Ritual doch nicht durchziehen wollte. Das Amulett gehörte ihr. Ihr. Ihr ganz allein. Sie würde sterben, wenn sie es hergab. Und das Copa war auch keine gute Idee.
Xia hielt eine weitere der Pillen hoch. »Es wird bei dir anders wirken als bei mir. Manchmal verliert ein Magier die Orientierung, wenn er es zum ersten Mal nimmt. Ich habe schon gesehen, wie das geschah.«
»Inwiefern verliert er die Orientierung?«
»Das kommt drauf an.« Seine Augen wechselten zwischen Eis- und Meeresblau, und Alexandrine fragte sich unwillkürlich, welchen Erinnerungen er nachhing. Dachte er an die Hexe, die ihn an Rasmus verraten hatte? Je heller seine Augen wurden, desto angespannter war er, das hatte sie inzwischen begriffen.
»Aber ich bin auf jeden Fall bei dir«, versprach er. »Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas passiert, Alexandrine.«
Alexandrine sah sich zwei Impulsen ausgesetzt, die gegeneinander wirkten. Der eine, neuere, war der Drang, den Talisman um jeden Preis zu behalten. Der andere, viel ältere, speiste sich aus der unbeschreiblichen Sehnsucht, endlich einmal auch etwas Bedeutendes mit ihrer Magie bewirken zu können.
Sie starrte auf die Pillen auf seiner Handfläche.
»Hält es an?«, fragte sie. »Ich meine, ist der Effekt dauerhaft oder verschwindet er wieder?«
Xia ging hinüber zu der größeren Couch und machte ein Zeichen, dass Alexandrine zu ihm kommen sollte. Sie zog ihr Shirt noch ein Stück weiter herab, bevor sie sich setzte. »Man muss Copa schon in sehr hohen Dosen über einen langen Zeitraum nehmen, damit die Wirkung auf Dauer anhält«, erwiderte er. »Die meisten Magier, von denen ich weiß, dass sie abhängig waren, starben, bevor sie diesen Punkt erreicht hatten.«
»Und die anderen?«
»Sie sterben alle daran, wenn sie nicht aufhören, Copa zu nehmen.« Er lehnte sich zurück. »Früher oder später bringt es jeden Magier um.«
»Na, super!«
»Mach dir keine Sorgen. Es wird keinen Schaden bei dir anrichten, schließlich nimmst du es jetzt zum ersten Mal. Du brauchst also keine Angst zu haben, dass du gleich tot umfällst. Außerdem wird die Wirkung schnell wieder nachlassen, wenn du nur eine Pille nimmst.« Er legte eine Hand auf ihren Oberschenkel, ganz lässig. »Und du bist kein Typ, der zur Sucht neigt, Alexandrine.«
»Und wenn du dich irrst?«
Xia zog eine Schulter hoch. »Tue ich nicht.« Der Druck seiner Finger wurde fester.
Alexandrine drehte sich leicht, legte die Arme auf die Rückenlehne der Couch und zog die Beine unter sich. »Nett, dass du an mich glaubst«, meinte sie.
»Warum auch nicht? Also, der psychische Effekt zeigt sich erst später, soweit ich weiß.« Er strich sich das Haar aus der Stirn. »Aber es gibt ein eindeutiges Anzeichen, dass das Copa zu wirken beginnt: Deine Augen verändern sich. Die Iris nehmen die Farbe von dunklem Gold an.«
»Ach, von Gold?« Sie war schrecklich nervös und fühlte sich ganz zittrig. »Dürfte recht hübsch aussehen.«
Er fuhr mit der Fingerspitze ihre Augenbrauen nach. »So, wie sie jetzt sind, sind deine Augen viel hübscher.«
Alexandrine berührte sein Haar. Seine Locken fühlten sich weich an. »Das Kompliment kann ich zurückgeben. Habe ich schon mal erwähnt, dass du wunderschöne Augen hast? Aber wahrscheinlich hörst du das jeden Tag von einer Frau.«
»Ehrlich gesagt, nein.« Er legte eine Hand auf ihre Schulter, streichelte sie sanft, und Alexandrine beugte sich ihm entgegen.
»Vielleicht sollten wir doch jetzt miteinander schlafen«, schlug sie vor. »Wer weiß, ob wir nachher noch die Gelegenheit haben werden.«
Nun legte er die Hand an ihre Wange. »Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas ›Unangenehmes‹ passiert. So eilig haben wir es nicht, Alexandrine.«
»Ist gut.« Sie verspürte einen leichten Druck in ihrem Kopf, so, als stünde sie in einem Aufzug, der zu schnell fuhr. Zog Xia Magie?
Er hielt ihr eine Hand hin. Auf der Innenfläche lag eine dreieckige gelbe Pille.
Alexandrine nahm sie.
»Denk dran, dass ich bei dir bin«, sagte er. »Okay?«
»Also rein damit«, sagte sie. Das Zeug schmeckte grässlich. Abscheulich. Das Copa hatte einen erdigen, muffigen und auch leicht bitteren Geschmack. »Igitt!«
»Du sollst es nicht kauen. Schluck es einfach runter.«
»Schön, dass du mir das jetzt schon sagst. Bah!« Das Copa zerbröselte auf ihrer Zunge, aber es gelang Alexandrine, es hinunterzuschlucken. »Und was ist mit dir?«
»Mit mir?« Er beugte sich näher zu ihr. »Es macht mich ganz heiß, wenn ich dich hier in meinem Shirt sitzen sehe und weiß, dass du nichts darunter anhast.«
»Du bist notgeil.«
»Ich weiß.« Xia rückte noch ein Stückchen näher.
»Nimmst du auch von dem Copa?«
Seine Antwort bestand darin, dass er drei Pillen aus dem Kästchen holte und sie schluckte, als wären sie seine Lieblingsdrops.
Alexandrine zog die Augenbrauen hoch.
»Ich bin größer und schwerer als du«, erklärte er. »Damit es wirkt, brauche ich mehr von dem Zeug.«
Alexandrine runzelte die Stirn. »Deine Augen haben aber nicht die Farbe gewechselt.«
Xia strich ihr leicht über den Arm. »Baby, ich bin ja auch keine Hexe«, erwiderte er.
»Ich auch nicht«, sagte Alexandrine leise. »Jedenfalls nicht wirklich. Ich bin einfach nur eine Magierin ohne Magie.« Sie rührte sich nicht. Ihr Puls ging heftig, aber das war sicher nur die Angst, jedenfalls redete sie sich das ein. Nun ja, ein bisschen Lust war auch dabei. »Ich fühle mich nicht anders als sonst«, stellte sie fest. »Wie lange muss ich noch warten, bis etwas passiert?«
»Nicht lange. Nur noch ein paar Sekunden.«
Alexandrine stützte ihr Kinn auf ihren Arm. War sie jetzt erleichtert oder enttäuscht? Sie war sich nicht sicher. Ein bisschen von beidem wohl. Sie empfand überhaupt nichts. Nichts, was irgendwie anders gewesen wäre. Keinen anderen Bewusstseinszustand. Keine Magie, die in ihr aufstieg und nur darauf wartete, benutzt zu werden. Was für eine Verschwendung. Das Copa funktionierte nicht bei ihr.
»Ich bin überhaupt keine Hexe. Das Zeug zeigt keine Wirkung bei mir«, sagte sie.
Xia strich mit seinem Finger über die Haut unter ihrem rechten Auge. »Falsch gedacht, Baby.« Seine Stimme klang unglaublich sexy dabei.
Inzwischen war der Geschmack verschwunden, den die Pille hinterlassen hatte, und Alexandrine spürte noch immer nichts.
Xia stand auf und zog sie hoch, dann führte er sie in ein Badezimmer, das an den Wohnraum angrenzte.
Alles darin war schwarz. Alles. Die Kacheln, die Wände, die Decke, die Armaturen. Er hatte sogar schwarze Seife. Und schwarze Handtücher.
Xia schob sie vor den Spiegel, der über dem Waschbecken aus schwarzem Granit hing. »Schau dich an«, forderte er sie auf.
Alexandrine schaute. Und blinzelte. Und musterte ihr Spiegelbild genauer. Ihre Augen zeigten nicht mehr das vertraute Braun, das sie jeden Tag sah, sondern einen wärmeren Ton. Gold.
»Himmel noch mal«, flüsterte sie und stützte sich mit einer Hand neben dem Spiegel ab. Dann schloss sie die Augen, senkte den Kopf und schüttelte ihn, als könne sie dadurch die Farbe verschwinden und alles wieder normal werden lassen.
Langsam öffnete sie die Augen wieder. Lenkte ihren Blick nach rechts. Offensichtlich hatte Xia nirgendwo schwarzes Toilettenpapier gefunden. Die weiße Rolle hob sich ganz deutlich von der Wand ab. Und sie konnte auch alles andere genau erkennen.
Alexandrine schaute erneut in den Spiegel. Ihre Augen waren immer noch golden statt braun. Sie richtete ihren Blick auf Xias Spiegelbild.
Na und? Was machte es schon, dass ihre Augen nicht normal waren? Die von Xia waren es auch nicht. Waren es nie gewesen.
»Und jetzt?«, fragte sie.
Xia kam näher. Er blickte ihr Spiegelbild an. »Kannst du ziehen?«, wollte er wissen.
Sie wandte sich zu ihm um, und sie waren einander so nah, dass sie sich fast berührten. »Keine Ahnung.«
»Versuch es.« Xia hob mit einem Finger die Lederschnur an, an der der Talisman hing. Nur ein bisschen, doch es reichte, um Alexandrine Furcht empfinden zu lassen. Dann zog er seine Hand zurück, und sie fühlte sich wieder normal.
»Kannst du es?«, fragte er.
Sie versuchte, Zugang zu ihrer Magie zu finden, doch wie üblich tat sich nichts.
»Nein«, erwiderte sie. »Ich habe es noch nie steuern können. Meine Magie hat ihren eigenen Willen.
»Verdammt«, flüsterte er, und Alexandrine zuckte mit den Schultern. Xia griff in seine Tasche. »Hier.« Er gab ihr eine weitere Pille, und diesmal schluckte sie sie einfach so hinunter.
»Was, wenn es nicht funktioniert? Es wäre verdammt unfair, wenn ich für nichts und wieder nichts von diesem Mistzeug abhängig würde.«
Wieder legte er eine Hand auf ihre Wange, und Alexandrine stand regungslos da. Seine Berührung ging ihr durch und durch.
»Es wird funktionieren«, sagte Xia. »Ich kann deine Magie fühlen, Alexandrine, und glaub mir, sie macht mich wahnsinnig an. Es wird klappen, ganz bestimmt.«
»Und warum kann ich dann gar nichts tun?« Sie wusste, dass ihr Frust in ihrer Stimme durchklang, denn Xia streichelte ihre Wange. »Ich bin eine Versagerin. Wie ich es immer war.«
»Bist du nicht. Magier, die lernen, ihre Magie zu beherrschen und dies überleben, wissen von Anfang an, wer und was sie sind. Sie leben in ihrer Magie. Sie atmen sie. Sie lernen und studieren jahrelang, bevor sie hinaus in die Welt gehen.«
Ihr Kopf schmerzte, und sie rieb sich die Schläfen, um die Anspannung zu lösen. Es half nicht. Auch ihre Sehkraft schwand. Sie konnte nicht mehr alles klar erkennen.
Sanft drückte Xia seine Finger gegen ihre Stirn. »Und sie lernen, Monster wie mich zu töten.«
Sie lehnte sich an die Wand neben dem Waschbecken, die Hände hinter ihrem Rücken. Xia schaute weg, und Alexandrine stellte fest, dass ihre Augen plötzlich ganz seltsame Sachen machten. Xias Gesicht verschwand. Dann blickte er sie erneut an, und prompt konnte sie ihn wieder sehen. Direkt vor sich.
Alexandrine stieß ihn weg. »Ich bin kein Mörder.« Auch ihr Magen spielte plötzlich nicht mehr mit. »Ich habe noch nie jemanden getötet, und ich werde auch jetzt nicht damit anfangen, ganz bestimmt nicht.«
Sie ging schwankend an ihm vorbei, doch plötzlich war der Raum nicht länger da. Wohin auch immer sie blickte, sie sah nichts als Schwärze, nur am Rand ihres Sichtfeldes sprangen Regenbogen auf, die verschwanden, sobald sie hinschaute. Ihr Gehirn verstand nicht, was sie wahrnahm, war nicht in der Lage, die Informationen zu einem bekannten Bild zusammenzusetzen.
»Was passiert mit mir?«, flüsterte sie.
Xias Stimme war das einzig Vertraute. Seine Arme umschlangen sie. »Keine Bange, ich halte dich, Alexandrine. Bleib ruhig. Gleich wird wieder alles an seinen Platz zurückkehren. Glaub es mir.«
»Hört das wirklich gleich auf?« Ihr Magen zog sich zusammen. Ihr war übel.
»Ja.«
Er legte eine Hand auf ihre Schulter und dirigierte sie zur Tür. Jedenfalls glaubte sie das. Die Linien des Raums zogen sich in die verrücktesten Richtungen. Wohin auch immer sie schaute, erblickte sie nichts als leuchtende Farben. Manche von diesen Farben hatte sie noch nie in ihrem Leben gesehen.
»Setz dich hin«, bat Xia.
Sie gehorchte und erkannte den Terrakottaton des Sofas. Also mussten sie inzwischen im Wohnzimmer sein.
»Schließ die Augen.« Alexandrine tat es, und Xias Stimme gab ihr weitere Anweisungen. »Konzentrier dich auf etwas, was du magst. Junge Hunde. Einhörner. Oder welcher Girlie-Kitsch auch immer dir gefällt. Unterdrück die Panik und konzentrier dich auf deine Magie.«
Sie dachte an Xia, wie er unter der Dusche gestanden hatte. Bevor alles danebengegangen war. Als Alexandrine ihre Augen wieder öffnete, saß Xia neben ihr. Gegenüber dem Kamin. In seinem Wohnzimmer, das völlig normal erschien. Keine Regenbogen mehr. Keine Wände, die sich weigerten, im richtigen Winkel zueinander zu stehen.
»Fangen wir jetzt an?«, fragte sie. »Mit dem Ritual, meine ich.«
»Gleich«, erwiderte Xia. »Falls noch einmal alles außer Kontrolle gerät, dann konzentrier dich so wie eben, und es geht dir wieder gut.«
»Was für ein Mistzeug hast du mir gegeben? Und wieso reagierst du nicht genauso?«
»Weil ich nicht so bin wie du.«
»Es lebe der kleine Unterschied!«, flüsterte sie.
»Lehn dich zurück. Ja, so. Entspann dich.« Xia rückte näher und beugte sich über sie. Als Alexandrine den Kopf hob, blickte sie direkt in seine eisblauen Augen. Xia legte seine Finger an ihre Schläfen und begann sie zu massieren.
»Das ist himmlisch«, sagte sie.
»Entspann dich. Denk an süße kleine Hunde und flauschige Häschen.«
Sie verdrehte die Augen. Und trotzdem. Seine Finger hatten Zauberkräfte. Alexandrine spürte, wie sie sich trotz allem entspannte.
»Fühlst du dich besser?«, wollte er wissen.
»Ja.« Ihr Geist weitete sich, und allmählich nahm sie Xia auf eine veränderte Art und Weise wahr. Sie war sich nicht nur seiner körperlichen, sondern auch seiner mentalen Präsenz bewusst. Hätte sie gewollt, hätte sie seinen Geist berühren können. Was für ein merkwürdiges Gefühl. Sich vorzustellen, dass man in den Geist eines anderen greifen konnte.
Sie wusste, dass es möglich war – verdammt, sie selbst hatte diese Erfahrung ja bereits gemacht. Ein Schauder lief ihr über den Rücken, als ihr klar wurde, dass man es auch mit Absicht tun konnte.
Xias Finger glitten in ihr Haar, bewegten sich in Kreisen auf ihrer Haut. Himmlisch.
Sie hatte ihn nackt gesehen. Ihn berührt. Seinen gesamten Körper. Einen bewundernswert schönen Körper. Wie mochte es wohl sein, mit ihm zu schlafen? Sie hatte seine Hände bereits auf ihrem Körper gespürt, und sie ahnte, dass er ihre Lust zu unglaublichen Höhen treiben konnte.
Xia hörte auf, sie zu massieren.
»Nicht. Das ist wunderbar.«
»Es wird zu gefährlich«, erwiderte er. Er stand auf und setzte sich auf den Teppich vor dem Kamin, zog Alexandrine dann zu sich hinunter.
Hier unten, so nah an der Duftlampe, war der erdige Geruch stärker. Sie war versucht, tief zu inhalieren und ihren Atem anzuhalten, falls das Zeug wie Marihuana wirkte.
Ihre Blicke trafen sich, und es war, als fiele Alexandrine tiefer und tiefer und landete an einem unbekannten Ort. Sie war nicht sicher, was gerade passiert war, doch was auch immer es sein mochte, sie nahm Xia so intensiv wahr, als wäre sie in seinen Gedanken.
»Verrückt«, murmelte sie vor sich hin.
Xia bewegte den Kopf. Na wunderbar. Seine Augen glühten wieder. Er warf irgendetwas anderes in das schimmernde Öl und beugte sich vor, um tief einzuatmen. Er machte ihr ein Zeichen, dass sie das Gleiche tun sollte wie er, doch Alexandrine hatte sich bereits vorgeneigt. Die Kräuter hatten einen scharfen, durchdringenden Geruch.
Dann ging plötzlich das Licht aus. Lediglich das Feuer im Kamin spendete noch Helligkeit. Schatten huschten über den Boden, über die Linien von Xias Gesicht. Xia schien unbeeindruckt von dem Ausfall der Beleuchtung. Aber was beeindruckte ihn schon?
»Was hast du mit dem Licht gemacht?«
»Konzentrier dich, ja?«
»Worauf?«
»Worauf immer du willst. Such dir irgendetwas und richte deine Konzentration darauf.«
Alexandrine entschied sich für die kleine Messingschale, der der Duft entstieg.
Einige Minuten vergingen. Der Geruch der Kräuter wurde stärker und nahm eine bittere Note an. Alexandrine war sich Xias überdeutlich bewusst. Er saß neben ihr, mit gesenktem Kopf, die Hände aneinandergelegt. Als ob er betete.
Es kam ihr vor, als wäre ihr Geist nicht länger mit ihrem Körper verbunden. Doch, das Copa zeigte definitiv eine Wirkung. Alexandrine holte tief Luft und fing einen Hauch von Hitze und Sand und uralter Wüste auf. Von den Kräutern, die Xia ins Öl geworfen hatte? Sie glaubte es nicht. Er schien von Xia auszugehen.
Alexandrines Kehle war trocken, doch sie wollte kein Wasser trinken. Sie wollte den Geschmack von Eisen auf ihrer Zunge spüren.
»Ja«, flüsterte Xia, »ich auch. Aber du musst ziehen, Alexandrine. Und die Magie dann halten. Hast du das verstanden?«
»Klar. Zieh Magie, aber benutze sie nicht.«
Seine Augen flackerten. »Tu es einfach, ja?«
»Du wirst nicht enttäuscht sein, wenn es nicht klappt?«
»Würdest du bitte einfach ziehen?«
»Natürlich.« Sie griff in ihren Geist, darauf vorbereitet, dass nichts geschah. Und entdeckte ihre Magie. Kinderleicht zu greifen. Sie konnte Magie ziehen, sie in sich strömen lassen, kräftig wie ein Fluss statt wie sonst nur ein Tröpfchen.
Zischend sog Xia den Atem ein und flüsterte dann ihren Namen. Sie beobachtete, wie er nach seinem Messer griff und es in die linke Hand nahm. Er neigte den Kopf zur Seite und setzte die Messerspitze an sein Schlüsselbein. Er zuckte nicht zusammen, als er sich in die Haut schnitt.
Der Geruch des Bluts traf sie so unvermittelt, dass ihr schwindelig wurde.
Xia murmelte etwas vor sich hin, in einer fremden Sprache, die Alexandrine nicht kannte. Ihr schien, als liege die Bedeutung seiner Worte ganz nah vor ihr, doch immer, wenn sie danach greifen wollte, entglitt sie ihr.
Xia drehte sich zu ihr um und sagte erneut ihren Namen. Er machte ihr ein Zeichen, dass sie näher kommen sollte. »Du bist als Erste dran.«
»Womit?«, wisperte sie. Dabei wusste sie, was er wollte. Blut quoll aus dem Schnitt, flüssiges Rot, das ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich zog und alle anderen Gedanken auslöschte. Ihr Kopf war so heiß, als ob sie fiebern würde.
»Alexandrine«, sagte Xia leise. »Jetzt.«
Sie legte eine Hand auf seine Schulter und beugte sich vor. Bring es hinter dich. Wenn sie jetzt zögerte, wäre sein Blut verschwendet.
»Halte deine Magie!«, bat er.
Ihre Lippen berührten seine Haut, und der Geschmack seines Bluts schien auf ihrer Zunge zu explodieren, dick und dunkel und besser als alles, was sie je gekostet hatte. Sie grub ihre Finger in seine Schulter, erwartete, dass er auswich.
Doch Xia bewegte sich nicht. Zuckte nicht zusammen. Atmete nicht einmal tief durch. Er neigte den Kopf nur ein wenig mehr, sodass sie besseren Zugang hatte, und sie drängte sich an ihn, legte die andere Hand an seinen Nacken.
Sie spürte einen Druck in ihrem Kopf, der sich dann an der Stirn konzentrierte, fast wie ein Anklopfen. Ihr war schwindelig, und sie musste geschwankt oder vielleicht auch nur ihre Finger noch fester in sein Fleisch gegraben haben, denn er legte eine Hand an ihren Hinterkopf, um sie zu stützen, sie festzuhalten.
Seine Haut war so weich unter ihren Lippen, so warm. Und er roch gut, nach Seife und ein wenig nach Hitze. Sein Haar, auch so weich und warm, fiel über ihre Hand. Alexandrine konnte nicht leugnen, dass sein Körper und seine wunderschönen Augen und sein Gesicht eine fatale Wirkung auf sie hatten.
Xia verstärkte den Druck seiner Hand.
Als Alexandrine aufblickte, stellte sie fest, dass sie einander näher waren, als sie angenommen hatte. Beide knieten sie, ihre Körper berührten sich, Xia hielt sie an seine Brust gedrückt. Dann bog er sich ein wenig nach hinten, doch seine Hand lag immer noch an ihrem Kopf. Er hob das Messer, und das flackernde Licht ließ Regenbogen auf den verschlungenen Klingen tanzen. Er bog ihren Kopf zurück, sodass ihr Hals bloß lag.
Der Druck in Alexandrines Kopf verstärkte sich.
»Halte deine Magie weiterhin«, sagte er sanft und verfiel dann erneut in jene fremde Sprache, die sie nicht verstand.
Ihre Blicke trafen sich, und sie blinzelte, als sein Gesicht sich plötzlich auflöste und sie stattdessen ihr eigenes sah, als blicke sie auf sich selbst herab. Ihr ganzer Körper bebte vor Begehren und Xias Verlangen, in sie einzudringen. In ihr zu sein und sie warm und weich um sich zu spüren.
Verdammt, Alexandrine!
Sie wusste nicht, ob er es laut ausgesprochen hatte oder nicht. Sie blinzelte erneut, und es gelang ihr, in ihr eigenes Selbst zurückzukehren. Xias Augen brannten tiefblau, und darin flackerte etwas, was in seinem Kopf lebte.
Sie sah, wie das Messer sich auf sie zubewegte, und konnte es dann nicht mehr erkennen, als es immer näher kam. Sie spürte den Stich, als es sie berührte. Eiskalt. Oder brennend heiß. Sie wusste es nicht. Und dann senkte Xia den Kopf.
Es war kein Kuss. Sein Mund lag auf ihrer Kehle, er hielt sie fest in seinen Armen, und sie war zu verwirrt, um klar zu denken. Es war, als ob ein leuchtendes, knisterndes Band sie verbände, während Magie über dieses Band hin und her floss.
Und dann war Xia da. In ihrem Kopf. Tief, ganz tief griff er in ihren Geist, in dessen Zentrum, wo sich die Macht des Talismans mit ihrer Magie verwoben hatte.