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Eiseskälte prickelte auf Alexandrine Marits Nacken und ließ eine Gänsehaut über ihre Arme laufen. Der Kältehauch hätte sie warnen sollen, doch sie war abgelenkt und konnte nicht richtig denken. So blieb sie auf ihrer Couch sitzen, statt etwas zu unternehmen, schaute sich lediglich um, ob alle Fenster geschlossen waren, und rieb sich geistesabwesend die kribbelnde Haut. Ihr schäbiges Apartment war nicht sonderlich groß, daher dauerte das Überprüfen keine zwei Sekunden. Sämtliche Fenster waren geschlossen.

Der Grund für ihre Ablenkung saß direkt vor ihr. Harsh Marit. Um genau zu sein: Dr. Harsh Marit. Ihr Bruder, von dem sie die letzten zehn Jahre über geglaubt hatte, er wäre tot. Und jetzt die große Überraschung: Er war gar nicht tot.

Im Augenblick telefonierte er. Hatte ihr halb den Rücken zugewandt. Als ob es sich dadurch vermeiden ließe, dass sie mithörte.

Alexandrine hatte den Schock darüber, dass er so plötzlich wieder aufgetaucht war – und das quicklebendig – noch nicht überwunden. Sie zitterte. Sie war hin- und hergerissen zwischen Freude und Unglauben, und unablässig verspürte sie den demütigenden Drang zu weinen. Sie versuchte, sich wieder zu beruhigen, während er in sein verdammtes iPhone sprach, doch es gelang ihr nicht.

»Ja«, sagte er gerade.

Wieder traf die Kälte sie, lief über ihre Haut. Alexandrine veränderte ihre Sitzposition und setzte ihr Nein-ich-bin-so-höflich-und-höre-wirklich-nicht-zu-Gesicht auf. Natürlich hörte sie jedes Wort, das ihr Bruder sagte. Auch wenn er gerade nicht sehr redselig war. Die meiste Zeit über lauschte er.

Und so ging es weiter: Er sprach, er hörte zu. Wann immer er redete, senkte er, oh, wie geheimnistuerisch, die Stimme, dabei saß sie doch ganz nah bei ihm mit bestens funktionierenden Ohren. Wenn er zuhörte, wirkte er vollkommen konzentriert.

Erneut prickelte Alexandrines Haut, an ihrem Nacken und an ihren Armen. Diesmal jedoch begriff sie, dass ihre Gänsehaut nichts mit möglicherweise offen stehenden Fenstern in ihrer Wohnung zu tun hatte oder damit, dass sie immer noch völlig erschüttert vom plötzlichen Auftauchen ihres Bruders war. Stammte diese dritte Warnung vielleicht von ihrem Talisman?

Nein, ihre Reaktion hatte einen völlig anderen Grund.

Alexandrines Magen zog sich zusammen. Wieso ausgerechnet jetzt? Als ob sie nicht schon genug um die Ohren hätte.

Harsh blickte einmal kurz zu ihr herüber, während er sprach, und das merkwürdige Prickeln verschwand, genau wie das Unbehagen, das sie verspürte. Merkwürdig. Normalerweise kamen und gingen ihre Vorahnungen nicht wie Flut und Ebbe. Sie wusste zwar nie, wann eine solche Ahnung sie überfallen würde, doch wenn eine sie erfasste, dann hielten die körperlichen Anzeichen an, bis das Problem sich erledigt hatte. So oder so. Dass sie sich nun wieder ganz normal fühlte, irritierte sie, und sie fragte sich, ob sie mit ihrer Vermutung nicht doch falschlag.

Ihr Bruder lauschte jetzt wieder ins Telefon, und plötzlich war die Gänsehaut erneut da, lief ihre Arme hinauf zu ihrem Hals und dann ihr Rückgrat hinunter. Ihr war kalt. Von innen heraus. Also doch. Sie irrte sich nicht. Etwas Übles braute sich über ihr zusammen.

»Fein«, sagte Harsh ins Telefon, dann beendete er das Gespräch. Einen Moment lang starrte er auf die Symbole auf dem Display seines iPhones. Gott, war das ein tolles Gerät!

Die Kälte blieb. Sie ging nicht wieder weg. Im Gegenteil, sie verstärkte sich.

O Shit, dachte Alexandrine.

Einmal, vor vielen Jahren, als sie noch ein Teenager war und zu Hause lebte, hatte sie sich ein paar Minuten lang mit einem älteren Typ unterhalten, der ihr vollkommen normal erschien. Doch während sie redeten – gut, sie war ein wenig abgelenkt, weil sie gleichzeitig überlegte, ob sie sich auf einen Flirt mit ihm einlassen sollte, weshalb sie wohl die Anzeichen nicht von Anfang an bemerkt hatte – und sie ihn ansah, hatte es sie wie ein Schlag getroffen. O Mann, ein Blick in die Augen des Kerls genügte, und sie wusste es. Hundertprozentig. Dass er sie umbringen wollte.

In diesem Moment hatten sämtliche Alarmsignale auf einmal geblinkt. Er war auf der Suche nach einem Opfer. Und wenn sie nicht augenblicklich verschwand, sofort und auf der Stelle, dann würde es sie treffen. Also verschwand sie. Blitzschnell.

Zwei Tage später fand man die Leiche eines Mädchens nur knapp einen Block von dem Ort entfernt, an dem sie dem Typen begegnet war. Es folgte das übliche aufgeregte Mediengetöse über den brutalen Mord an einer jungen Frau, nur Konsequenzen hatte es nicht. Weil das getötete Mädchen eine Ausreißerin war und arm und weil sie auf den Strich gegangen war, um sich über Wasser zu halten.

Vorahnungen waren Alexandrines Spezialität. Wenn es etwas Verlässliches gab hinsichtlich ihrer mehr als eingeschränkten Gabe, Magie zu nutzen, dann waren es diese Ahnungen. Manche Dinge wusste sie einfach. Es war nicht besonders schwierig, jemandem in die Augen zu schauen und den Wahnsinn darin zu erkennen. Jeder Loser, der über nur halb so viel Empathie verfügte wie ein normaler Mensch, konnte das.

Aber ihre Vorahnungen waren anders. Als Erstes spürte sie dieses Prickeln und ein Unbehagen, bei dem sich ihr Inneres zusammenzog. Und dann, irgendwann, wusste sie stets, was sie zu tun hatte. Nicht in diesen Laden zu gehen, zum Beispiel. Oder jene Abkürzung nicht zu nehmen.

Genau wie an dem Tag mit dem Killer und wie bei Dutzenden von Gelegenheiten seitdem wusste Alexandrine auch nun, dass etwas Übles passieren würde. Etwas, was sie einschloss. Wie stets bei ihren Vorahnungen. Harsh Marit war von den Toten auferstanden, und sie selbst stand plötzlich vor einer Weggabelung. Schlug sie die eine Richtung ein, war sie tot. Nahm sie die andere, würde sie am Leben bleiben. Es gab nur diese beiden Alternativen. Such dir eine aus. Was auch immer ihr den Hinweis geben würde, welche Entscheidung die richtige war, das wusste sie jetzt noch nicht. Es war schwieriger als sonst, keine dieser eindeutigen Gleich-bringt-dieser-Kerl-mich-um-Vorahnungen, bei der sie auf Anhieb wusste, was zu tun war.

Sie spürte lediglich, dass etwas Böses auf sie zukam, aber nicht, was es war. Noch nicht. Sie wusste auch nicht, ob Harsh darin verwickelt war oder wann es passieren würde, ob heute oder erst in einer Woche.

Harsh und sie waren nicht wirklich miteinander verwandt, denn genau wie sie selbst war auch Harsh adoptiert – deshalb sahen sie sich kein bisschen ähnlich. Er war groß, ein dunkler Typ, auf eine exotische Weise gut aussehend. Sie war ebenfalls groß, aber weißblond und bildhübsch.

Doch obwohl sie keine leiblichen Geschwister waren, war das Band zwischen ihnen so eng, als wären sie tatsächlich Bruder und Schwester. Schließlich hatten sie lange genug in derselben Familie gelebt, und für Alexandrine war er der heiß geliebte große Bruder. Würde es immer bleiben, auch wenn er sie all die Jahre über hatte glauben lassen, er wäre tot.

Harsh steckte sein iPhone weg. »Es tut mir leid, Alexandrine«, sagte er.

Sie versuchte, sich ihre Wachsamkeit nicht anmerken zu lassen, was nicht einfach war. Ein seltsamer Ausdruck lag in seinen Augen, und unwillkürlich fragte sie sich, ob er vielleicht auf irgendeiner Ebene die Kälte spürte, die in ihr war. Die sie innerlich zittern ließ.

Allerdings glaubte sie nicht, dass er der Grund dafür war, dass sie so heftig reagierte. Doch sie würde jeden Cent darauf verwetten, dass er der Katalysator dessen war, was auch immer auf sie zukam. Die Frage war, ob ihr Bruder ahnte, was sie war. Falls nicht, dann würde sie es vorziehen, ihm das erst später zu erklären. Viel, viel später. Wenn überhaupt. Am liebsten nie.

»Du müsstest etwas für mich tun«, sagte Harsh.

»Und was?« Sie spürte die Kälte wieder, in ihrem Kopf, wenn auch nicht sehr stark. Gerade so stark, um zu wissen, dass sie immer noch die Wahl hatte.

»Ist das so wichtig?«, fragte er. Seine Schultern spannten sich an.

»Ja«, erwiderte sie. »Das ist es.«

»Ach, komm schon, stell dich nicht so an, Alexandrine. Ich hab jetzt nicht die Zeit, dir alles lang und breit zu erklären.« Seine Augen bekamen einen harten Ausdruck. »Mach es einfach, ja?«

»Mach es einfach?«, wiederholte sie. »Was glaubst du, wer zum Teufel du eigentlich bist? ›Mach es einfach!‹« Eine verdammt gute Frage war das. Wer zum Teufel war er? Stellte sich nicht jeder, der adoptiert worden war, irgendwann diese Frage? Sie hatte es jedenfalls getan.

Harsh verschränkte die Arme vor der Brust.

Er machte nicht den Eindruck, als wäre er zu irgendeinem Zeitpunkt während der vergangenen zehn Jahre mausetot gewesen. Mit anderen Worten, er musste während der gesamten Zeit ausgesprochen lebendig gewesen sein. Während sie sich die Augen aus dem Kopf geheult hatte, weil sie ihn verloren hatte. Was sie ziemlich sauer werden ließ, wenn sie daran dachte.

»Ich bin dein Bruder«, antwortete er. Sein Mund wurde ein wenig weicher, doch der harte Ausdruck in seinen Augen blieb.

Was Alexandrine ziemlich unheimlich fand.

»Was sollte ich denn sonst sein, Alexandrine?« Seine Stimme klang sanft, voller Zuneigung.

Doch Alexandrine war sicher, dass mehr hinter dieser Frage steckte. Wenn doch bloß Maddy hier wäre! Maddy wusste immer, was zu tun war. Noch wichtiger: Maddy würde wissen, was sie besser nicht tun sollte. Ihre beste Freundin wusste eine verdammte Menge mehr als sie selbst über dieses Zeug.

Die Video-Türsprechanlage summte und erschreckte Alexandrine zu Tode, weil sie immer gedacht hatte, sie funktioniere nicht.

Dann klingelte Harshs iPhone erneut. Es hörte sich an wie ein U-Boot-Sonar.

»Geh nicht dran, Harsh.« Sie kannte ihn. Er war ihr großer Bruder, und sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass er ihr etwas Böses antun könnte. Wäre er gekommen, um sie zu töten, dann wären ihre Vorahnungen sehr viel klarer.

Oder?

Es war sogar möglich, dass ihre Vorahnung gar nichts mit Harsh zu tun hatte. Dass alles nur ein großer Zufall war. Doch das glaubte sie nicht.

»Bitte, geh nicht dran«, wiederholte Alexandrine. »Lass es dieses eine Mal klingeln.«

»Ich muss.« Harsh zog das iPhone aus seiner Tasche, berührte den Bildschirm und sagte: »Noch fünf Minuten.« Er berührte den Bildschirm erneut, sah sie an und fügte hinzu: »Ich bin dein Bruder, Alexandrine. Nichts kann das ändern.« Er hielt ihrem Blick stand. »Nicht im Geringsten.«

»Mein Bruder …«, sagte sie leise, als er den Bildschirm ein weiteres Mal berührte. Mehrere Symbole erschienen. »Was sonst? Mein Bruder.«

Und plötzlich fühlte sie sich nicht mehr wie eine junge Frau von sechsundzwanzig Jahren, sondern wie ein verängstigtes sechsjähriges Kind. Alexandrine versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen, doch es gelang ihr nicht. Dafür war dieser Abend einfach ein bisschen zu stressig gewesen.

»Alexandrine …« Seine Hand schloss sich um das iPhone. Ziemlich fest. »Ich bin nicht hergekommen, um dir wehzutun. Glaub mir das.«

Sie glaubte es ja. Wirklich. »Wo bist du die ganze Zeit gewesen?«, wollte sie wissen, doch er antwortete nicht. »Mom und Dad haben eine Trauerfeier für dich abhalten lassen. Sie war sehr schön. Ergreifend. Sie hätte dir gefallen. Alle haben geweint. Alle waren gerührt.«

Sie selbst war damals knapp sechzehn gewesen. In einem schwierigen Alter. Sehr schwierig. Und sie konnte sich noch sehr genau daran erinnern, wie heftig sie ihren Bruder vermisst hatte. Nachdem die Polizei zu dem Schluss gekommen war, dass er tot sein musste, auch wenn es keine Leiche gab, war ihre Familie … einfach auseinandergebrochen. In lauter winzig kleine Stücke zersplittert. Keiner von ihnen hatte sich jemals wieder vollkommen davon erholt.

»Ich bin sicher, dass die Feier sehr schön war«, erwiderte Harsh mit flacher Stimme.

Alexandrine zeigte mit dem Finger auf ihn. Da sie sicher war, dass Harsh keine unmittelbare Gefahr für sie bedeutete, beschloss sie, noch einmal nachzuhaken, was seine Auferstehung von den Toten betraf.

»Du kannst nicht so einfach wieder in meinem Leben auftauchen, ohne ein Wort der Erklärung«, sagte sie.

Er seufzte, doch als er ihr dann antwortete, lag wieder dieser harte Glanz in seinen Augen. »Ich versuche, dich zu retten, Alexandrine.«

»Um mich zu retten, kommst du zehn Jahre zu spät, Harsh.« Wow. Das hatte viel vorwurfsvoller geklungen, als sie beabsichtigt hatte. Aber, nun ja, sie war verärgert. Und entnervt.

»Gratuliere, du hast überlebt«, sagte er.

»Was ganz bestimmt nicht dir zu verdanken ist.

Sein Blick ging in die Ferne. Millionen von Kilometern. Er hatte ihr immer noch nicht verraten, wo er all die Jahre über gewesen war. Wieso nicht?

Als Alexandrine ihren Bruder zum letzten Mal gesehen hatte, wirkte er wie aus dem Ei gepellt: Anzug und Krawatte, das Haar kurz und ordentlich. Vor zehn Jahren hatte er stets einen Pieper am Gürtel getragen, und das verdammte Ding war ständig losgegangen.

Und jetzt? Verschwunden war der professionelle Look, jetzt sah er kein bisschen mehr aus wie ein erfolgreicher Arzt. Lief im eher uncoolen Schmuddel-Outfit herum: verblichene Jeans, zerrissenes Shirt und abgenutzte Arbeitsstiefel aus Leder, die ihm nicht richtig zu passen schienen. Als gehörten sie jemand anderem. Das Haar fiel ihm bis auf die Schultern, und der Umfang seiner Oberarme ließ vermuten, dass er mächtig viel Zeit im Fitnessstudio verbrachte. Der alte Harsh hatte mit Bodybuilding nicht viel am Hut gehabt. Welcher viel beschäftigte Arzt fand schon die Zeit dafür? Er hatte ja, nachdem er nach Kalifornien gegangen war, nicht einmal mehr für seine kleine Schwester Zeit gehabt.

Jemand klopfte an die Tür. Laut.

Alexandrine lebte in einem schäbigen Apartmentgebäude mit nicht funktionierenden Sicherheitseinrichtungen, und war es nicht wirklich überraschend, dass jemand nach oben gelangen konnte, ohne dass sie ihm die Tür aufgedrückt hatte?

Dennoch stellten sich plötzlich die Härchen in ihrem Nacken auf, wenn sie sich auch nicht sicher war, ob sie sich einfach nur erschrocken oder ob es etwas mit ihrer Vorahnung zu tun hatte.

Einen Moment lang starrten sie und Harsh sich einfach nur an. Interessant. Er fragte nicht, ob sie jemanden erwartete. Und er wirkte auch nicht erstaunt.

Sein iPhone meldete sich, wieder mit diesem Sonargeräusch. Harsh schaute nach, wer der Anrufer war – und Mann, stiegen da plötzlich Erinnerungen in ihr auf!

Ihr dreizehnter Geburtstag. Harsh war noch an der Harvard Medical School, nicht weit von ihnen entfernt, und hatte einen kurzen Abstecher nach Hause gemacht. Wie jeder amerikanische Medizinstudent arbeitete er bereits im Krankenhaus. Sein Pieper ging los, und schon war ihr heiß geliebter Bruder weg. Wieder einmal. Noch bevor der Kuchen aufgegessen war.

»Genau wie früher, nicht wahr?«, sagte Alexandrine leise. Nur dass Harsh sich in der Zwischenzeit in jemand Furchteinflößenden verwandelt hatte. Ihr überhaupt nicht mehr ähnlich war. »Wovor willst du mich retten, Harsh?«, fügte sie lauter hinzu.

Er berührte das Display und sagte: »Nicht jetzt!« zu dem Anrufer, dann beendete er das Gespräch. Und Alexandrine hatte plötzlich das komische Gefühl, dass er das iPhone am liebsten zerquetscht hätte. Was er jedoch nicht tat. Harsh hatte sich immer schon jederzeit unter Kontrolle gehabt.

Dann schaute er sie an und sagte: »Vor dir selbst.«

»Was?«

Wer auch immer vor ihrer Tür stand, klopfte erneut. Drei Mal. Ganz langsam. Ganz laut. Idiot!

»Wie soll ich das denn verstehen?«, fragte sie.

Harsh runzelte die Stirn. »Ich versuche, dich vor dir selbst zu retten«, wiederholte er.

Na klar. Er wollte sie vor sich selbst retten. Wie komisch! Saukomisch, wenn sie an ihr Leben in den letzten Jahren dachte. »Zu spät, Bruderherz. Ich bin inzwischen ein großes Mädchen. Erwachsen.«

»Alexandrine …«

»In drei Monaten werde ich sechsundzwanzig. Alt genug, um einen Job zu haben, Steuern zu zahlen, Alkohol zu trinken und zu wählen. Alles auf einmal, wenn mir danach sein sollte.«

»Es ist mir schon klar, dass du kein kleines Mädchen mehr bist.«

Als sie ihren Bruder zum letzten Mal gesehen hatte, lebte sie noch zu Hause in Brookline, Massachusetts, und war noch ein halbes Kind. Massachusetts war dreitausend Meilen von der großen Stadt an der Bucht entfernt, in die ihr Bruder gezogen war, um sich seiner Forschungsarbeit an der Universität von Kalifornien in San Francisco zu widmen. Ihr großer Bruder, der Arzt. Mom und Dad waren so stolz auf ihn gewesen. Und dann verschwand er plötzlich. Spurlos. Als ob er einfach von der Erde gefallen wäre. Die Polizei ging davon aus, dass er tot war.

Tja …

So richtig tot war er wohl nicht.

»Dinge ändern sich, stimmt’s?«, meinte Alexandrine.

Harshs Telefon klingelte erneut. »Ich hab dir doch gesagt, noch fünf Minuten«, meinte er. Er berührte das Display, um das Gespräch zu beenden, und, o Wunder, nur einen Moment später hämmerte Mr Ungeduldig mit der Faust gegen ihre Tür. Na wunderbar. Ihre Nachbarn würden entzückt sein. Wahrscheinlich hingen sie bereits am Telefon, um sich bei ihrem Vermieter zu beschweren.

»Ich brauche niemanden, der mich beschützt«, erklärte Alexandrine. Doch im selben Moment, als sie dies aussprach, zog sich ihr Magen zusammen, weil sie, verdammt, vielleicht doch Hilfe brauchte. »Ich passe schon ziemlich lange allein auf mich auf.«

Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass die Augen ihres Bruders ein so durchdringendes Braun gehabt hatten. Und plötzlich überfiel sie der gruselige Gedanke, dass da noch etwas anderes hinter den Augen ihres Bruders lebte. Ein Schauder lief ihr über den Rücken, ein echter Schauder, nicht von ihrer Vorahnung hervorgerufen.

»Wann hast du zum letzten Mal mit Mom und Dad geredet?«, fragte er unvermittelt.

Sie waren so sehr damit beschäftigt gewesen, wieder miteinander vertraut zu werden, dass sie an nichts anderes gedacht hatte.

»Mit Dad? Vor zwei Jahren.« Was durchaus der Wahrheit entsprach.

Harsh begriff natürlich, dass sie ihm einen Köder hinhielt, ihm etwas ganz anderes damit sagen wollte, doch er biss nicht an. Spielverderber. »Er ist tot«, erklärte sie. »Herzinfarkt.«

»Das wusste ich nicht.« Er schloss die Finger um das Handy, das erneut summte. »Und was ist mit Mom?«

Wo zum Teufel mochte ihr Bruder gewesen sein, dass er überhaupt nichts wusste? Okay, er hatte sich in einen Freak verwandelt, aber trotzdem hätte er sich übers Internet informieren oder Zeitung lesen können. Oder einfach anrufen können. Seine Eltern, die ihn so sehr geliebt und ihm seine lange und kostspielige Ausbildung ermöglicht hatten – was sie sicherlich auch für sie getan hätten, wäre sie klüger gewesen –, waren verzweifelt, weil sie glauben mussten, er wäre tot.

»Auch Mom lebt nicht mehr, Harsh. Schon seit acht Jahren nicht mehr.«

Für einen winzigen Augenblick wirkte er wieder wie jener Harsh Marit, den sie an jedem einzelnen Tag in den vergangenen zehn Jahren so schmerzlich vermisst hatte. Alexandrines Kehle schnürte sich zusammen, und sie hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. So vieles war ihnen entgangen. Und nun, da er zurückgekehrt war, wollte sie nicht, dass er sie erneut verließ. Harsh war doch alles, was sie noch hatte.

Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, dann schloss er ihn wieder. Schließlich fragte er: »Was ist passiert?«

»Krebs.« Sie atmete hörbar aus. »Was für ein schlechter Witz, nicht? Ihr Sohn, der brillante Krebsspezialist, war nicht da, um sie zu retten.«

Harsh antwortete nicht darauf, und Alexandrine hatte ein schlechtes Gewissen. Sie wusste, dass sie ihm einen Schlag unter die Gürtellinie versetzt hatte.

»Tut mir leid.« Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Das war unfair und nicht sehr nett. Ich hab es nicht so gemeint.«

»Aber du hast recht.« Er ballte eine Hand zur Faust. »Ich war nicht da.« Er schwieg einen Moment, dann sagte er leise: »Ich wünschte, ich wäre da gewesen, um ihr zu helfen.«

Alexandrine wartete darauf, dass er nun endlich verriet, wo er in all den Jahren gesteckt hatte. Doch er tat es nicht. Wieder nicht.

»Deshalb bin ich also schon ziemlich lange auf mich allein gestellt«, sagte sie. »Und in all der Zeit ist nichts wirklich Schlimmes passiert.

Nun ja, »schlimm« konnte vieles sein. Zum Beispiel, auf Mahlzeiten verzichten zu müssen, um die Miete aufbringen zu können. Oder aus der Wohnung geschmissen zu werden. Oder mit ziemlich üblen Typen herumzuhängen und sich zu fragen, ob man es noch schaffen würde, einundzwanzig zu werden.

»Ich bin von zu Hause weg, hab mich ein bisschen herumgetrieben, hier und da umgeschaut, dies und jenes getan. Bin aufs College gegangen«, fuhr Alexandrine fort.

Doch sie hatte auch Dinge getan, über die sie niemals sprechen würde. Mit niemandem.

»Inzwischen habe ich einen Job. Ich verdiene verdammt wenig, aber zweimal die Woche darf ich den Computer nutzen.« Sie sah Harsh in die Augen. »Ich lebe in der schönsten Stadt der Welt, mitten im Mission District, und habe diese entzückende Bruchbude gemietet.« Sie betrachtete ihr Apartment: eine hässliche, winzige Wohnung, die sie vierzehnhundert Dollar im Monat kostete, dabei konnte sie noch froh sein, dass sie etwas so Günstiges gefunden hatte.

Dann schaute sie wieder ihren Bruder an. Wie konnte man einfach so zehn Jahre lang aus dem Leben eines anderen verschwinden? »Ach ja: Jungfrau bin ich übrigens auch nicht mehr.«

»Ich bin auch nicht davon ausgegangen.«

Harsh war größer als sie, und wenn man bedachte, dass sie selbst eins achtzig maß, dann hieß das, dass er richtig groß war. Sehr groß. Und gut aussehend. Intelligent. Wo zum Teufel hatte er sich in all den Jahren rumgetrieben, während sie einen großen Bruder gut hätte gebrauchen können?

»Wo warst du, Dr. Marit?« Alexandrine konnte ziemlich spöttisch sein. Eine nützliche Eigenschaft, wie sie fand.

Er stand auf, wanderte zwischen dem uralten Fernseher und ihrem vollgepackten Bücherregal hin und her. »Ich kann es dir nicht erzählen.«

Mr. Ungeduldig klopfte erneut an der Tür, gleichzeitig klingelte Harshs Handy.

»Verdammt, Harsh, warum sagst du dem Kerl nicht endlich, dass er dich in Ruhe lassen soll?«

Er sah sie an.

Alexandrine fühlte sich unbehaglich unter seinem durchdringenden Blick. Ihre Haut prickelte erneut.

»Ich kann dir wirklich nicht verraten, wo ich war.« Er blickte stirnrunzelnd auf die Tür. »Können wir es nicht einfach dabei belassen?«

»Im Zauberland von Oz? Sibirien? Zeugenschutzprogramm? Unterwegs auf der Suche nach deinen leiblichen Eltern, so wie ich? Timbuktu? Ach, Unsinn, dahin bin ich ja gefahren.«

»Du warst in Timbuktu? In Afrika?«

»Unter anderem. Und du? In der Arktis? Im Knast?« Letzteres trug ihr einen giftigen Blick ein. »Aber du hast keine Tattoos. Wenn du im Gefängnis gewesen wärst, wäre dein Körper jetzt sicher ziemlich bebildert.« Das wusste sie so genau, weil lange Zeit – sehr viel länger, als es ihr heute gefiel – ihre besten Freunde Kriminelle mit selbst gestochenen Tattoos gewesen waren.

Alexandrine neigte den Kopf zur Seite. »Du warst beim Militär, oder?« Wer sonst hätte die Möglichkeit, eine Person komplett verschwinden zu lassen? »Regierungsauftrag oder so, stimmt’s?«

Harsh starrte sie an. Sie war überzeugt, dass er ihr nicht antworten würde, doch stattdessen legte Dr. Harsh Marit, ihr angebeteter Bruder, eine Hand in den Nacken und sagte rau: »›Gefängnis‹ trifft es wohl am ehesten.«

Die Verzweiflung in seiner Stimme ließ ihren Ärger wie einen Ballon platzen. »Was willst du von mir, Harsh?«

Sein verdammtes Telefon klingelte erneut, diesmal war es allerdings ein anderer Klingelton, und er meldete sich mit: »Ich bin’s, Harsh.« Alexandrine beobachtete, wie ihr Bruder dem Anrufer zuhörte. »Nein, ich bin immer noch hier«, sagte er und warf ihr einen Blick zu.

Sie erkannte den Mann hinter diesen Augen nicht wieder. Sie rieb sich die Arme, doch die Gänsehaut wollte nicht verschwinden.

»Noch nicht. Er wartet draußen. Ja. Ja. Ich weiß. Das werde ich auch tun.« Dann riss ihm offensichtlich die Geduld. »Um Himmels willen, Nikodemus, sie hat geglaubt, ich wäre tot. Also dräng mich nicht so, ja?«

Alexandrine setzte sich auf. Ihr Puls hämmerte so laut, dass sie ihn in ihren Ohren zu hören glaubte. Ihr Magen zog sich zusammen. Sie war nervös. Nikodemus? Das war ein Name, bei dem ein Mädchen sich aufrechter hinsetzte. Vor allem, wenn sie eine Hexe war.

»Ja«, meinte Harsh erneut, doch es klang schon lockerer. Seine Augen blickten jedoch immer noch hart. Erbarmungslos, und Alexandrine fragte sich unwillkürlich, welche grauenvollen Dinge ihr Bruder hatte ertragen müssen.

Draußen wurde die Maschine eines Motorrads hochgedreht. Eins von diesen lauten, nervenden Bikes, die von bescheuerten Typen in Ledermontur gefahren wurden.

Harsh beendete das Gespräch, hob den Kopf, dann berührte er den Touchscreen erneut. Und nach einem Moment sagte er ins Telefon: »Wage es ja nicht abzuhauen!« Er starrte sie dabei an. »Oder möchtest du unbedingt, dass auch noch Nikodemus sauer auf dich ist?«

Shit. Alexandrine zuckte zusammen, als sie Harsh ein weiteres Mal den Namen sagen hörte, den sie so oft in den Büchern gelesen hatte, die sie, wo immer sie konnte, zusammengerafft hatte. Nikodemus? Verdammt. Über ihren gesamten Körper lief eine Kältewelle. So, als hätte sie gerade herausgefunden, dass Jack the Ripper nicht nur höchst lebendig war, sondern auch noch in der Wohnung nebenan lebte.

»Stell die verdammte Maschine ab und komm rauf. Ich mache dir auf.«

»Hey, nur damit du auf dem Laufenden bist, Dr. Marit.« Sie würde den Teufel tun und einen seiner Freunde hier begrüßen. »Ich kann prima auf mich selbst aufpassen. Das habe ich bereits gelernt, bevor du verschwunden warst.«

Harsh hatte das Gespräch beendet und holte tief Luft. »Nicht, was diese Typen betrifft.«

»Welche Typen?«

Der Motor des Bikes erstarb.

»Die Typen, denen es scheißegal ist, ob du abkratzt, solange sie das bekommen, wohinter sie her sind.«

»Was?« Etwas anderes fiel ihr nicht ein, und ihr »Was« klang ziemlich klugscheißermäßig-ungläubig. Das hatte sie gar nicht beabsichtigt. Es war nur … na ja, weil seine Worte zu perfekt zu ihrer Vorahnung passten und sie Hey, das ist es! denken ließen.

»Das ist es, was ich von dir will.« Sein Blick nagelte sie fest. »Ich möchte, dass er hier bei dir bleibt.«

»Ich brauche keinen Babysitter.«

Harsh lachte, doch es war kein fröhliches Lachen. »Wenn er bei dir ist, kommt niemand an dich heran.«

Ihr Gehirn erstarrte. Zu reinem Eis. Das war der Moment der Entscheidung. Hundertprozentig. Nur wusste sie immer noch nicht, welche Richtung sie wählen sollte. War der Typ auf der anderen Seite der Tür gut oder böse?

Als Harsh zur Tür ging, um seinen Helfer vom Menschenrettungsdienst hereinzulassen, wurde es ganz still in ihrem schäbigen Apartment. Würde sie die Augen schließen, könnte sie sich einreden, sie wäre allein. Aber sie war es nicht. Harsh stand an der Tür.

»Ich habe meinen leiblichen Vater gefunden«, sagte sie zu seinem Rücken.

Gerade als Harsh sich umdrehte, klopfte Mr. Ungeduldig und Ich-habe-ein-großes-Motorrad erneut.

Harshs Blick schien sie zu durchbohren. »Hast du nicht«, sagte er.

»Doch. Habe ich. In der Türkei. In einem kleinen Dorf zweihundert Kilometer nördlich von Ankara.«

Harsh öffnete die Tür und meinte dabei: »Nicht in der Türkei. Ganz bestimmt nicht.«

Womit er nicht unrecht hatte. »Ich habe herausgefunden, wer er ist, als ich in der Türkei war.« Sie schwieg einen Moment. »Scheint so, als wäre ich dort geboren worden. Dabei ist er Däne. Komisch, nicht? Er heißt Rasmus Kessler, falls dich das interessiert.«

Seine Hand lag auf dem Türknauf. Die Tür stand vielleicht drei Zentimeter offen. Es war unmöglich zu erkennen, wer sich dahinter befand. »Du hast ihn nicht getroffen. Das ist unmöglich.«

»Woher willst du das wissen?«

Licht fiel auf sein Gesicht, und plötzlich schien es, als wechselten seine Augen die Farbe. Unmöglich, doch es sah wirklich so aus.

»Weil du nämlich nicht mehr leben würdest, wenn du ihn getroffen hättest.«