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Gerade als Alexandrine die letzten Tüten abstellte, sah sie, wie eine missgestaltete, quasi-menschliche Gestalt Xia von hinten ansprang.

Blitzschnell drehte Xia sich um, bewegte sich mit der Grazie eines Tänzers, als sein Arm nach oben schoss. Das Wesen – Ein Tier? Ein Ding? –, das Xia attackiert hatte, schrie und sank zu einem formlosen Haufen zusammen.

Alexandrine wurde von Panik erfasst, und sie verspürte Übelkeit, als sie begriff, dass Xia seinen Angreifer getötet hatte und sich nun mit der gleichen Grazie einem zweiten Eindringling zuwandte. Mehr wollte sie gar nicht sehen. Sie wandte sich um und rannte davon.

Doch sie kam nicht weit. Am Treppenabsatz prallte sie mit einem harten Körper zusammen. So heftig, dass sie nach hinten taumelte, doch der Mann packte sie an den Schultern und hielt sie fest.

»Hoppla«, sagte er. »So stürmisch?«

Sie blickte in ein lächelndes männliches Gesicht, und ihr drehte sich der Magen um. Nichts. Verdammt. Sie hatte nicht die geringste Warnung verspürt.

»Alles in Ordnung?« Sein Griff wurde fester. Um seine Lippen spielte ein freundliches, harmloses Lächeln. »Brennt es irgendwo?«

»Lass mich los!« Sie versuchte, sich von ihm loszureißen, ihren Rucksack nach vorn zu drehen, damit sie an ihr Handy gelangen konnte. Doch er gab sie nicht frei. »Loslassen, verdammt!«

»Rasmus möchte nicht, dass dir etwas passiert«, sagte der Mann. Er lächelte erneut, doch dieses Lächeln hatte etwas Merkwürdiges. Unwirkliches. Beängstigendes. »Vielleicht kann ich ja helfen, falls es ein Problem gibt«, fuhr er fort. »Ich kann dich vor Xia beschützen.«

Alexandrine mochte es nicht, dass er sie berührte. Kälte legte sich auf ihre Haut, und, so unwahrscheinlich es auch war, sie spürte, dass sich ihr Talisman bewegte. Die Haut an ihrem Bauch prickelte.

Unvermittelt setzte Alexandrine ihren Rucksack als Waffe ein.

Ihr Gegner stöhnte nicht einmal auf, als ihn der schwere, mit Konservendosen vollgepackte Rucksack traf. Er packte einen der Riemen und riss ihr den Rucksack aus der Hand.

Und so schnell, dass sie die Bewegung nicht einmal wahrnahm, schloss sich seine Hand um ihren Hals. Seine Finger gruben sich in ihren Nacken, der Daumen lag auf ihrem Kehlkopf und drückte dagegen.

»Es wäre ganz einfach für mich, dich umzubringen«, meinte er. Diesmal versuchte er gar nicht erst, die Bosheit in seinen Augen zu verbergen. »Und glaub ja nicht, dass ich es nicht täte, Hexe. Ich kenne hundert verschiedene Arten, wie ich dich mit einer einzigen Handbewegung töten könnte. Rasmus wünscht, dass du nicht verletzt wirst, aber er versteht auch, dass die Realität manchmal seinen Wünschen entgegensteht. Ich habe seine Erlaubnis zu töten, speziell in solchen Situationen, kleine Hexe.«

Alexandrine erstarrte.

»Schon besser.« Er schob sie auf ihre Wohnungstür zu, sodass sie rückwärts gehen musste, hob dabei ihren Rucksack auf. »Hinein, Miss Marit, falls es Ihnen nichts ausmacht.« Der Mann gab ihr einen Schubs und schloss die Tür hinter ihnen. Ihr Rucksack landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden. Er ließ ihre Kehle los, drehte Alexandrine um und schob seinen Unterarm unter ihr Kinn. Mit der anderen Hand hielt er ihre Handgelenke hinter ihrem Rücken fest. Er übte gerade so viel Druck auf ihren Hals aus, dass sie wusste, er könne ihr jederzeit die Luft abschneiden.

»Danke, Durian«, sagte eine angenehm klingende Stimme.

Alexandrine nahm den Geruch von Blut und etwas Beißendem wahr. Zwei Körper lagen auf dem Boden, beide unzweifelhaft tot. Aber der Raum wirkte so verzerrt durch das Licht und das fahle Grau, dass sie nicht hätte sagen können, ob einer davon Xias Leichnam war.

Doch dann, als Durian sie Richtung Küche dirigierte, entdeckte sie Xia. Dort, wo eigentlich ihr Fernseher hätte stehen sollen, presste der Dämon einen großen weißblonden Mann gegen die Wand. Seine Hand, mit der er das Messer hielt, schien gerade noch innegehalten zu haben.

Obwohl Xia ihm das Messer an die Kehle hielt, wirkte Rasmus Kessler gelassen. »Durian, bring sie um, wenn Xia mich nicht loslässt«, sagte Alexandrines Vater.

Durian drückte noch ein bisschen fester zu. »Es wird mir ein Vergnügen sein.«

Rasmus hob die Hände. Alles an ihm sah nach Geld aus, sein Anzug, seine Krawatte, der schwere Goldring an seinem Daumen. Der facettierte rote Stein funkelte. Der Magier schien nicht älter als dreißig zu sein, höchstens fünfunddreißig, auch wenn Alexandrine wusste, dass dies unmöglich war. Er hatte genau die gleiche Haarfarbe wie sie. Seine Augen jedoch waren blau, nicht braun wie ihre. Er hatte einen kaum wahrnehmbaren Akzent, doch sein Englisch war tadellos.

»Alexandrine, Sie sehen, ich bin wehrlos«, sagte er.

»Verdammter Lügner«, meinte Xia. Sein Körper zitterte. »Glaub ihm kein einziges Wort!«, fügte er hinzu und sah Alexandrine an.

Rasmus Kessler lächelte. Ein sehr unangenehmes Lächeln. »Durian. Fang an.«

Xia senkte sein Messer und trat einen Schritt zurück. Glücklich wirkte er dabei nicht.

Rasmus Kessler strich seinen Anzug glatt und trat nach vorn. Graue Partikel lösten sich von der Wand und sanken zu Boden. Alles um Alexandrine herum war grau. Es roch stark nach Asche. Ihr Wohnzimmer war mehr oder weniger leer. Wände und Boden waren mit grauem Staub bedeckt, der hochgewirbelt wurde, als Xia einen weiteren Schritt nach hinten machte. Er atmete heftig und schien ausgesprochen wütend zu sein.

Rasmus strich sich das lange Haar nach hinten, über die Schultern. »So ist es schon besser«, meinte er. »Genau wie in alten Zeiten, nicht?«, fügte er hinzu, während er seinen Ring drehte.

Alexandrine hätte all ihr Geld darauf verwettet, dass dieser Ring magisch war.

Xia zeigte ihm den Stinkefinger.

»Und immer noch keine Manieren, wie ich sehe.«

Rasmus Kessler wirkte nicht bloß jugendlich. Er war jung. Zu jung, um ihr Vater zu sein. Und dennoch war er es. Und ein gut aussehender Mann. Sehr gut aussehend. Aber er war kein normaler Mann.

»Durian«, sagte ihr Vater, ohne den Blick von Xia zu wenden, »bring Miss Marit her.«

Der Druck seines Arms ließ ein wenig nach, als Durian sie quer durch den Raum schob.

Was auch immer den Boden bedecken mochte, es knirschte wie Sand unter ihren Füßen. Und bei jedem Schritt wirbelte feiner Staub auf. Der Aschegeruch war erstickend.

Dann stand sie vor dem Magier. Durian hielt sie am Oberarm. Rasmus nickte dem Magiegebundenen zu. »Und jetzt kümmer dich bitte um Xia. Aber bring ihn nicht gleich um, ja?«

Durian ließ Alexandrine los.

Xia, der sich weiter hinten im Raum befand, ging in Angriffsstellung, hielt das Messer locker in der Hand. Auf diese Entfernung schien es, als seien seine Augen ganz weiß geworden.

Alexandrines Körper wurde zu purem Eis. »Nein!«, schrie sie, erfüllt von grässlicher Angst, Xia könne sich so auf ihre Sicherheit konzentrieren, dass er seine eigene darüber vergaß und verletzt oder getötet oder gefangen genommen wurde.

Rasmus der Magier beobachtete Xia mit beunruhigender Gier. Er war ihr Vater, doch er hatte sie, Alexandrine, nicht haben wollen, als sie noch ein kleines Kind war, und auch jetzt wollte er sie nicht. Er hatte Magiegebundene auf sie gehetzt, um sie zu töten, und er war der Mann, der Xia zu seinem Sklaven gemacht hatte.

Alexandrine war nicht sicher, was sie zu ihm sagen konnte, ohne dass es sie in Gefahr brachte. Sie hatte keine Ahnung, was er über sie, Xia und das Amulett wusste. Freiwillig würde sie ihm ganz bestimmt keine Informationen liefern, es sei denn, es würde ihr einen Nutzen bringen.

Sein Daumenring mit dem großen Rubin – der ein Vermögen wert sein musste, wenn er echt war – pulsierte vor Magie. Sie würde jede Wette darauf eingehen, dass er ihn benutzt hatte, um seine Anwesenheit zu verbergen. Obwohl es jemandem wie ihm eh nicht schwerfallen sollte, sie auszutricksen.

»Miss Marit, Sie wissen offensichtlich nicht, was Xia ist«, sagte Rasmus mit seiner klangvollen Stimme. »Aber ich weiß es, und ich versichere Ihnen, Sie waren in großer Gefahr. Sie können froh sein, dass Sie noch leben.«

»Klar«, meinte sie. »Und deshalb sind Sie in meine Wohnung eingebrochen und haben das hier angerichtet.«

Er wischte sich grauen Staub von seinem Jackett. »Ach, Sie schätzen meine Beweggründe falsch ein, Miss Marit«, erwiderte er.

Der rote Edelstein, so groß wie einer ihrer Fingernägel, saß erhöht auf dem abgeschrägten Ringkopf. Alexandrine war sich sicher, dass er echt war. Für Magier besaß ein Rubin spezielle Macht, eine Macht, die Rasmus gerade einsetzte. Sie konnte es spüren.

»Ich bemühe mich nur, Sie am Leben zu erhalten«, fügte Rasmus hinzu.

»Und deshalb haben Sie diesem Idioten befohlen, mich zu töten?«, fragte sie mit einem Blick auf Durian.

»Ach, das war nur ein Bluff. Ich war sicher, Xia würde nicht zulassen, dass Durian Sie umbringt, schließlich möchte er das selbst erledigen. Auf eine sehr peinvolle Weise, glauben Sie mir. Ich fürchte, das ist eine schlechte Angewohnheit von ihm.«

Rasmus musterte sie von Kopf bis Fuß. »Xia hat mehr Frauen und Kinder getötet, als Sie an Ihren Fingern abzählen können. Und zu meinem Leidwesen weiß ich auch, wie er jeden einzelnen dieser Morde ausgeführt hat. Xia hat zu Recht einen höchst … nun ja, unerfreulichen Ruf.« Seine Augen wurden schmal. »Er hat Ihnen doch nichts angetan, oder?«

Alexandrine studierte seine Gesichtszüge, versuchte Ähnlichkeiten zwischen ihm und ihr zu entdecken. Sie waren beide gleich groß, um die eins achtzig. Sie hatten die gleiche Haarfarbe, und vielleicht waren ihre Gesichter ähnlich geschnitten. Aber ihre Augen hätten unterschiedlicher nicht sein können.

Und doch schien er zu jung, um eine Tochter in ihrem Alter zu haben. Niemand würde jemals glauben, dass er ihr Vater war. Ihr wurde übel, als sie wieder daran dachte, auf welche Weise Rasmus laut Xia seine Jugend bewahrte.

»Ich fürchte, dass Xia, genau wie die meisten seiner Art, keine große Zuneigung für unsereins empfindet.« Er breitete die Arme aus, in der gleichen Weise, wie man es auf diesen kitschigen Abbildungen von Jesus sah.

»Was wollen Sie?«, fragte Alexandrine. Dabei wusste sie es längst. Als er ihr antwortete, wusste sie, dass er log. Es war dumm gewesen zu denken, dass es ihm auch nur eine Sekunde lang etwas bedeutet hätte, ihr Vater zu sein.

»Sie tragen ein Schmuckstück, nicht wahr? Mit einem eingravierten Panther.« Rasmus neigte den Kopf zur Seite. »Nun ja, selbst Sie mit Ihren so eingeschränkten Fähigkeiten dürften inzwischen erraten haben, was es ist.«

Von Neuem wandte er Xia seine Aufmerksamkeit zu, und da lag sie wieder in seinen Augen, diese Gier, die Alexandrines Herz in blankes Eis verwandelte. O ja, sie wusste, was Rasmus Kessler sich in diesem Moment am meisten wünschte, und das war nicht ihr Talisman. Er wollte Xia wieder unter seiner Kontrolle haben.

Rasmus drehte den Ring an seinem Daumen. »Ein Objekt von solcher Macht darf nicht in falsche Hände gelangen«, fuhr er fort. Von Neuem schaute er zu Xia hin und sagte: »Durian, kümmer dich endlich um unser kleines Problem. Ich wünsche ihn schnellstens wieder unter Kontrolle zu bekommen. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«

Nun ja, mein Amulett möchte er auch, dachte sie, aber Xia will er noch mehr. Und im Vergleich dazu, wie sehr er sich wünschte, Xia wieder in seiner Gewalt zu haben, war das Amulett eher unbedeutend für ihn.

Alexandrine blickte zu Durian und Xia hin, die sich feindselig umkreisten.

»Na gut«, sagte sie. »Nehmen Sie das verdammte Ding.«

Durian machte einen Satz auf Xia zu, doch der trat einfach zur Seite und schlug ihm das Heft seines Messers auf den Rücken. Durian krachte so heftig zu Boden, dass alles bebte, doch im Nu stand er wieder auf den Füßen.

»Nikodemus will dich zurückhaben«, sagte Xia und schlug erneut zu. Die Luft um Xia flackerte. Durian krümmte sich zusammen. »Er wird Carson zu dir schicken. Das ist ein Versprechen.«

Alexandrine zog die Lederschnur über ihren Kopf. Es fühlte sich an, als würde ihr Inneres zerrissen, als der Talisman an ihrer ausgestreckten Hand baumelte. Rasmus griff danach, doch bevor seine Finger die Schnur berühren konnten, holte Alexandrine tief Luft und warf das Amulett quer durch den Raum. Es prallte mit einem dumpfen Knall auf den Boden und schlitterte ein Stück weiter. Staub wirbelte auf.

Rasmus schlug sie mit der flachen Hand.

Auch nach all den Jahren funktionierten Alexandrines Kampfinstinkte noch. Sie ging zu Boden, gab jedoch keinen Laut von sich. Immer noch wusste sie, wie man ruhig blieb, selbst wenn man verletzt war, immer noch konnte sie schmutzige Tricks anwenden, obwohl sie fast von dem verzweifelten Verlangen, sich den Talisman zurückzuholen, überwältigt wurde.

Eine Aschewolke stieg auf. Die Augen geschlossen, den Atem anhaltend, trat Alexandrine zu und traf Rasmus seitlich am Knie. Sie hörte und fühlte ein befriedigendes Knacken.

Der Magier heulte auf vor Schmerz, dennoch versuchte er, zu dem Talisman zu gelangen. Konnte einiges einstecken, der Bastard.

In einer fließenden Bewegung rollte Alexandrine sich herum, kam auf die Knie und packte Rasmus um die Knöchel. Er ging zu Boden. Sie arbeitete sich weiter durch den wabernden, stinkenden Staub. Der Zwang, den Talisman zurückzugewinnen, erwies sich nun als Vorteil für sie. Sie wollte ihn mehr als Rasmus.

Links von ihr gelangte Rasmus wankend auf die Füße. Die Luft um Alexandrine wurde zu Eis. Sie war am Boden festgefroren, atmete den Staub, erstickte fast an dem Gestank. Das letzte Bild, das sie auf Erden sah, würde das ihres Vaters sein, wie er versuchte, sie zu töten.

»Nun mach schon«, sagte sie und sah ihm in die Augen. »Bring mich um, Dad.«

»Durian, die Frau gehört dir, sobald ich Xia habe«, rief Rasmus. »Mach schnell. Bring es endlich zu Ende.«

Auf der anderen Seite des Raums tat es einen entsetzlichen Schlag. Der Boden bebte. Staub rieselte von der Decke.

Rasmus bückte sich nach dem Talisman. Als er sich wieder aufrichtete, hielt er das Amulett in der Faust.

Alexandrine schrie auf und hielt sich den Kopf. Ihre Augen brannten wie das Feuer der Hölle. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie eine Gestalt, die sich auf sie zubewegte. Sie wusste nicht, ob es Xia oder Durian war, denn inzwischen waren sie alle vollkommen mit Staub bedeckt – sie selbst, Rasmus, die beiden Dämonen.

Die Energie, die Rasmus’ Ring entströmte, ließ sie am ganzen Körper zittern. Er murmelte etwas, was sie nicht verstand. Und gleich darauf meinte sie zu ersticken.

Während sie versuchte, Luft, die nicht da war, in ihre Lungen zu ziehen, konnte sie tief in Rasmus hineinsehen, verband sich mit ihm in einem erschreckenden, tief sitzenden Pulsieren, das nichts anderes war als reine Emotion. Sie sah seine Magie, als ob sie etwas Lebendiges wäre. Sie spürte seinen Zorn darüber, dass er Xia verloren hatte, und seine tiefe Überzeugung, dass Xia eine tödliche Bedrohung für sie alle darstellte, solange er nicht gebunden war. Doch unter dieser Überzeugung spürte sie auch seine Gier. Er wollte Xias Macht für sich nutzen. Jedes einzelne Wort, das Xia über ihn geäußert hatte, war wahr.

Und nun stand Rasmus Kessler, der vielfache Mörder, im Begriff, Xia erneut zu versklaven. Alexandrine konnte fühlen, wie es geschah, und die Abscheulichkeit dessen verursachte ihr Übelkeit.

Xia prallte gegen den Magier, und Rasmus ging zu Boden. Sie hörte den Talisman klirrend aufschlagen, und im selben Moment zerbrach ihre Verbindung zu Rasmus. Weißglühende Hitze nahm Alexandrine die Sicht, und nun befand sie sich in Xias Geist, sah sich durch seine Augen auf dem Boden knien, nach Luft schnappen, und es gab nichts, was sie hätte tun können, um diese Qual zu beenden. Sie wusste nicht, wie sie ihren Körper veranlassen sollte, sich zu bewegen, wenn sie sich außerhalb von ihm befand.

Der Schmerz, der durch sie schoss, war Xias Schmerz, und sie verstand nicht, wie irgendwer das überleben konnte.

Jemand schrie etwas, und dann fiel sie zurück in ihren Körper. Xia hatte nun das Amulett, hielt es an der Schnur, sodass er den Stein nicht direkt berühren musste.

Alexandrines verzweifeltes Verlangen, den Talisman zurückzubekommen, war stärker als alles andere. Irgendetwas platzte in ihrer Brust, und dann befand sich der Talisman plötzlich wieder in ihren Fingern, einfach so. Fest umklammerte sie ihn.

»Alexandrine!«, rief die Stimme einer Frau.

Alexandrine zwang sich, die Augen zu öffnen, und sah Maddy in der Tür stehen, Schachteln mit Essen in den Händen und eine Flasche Mineralwasser unter den Arm geklemmt.

Maddy stellte die Schachteln ab, merkwürdigerweise aber nicht die Flasche, und rannte auf die Freundin zu. »Bist du in Ordnung?«, wollte sie wissen.

»Maddy, verschwinde!« Alexandrine stützte sich auf Knie und Hände, schüttelte den Kopf. Schmerz verbrannte ihren Körper. Doch schließlich gelang es ihr, sich aufzurichten – gerade in dem Moment, als Xia von den Füßen gerissen wurde. Blut quoll aus einem Schnitt, der sich über seine Schulter zog.

Voller Entsetzen musste sie mit ansehen, wie Durian Xia in den Schwitzkasten nahm, während Rasmus sich den beiden näherte und dabei den Ring an seinem Daumen berührte. Der ganze Raum knisterte vor Magie, und Alexandrines Magen revoltierte.

»Sieht ganz so aus, Xia, als seist du in den Schoß der Herde zurückgekehrt«, meinte Rasmus.

»Nein!« Verdammt, ihr Kopf brannte wie Feuer. Alexandrine versuchte zu ziehen, doch nichts passierte. Ihre Magie funktionierte nie, wenn sie sich mühte, sie gezielt einzusetzen. »Xia!« Sie streckte eine Hand nach ihm aus, doch sie war zu weit entfernt und zu spät dran.

Rasmus hatte Xia erreicht und berührte dessen Brust.

Panik schnürte ihr die Kehle zusammen. Alexandrine verfügte nicht über die Art von Magie, die dieses Geschehen hätte aufhalten können. Sie wollte zu Rasmus laufen, entschlossen, etwas zu tun. Irgendetwas. Doch Maddy packte sie am Arm und hielt sie auf.

Alexandrine wirbelte herum. »Maddy, kümmer dich darum! Sorg dafür, dass das aufhört!«, schrie sie.

Ihre beste Freundin starrte sie aus großen Augen an. »Um alle drei?«

»Halt den Blonden auf!«, erwiderte Alexandrine. Dann entriss sie Maddy die Flasche und ging auf Durian los, denn wenn Magie ihr nicht half, musste sie es mit ganz normaler Körperkraft versuchen.

Sie spürte, wie Maddy zog, und das lenkte Rasmus ab. »Unterwirf den Dämon, Hexe«, hörte sie ihn sagen, dann stand sie hinter Durian und holte aus.

Die Wasserflasche traf Durians Hinterkopf im selben Moment, als Xia ihn in die Nieren boxte. Mit einem Stöhnen brach der Magiegebundene zusammen.

Xia verschränkte beide Hände und ließ sie wie einen Hammer auf Durians Rücken niedersausen. Er tat sein Bestes, Durian nicht umzubringen, doch das schränkte ihn genauso ein wie sein Versprechen, für ihre Unversehrtheit zu sorgen. Es nahm ihm die Möglichkeit, sich selbst vor Rasmus zu schützen. Sein Messer lag auf dem Boden. Die Klinge blitzte noch einmal auf, bevor sie unter einer Schicht Asche verschwand.

»Hexe!«, schrie Rasmus erneut und meinte Maddy. Da Durian auf dem Boden zusammengesunken war, zog er sich von Xia zurück. »Wir müssen den Dämon binden«, sagte er zu Maddy. »Bevor er irreparablen Schaden anrichtet. Bitte!«

»Ich bemühe mich«, erwiderte Maddy. Sie klang ganz ruhig, doch das tat sie immer, wenn sie unter Druck stand.

Alexandrine spürte, wie Magie aus Maddy floss, Magie, die eindeutig vollkommen anders war als Rasmus’ Macht.

Xia wirbelte zu Maddy herum. Seine Augen schienen im Wechselspiel eisblau und weiß. Er sah aus, als wollte er gleich Feuer speien.

Alexandrine machte einen Satz dorthin, wo sein Messer lag. So tief am Boden war die Asche immer noch heiß. Trotzdem schob sie ihre Hand hindurch, bis sie das Messer greifen konnte. Eine der Klingen verletzte die Innenfläche ihrer Hand, doch sie ignorierte den Schmerz. Als sie die Waffe schließlich sicher in der Hand hielt, strömte ein ganzer Fluss aus Eis über ihren Rücken.

Xias Augen strahlten nun in reinem Weiß.

Rasmus stolperte und ging dann langsam in die Knie. Seine Augen traten vor, während Maddy ganz blass wurde. Was auch immer sie dem Magier antat, es strengte sie sehr an, und sie behielt nicht lange die Oberhand.

Rasmus flüsterte etwas vor sich hin, und über ihren Köpfen schien die Luft zu explodieren.

Xia warf Alexandrine zu Boden, schützte sie mit seinem Körper.

Funken fielen herab, zischten und zerplatzten, wenn sie landeten. Einer brannte sich in die Haut von Alexandrines unbedeckter Wade. Der Boden unter ihren Füßen bebte, und Maddy verlor das Gleichgewicht.

Alexandrine rollte sich weg, als Xia ein lautes Heulen ausstieß. Maddy hockte am Boden, schützte den Kopf mit den Händen. Durian war wieder auf den Füßen, Blut tropfte von seinem Hinterkopf. Mit einem Knurren stürzte er sich auf Xia, der ein Bein hob und dem Magiegebundenen einen heftigen Tritt gegen die Brust verpasste. Aus ebendieser Bewegung heraus wirbelte Xia herum, packte Rasmus und schleuderte ihn durch die Luft. Mit einem hässlichen Krachen prallte der Magier gegen die Wand.

»Komm!«, befahl Xia, dessen Atem nicht schneller ging als sonst. Er packte Alexandrine an der Hand und zog sie aus der Wohnung.

Maddy folgte ihnen in den Hausflur, dann wandte sie sich um und schlug die Wohnungstür zu. Sie presste die Hände gegen das Holz und murmelte etwas vor sich hin.

»Maddy, jetzt mach schon«, sagte Alexandrine.

Maddy wandte den Kopf und blickte Xia direkt an. »Bring sie weg von hier. Sofort.«

Xia nickte und zerrte an Alexandrines Arm.

»Maddy!«, drängte Alexandrine.

Als Xia und sie zur Treppe liefen, weg von Alexandrines verwüsteter Wohnung, rief Maddy hinter ihnen her: »Sollte Alexandrine irgendetwas passieren, werde ich dich finden, Dämon!«

Xia lachte nur, während sie davonrannten, als wäre der Teufel hinter ihnen her.

Doch plötzlich bemerkte Alexandrine, dass sich sein weißes T-Shirt am Rücken rot verfärbt hatte, und unwillkürlich wollte sie anhalten. »O mein Gott«, flüsterte sie. »Du bist verletzt!«

»Ich werde es überleben«, sagte er nur und zog sie weiter.