8n
»Kurz nach meinem zwölften Geburtstag begannen mir plötzlich merkwürdige Dinge zu passieren«, erzählte Alexandrine. »Damals hatte ich meine erste Vorahnung. Ich war fest davon überzeugt, ich würde durchdrehen, und ich hatte viel zu viel Angst, jemandem davon zu erzählen. Meine Eltern waren reine Verstandesmenschen. Ohne große Emotionen. Sie glaubten nicht an übersinnliche Wahrnehmungen und ähnlichen Unsinn. Ich versuchte trotzdem, mit meiner Mom zu reden, aber sie meinte, ich würde mir das alles nur einbilden, und brachte mich zum ersten von vielen Therapeuten, die noch folgen sollten. Meine Eltern, ich meine, die Leute, die mich großgezogen haben, besaßen selbst nicht das kleinste bisschen Magie. Sie waren vollkommen normal.«
»Taub. So nennen es manche.« Xia nickte und sah sie an. »Zwölf, dreizehn, das ist das Alter, in dem normalerweise das Training einer Hexe beginnt«, erklärte er dann und verschränkte die Hände hinter dem Nacken. »Wenn die Magie an Kraft gewinnt. Magellan begann, mit Carsons Magie herumzupfuschen, als sie noch viel jünger war, und selbst Rasmus hielt das für ziemlich krank.«
Er redete über Carson, als sei sie etwas ganz Besonderes für ihn. Seine Freundin vielleicht? Aber war diese Carson nicht mit Nikodemus zusammen? Umso schlimmer. Dann mochte es unerwiderte Liebe sein. Was einen weiteren Keil zwischen Xia und sie trieb.
»Ich bekomme immer noch Albträume, wenn ich mich an jene Zeit erinnere«, fuhr Alexandrine fort. »Ich dachte wirklich, ich würde verrückt.«
»Tatsächlich?«
Wieder trafen sich ihre Blicke, und für einen Moment kam es Alexandrine so vor, als würde sie sich völlig in diesen Augen verlieren und für immer darin gefangen bleiben. Ein Schauder lief über ihren Rücken. Wieder musste sie sich daran erinnern, dass er kein Mensch war, auch wenn er so aussah. Er war etwas völlig anderes. Doch was, das lag vollkommen außerhalb ihrer Vorstellungskraft – was ein Nachteil für sie war. Denn Xia kannte die Unterschiede zwischen ihnen nur zu gut.
»Es ging mir immer schlechter«, fuhr sie fort. »Mom schleifte mich zu Ärzten, Psychiatern und Therapeuten. Dann verschwand Harsh. Und ich begriff, dass alle sich viel wohler fühlten, wenn ich nicht über meine Probleme sprach. Also sprach ich nicht mehr darüber, und sie waren glücklich. Aber meine Probleme blieben. Ich war immer noch ein Freak.«
Xia spielte weiterhin mit seinem Messer.
Wahrscheinlich interessierte es ihn herzlich wenig, was sie von ihrem Leben erzählte. Warum hätte es das auch tun sollen? Es war immer noch das Gleiche: Es war besser, den Mund zu halten. Nichts zu wissen machte die anderen glücklich, half ihnen, ihr Leben weiterzuführen.
Das Dumme war nur, dass sie sich wünschte, dass Xia verstand. Und dazu musste sie reden. Auch wenn es ihr widerstrebte.
»Erzähl weiter«, bat er sanft. »Ich höre zu.«
Wenn auch nur ein Hauch von Spott in seinen Worten gelegen hätte, hätte sie keinen Ton mehr gesagt.
»Es gibt Magier, die ganz anders sind als Rasmus und Magellan«, erklärte Alexandrine. »Typen wie ich, die man entsorgt, wenn sie diesen Test nicht bestehen, dem man sie mit drei Jahren unterzieht – was auch immer man da testen mag. Die in normale Familien abgeschoben oder zu Verwandten geschickt werden, die nicht ahnen, was wir sind. Keine normalen Kinder nämlich, und manche von uns verfügen über mehr Magie, als du dir vorstellen kannst.«
»Ja, ein Magier ist und bleibt ein Magier. Im Grunde seid ihr alle gleich.«
Alexandrines Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Sie wollte nicht, dass Xia sie weiterhin hasste. »Nein, das stimmt nicht. Und außerdem gibt es mehr von uns als Magier wie Rasmus und Magellan. Hexer wie mein leiblicher Vater halten sich fern von uns gewöhnlichem Volk, glaub mir das. So fern, dass wir sogar vermutet haben, dass Magiegebundene bloß im Reich der Fabelwesen existieren. Und …«
Xia hob den Kopf und starrte sie mit einem Ausdruck an, den sie nicht deuten konnte. »Wie viele?«
»Wie viele was? Ach so, du meinst Leute wie ich.«
»Wie du«, bestätigte er.
»Hier in San Francisco weiß ich von fünf oder sechs. Maddy – sie ist die stärkste von uns – ist überzeugt, dass es mehr gibt. Die aber niemals herausfinden, was mit ihnen los ist. Und entweder verrückt werden oder alles unterdrücken und ein ganz normales Leben führen und alle glücklich machen.«
»O Gott«, murmelte Xia vor sich hin. »Was für ein verdammt beängstigender Gedanke, dass es noch mehr von euch da draußen gibt.« Er schüttelte den Kopf. »Wie hast du herausgefunden, was du bist?«, wollte er dann wissen.
Sie schnitt ihm eine Grimasse, und Xia lächelte leicht. »Ich fand meine Geburtsurkunde unter den Sachen meiner Mom. Zu der Zeit kam ich nicht besonders gut mit meinem Dad aus, und nicht lange danach ging ich von zu Hause weg. Irgendwann begann ich, meine leiblichen Eltern zu suchen. Meine Mutter lebte jedoch nicht mehr.« Alexandrine lehnte den Kopf zurück. »Also machte ich mich auf die Suche nach meinem Erzeuger.«
»Sag bloß!«
Sie sah verstohlen zu ihm hin, weil sie wissen wollte, wie Xia reagierte. Es war schwer zu sagen. Er wirkte nachdenklich. Vielleicht.
»Ich fand die Adoptionsvermittlung hier in der Stadt, und sie sagten mir, ich sei in der Türkei geboren. Dort habe ich dann herausgefunden, wer mein Vater ist.«
Alexandrine senkte den Kopf. Über ihre Vergangenheit zu reden weckte Gefühle in ihr, die schmerzhafter waren, als sie erwartet hatte.
»Schließlich kam ich mit dem Amulett zurück, und das war’s«, schloss sie.
Xia schwieg.
Alexandrine konnte nicht erkennen, was er dachte. Sie nahm wieder diese Beinahe-Lotusposition auf ihrem Stuhl ein und legte die Fingerspitzen von Mittelfinger und Daumen aneinander. Eine Geste, die ihr half, sich zu entspannen.
Xia sagte immer noch nichts. Blickte auf sein Messer, als stelle er sich gerade vor, wie er ihr damit das Herz herausschnitt. Was für ein aufbauender Gedanke!
»Was unsere neue ›Freundschaft‹ betrifft – ist sonst noch was zu klären?«, fuhr sie fort.
Jedes Mal, wenn sie in seine Augen schaute, schoss eine Hitzewelle durch sie, verspürte sie ein Prickeln an ihrem Hinterkopf. Natürlich war das eine rein körperliche Sache. Verdammt körperlich. Und verdammt nervend, dass sie auf einen Typen heiß war, der der Meinung war, das Wort »Hass« reiche nicht aus, um seine Gefühle für sie zu beschreiben.
»Du kannst mir nicht vertrauen«, sagte Xia da. »Du kannst mir in gar nichts vertrauen, abgesehen davon, dass ich nicht zulassen werde, dass Rasmus dich umbringt. Jeder, der mich kennt, weiß, dass ich ein verdammter Bastard bin. Das muss dir klar sein.«
»Danke für die Vorwarnung«, erwiderte sie trocken.
Xia lächelte, und dieses Lächeln brachte Alexandrine beinah um den Verstand. Er war ein unmöglicher Typ, absolut unmöglich, aber er sah absolut großartig aus. Und er war genau der Typ, auf den sie stand. Groß. Dunkel. Ein bisschen gefährlich. Wenn sie Glück hatte, dann war er einer von denen, die beim Sex nicht viel redeten. Denn dann konnte sie, wenn sie miteinander schliefen, vergessen, dass er sie verabscheute, und sie würden beide nichts sagen, was den Moment zerstören könnte.
Xia machte eine Handbewegung. »Übrigens, was deinen Talisman betrifft …«
»Wieso nennst du das Amulett eigentlich immer Talisman?«
»Weil es auf meiner Seite der Welt eben ein Talisman ist. Ein magischer Gegenstand.« Er presste die Lippen zusammen und fuhr sich mit den Fingern durch das immer noch feuchte Haar.
»Ist schon gut. Ich höre zu.«
Er hob den Kopf, und erneut war sie verblüfft von dem unnatürlichen Eisblau seiner Augen. Himmel, war er attraktiv. Unwillkürlich fragte sie sich, ob Wesen wie ihm Sex wirklich etwas bedeutete. Vermutlich nicht. Hieß das, dass sie Sex haben konnten, und nichts würde sich ändern? Schon gar nicht seine Einstellung zu der Aufgabe, die er übernommen hatte? Würde er weiterhin daran festhalten, dass »Alexandrine nicht sterben durfte«?
»Magier wie Rasmus oder Magellan können ihren Worten unglaubliche Macht verleihen, wenn diese richtig gesprochen werden und die richtige Magie sie verstärkt«, erklärte Xia. Stirnrunzelnd betrachtete er die Messerklinge. »Vor allem aber, wenn sie Blut opfern. Spricht ein Hexer die richtigen Zaubersprüche, kann er die Lebenskraft eines Menschen in sich aufnehmen. Dummerweise stirbt der Mensch dabei, falls du dich gerade gefragt hast, was dann mit ihm passiert. Der Magier aber wird erst mit einundachtzig Jahren sterben statt mit achtzig. Tötet er allerdings einen aus der Sippe – also ein solches Wesen wie mich –, dann lebt der Magier wesentlich länger.«
Er sah sie an, und Alexandrine versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, was sie dachte. »Deshalb lebt dein Vater immer noch.« Einer seiner Mundwinkel zuckte. »Nach so vielen Jahren.«
Sie antwortete nicht darauf. Schließlich hatte sie nichts mit dem zu tun, was Rasmus Kessler tat. Dennoch war es ganz schön gruselig zu hören, welche Anklagen Xia gegen ihren Vater vorbrachte.
»Ich dachte, du wolltest mir erklären, was ein Talisman ist«, meinte sie.
Er schaute zur Seite, und Alexandrine registrierte, dass seine Finger sich fester um den Griff seines Messers schlossen. Dann sah er sie wieder an und sagte: »Willst du wissen, wie man einen solchen Talisman erschafft?«
Sie nickte. Xia hielt ihren Blick fest, und sie zuckte zusammen, als sie den Hass in seinen Augen aufflammen sah. So viel dazu, dass sie sich vorgenommen hatte, entspannt und ruhig zu bleiben.
Fahrig strich Xia sich das Haar aus der Stirn. »Ich war gezwungen zuzuschauen, wenn Rasmus sich einen Magiegebundenen ›vornahm‹. Am liebsten einen, der gerade erst seine Freiheit verloren hatte. Sie liegen vor ihm, können sich nicht mehr bewegen.«
Er schloss die Augen. »Aber sie können immer noch hören und fühlen und denken, und wir alle, sämtliche Magiegebundenen, spürten, was passierte. Rasmus zog so viel Magie wie möglich, mit aller Kraft, und dann stieß er seinem Opfer das Messer hier hinein.« Xia zeigte auf seine Brust. »Manchmal tötete er zuvor noch einen anderen Dämon. Um mehr Kraft zu gewinnen. Ohne Blut vermag er seine Magie nicht richtig zu fokussieren. Und während der ganzen Zeit, in der der Magiegebundene starb, spürten wir anderen, wie das Leben und die Magie unseres Bruders in ein solches mit Gravuren versehenes Objekt flossen, wie du es jetzt trägst.«
Nun schloss auch Alexandrine die Augen, öffnete sie jedoch wieder, weil sie die Bilder nicht ertragen konnte, die in ihrem Kopf entstanden waren. Sie wollte ihm nicht glauben, doch das wenige, was sie über Magier und Dämonen gelesen hatte, passte zu dem, was er ihr gerade erzählt hatte. Nur war es natürlich aus einem anderen Blickwinkel beschrieben. So oder so fand sie es abstoßend.
»Wenn das Ritual beendet ist, lebt der Dämon weiter, dort drin. Gefangen, ohne Körper. Getrennt von der Sippe. Was ebenso schlimm ist, Alexandrine, denn Dämonen brauchen den geistigen Kontakt zu ihren Artgenossen.« Xias Blick schien nach innen gerichtet. »Du hörst die Schreie der Opfer noch tagelang in deinen Gedanken«, flüsterte er. »Du vergisst sie dein Leben lang nicht.«
Xias Blick klärte sich, und erneut zuckte Alexandrine zusammen. »Und dann brachte Magellan Rasmus bei, wie man uns unsere Macht ohne Umwege nehmen konnte, und es wurde noch schlimmer.«
Horror erfüllte sie, ließ sie erstarren. Was, um Himmels willen, konnte sie auf solche Scheußlichkeiten antworten?
»Auch dabei habe ich zugeschaut«, fuhr Xia fort. »Ich war dabei, stand neben deinem Vater, während er einen aus meinem Volk ermordete, nur damit er selbst ein paar Jahre länger leben konnte. Und ich war auch an seiner Seite, als er einen Talisman aufbrach, um die Magie zu stehlen, die noch darin vorhanden war.« Seine Hände schlossen und öffneten sich. »Und die ganze Zeit über habe ich mich gefragt, wann ich wohl an der Reihe sein würde.«
Noch immer erwiderte sie nichts. Wie denn auch? Wie sollte man seine Empfindungen in Worte fassen, wenn man gerade so entsetzliche Dinge erfahren hatte? In all den Jahren hatte sie sich immer wieder gefragt, wie ihr leiblicher Vater wohl sein mochte, und nun wusste sie es: böse.
Alexandrine berührte ihren Talisman. »Du behauptest allen Ernstes, dass dieses Ding lebt?«
»Es ist Leben darin.«
Eine Vorstellung, die ihr Übelkeit verursachte.
»Ein Talisman behält seine Macht nicht ewig«, fuhr er fort. »Sie sickert allmählich heraus, findet ihren Weg nach draußen durch Risse in ihrem Gefängnis. Magellan entdeckte, wie sich ein Talisman aufbrechen ließ und er dessen Magie in sich aufnehmen konnte. Führ das oft genug durch, und du wirst keines natürlichen Todes mehr sterben. Nie. Ich war dabei, als er Rasmus sein Wissen lehrte.«
Immer noch fand Alexandrine keine Worte. Kein Wunder, dass Xia sie hasste. Wahrhaftig nicht.
»Wenn ein nicht gebundener Dämon von einem Talisman erfährt, versucht er, ihn an sich zu bringen. Und ihn aufzubrechen. Die darin Gefangenen haben keinen eigenen Körper mehr, und so bieten wir ihnen unsere Körper an, wer auch immer sie einst gewesen sein mögen.« Er fuhr mit der Zungenspitze über seine Lippe. »Es ist niemals einfach, ihre Macht an unsere anzupassen. Wir wissen ja nicht, vorher, was ihre Magie umfasst, und wenn wir es erkennen, ist es bereits zu spät, um etwas zu ändern. Doch wenn wir es überleben, ehren wir denjenigen, dessen Körper starb. Seine Magie lebt in uns weiter. Mit uns.«
»Hast du selbst das schon einmal gemacht?«
Xia legte das Messer auf seine Oberschenkel, und sein Blick wurde erneut unscharf, während er über die Waffe strich, vom Griff bis zur Spitze. »Nein«, antwortete er.
Ein Eisklumpen bildete sich in Alexandrines Magen. »Aber du hast es vor«, sagte sie. Natürlich hatte er es vor – mit ihrem Amulett. Unwillkürlich ließ sie ihre Finger über den Talisman gleiten, der unter ihrer Bluse verborgen war.
»Ja«, gab Xia zu.
Sie suchte nach den richtigen Worten. »Ich … ich hatte keine Ahnung. Davon, was dieses Amulett ist.«
»Ich weiß.«
Alexandrine fühlte sich erbärmlich klein. »Selbst wenn ich wollte, Xia, könnte ich niemals jemandes Magie in einer solchen Thunfischdose einschließen.«
Er wandte den Kopf, sodass ihre Blicke sich trafen. »Trotzdem bist du eine Hexe.«
»Meine Magie ist nutzlos.«
Xia schien nicht dieser Meinung zu sein. »Der Talisman ist dabei, das zu ändern.«
»Nein, tut er nicht.«
»Doch, er bringt sie zum Funktionieren. Das spüre ich. Früher oder später wirst du genauso Magie ziehen können wie dein Daddy.«
»Nein«, erwiderte Alexandrine. Ihr Herz zerbröselte zu Staub. »Ich weigere mich, das zu glauben. Für mich ist das einfach nur ein Stein, in den ein Muster graviert ist. Mehr nicht. Und irgendwelche Fähigkeiten hat das Ding schon gar nicht.«
Natürlich hatte sie gerade Unsinn geredet. Der Talisman hatte sie verändert. Oder gab es vielleicht eine nicht-magische Erklärung dafür, dass es ihr nicht möglich war, das Amulett abzulegen?
Sie zog den Talisman aus ihrer Bluse. Der steinerne Panther starrte sie aus leblosen Augen an.
»Das ist einfach nur Stein«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Xia. »Nichts als ein Stück Stein. Vielleicht war ja mal irgendwann etwas da drin, doch nun ist da gar nichts mehr.« Alexandrine bemühte sich, rational zu argumentieren, aber sie fühlte sich unwohl dabei. Handlungen hatten Konsequenzen, manchmal, oft sogar auch unbeabsichtigte, und Konsequenzen musste man sich stellen.
»Was auch immer es war, ist fort«, fügte sie lahm hinzu. Doch sie wussten beide, dass sie das nicht glaubte. Nicht wirklich.
Xia beugte sich zu ihr hinüber. »Zieh das aus.«
»Ich wette, das sagst du zu allen Mädels.«
»Komm schon, Alexandrine!«
Sie wusste natürlich, dass es keine sexuelle Anspielung war, doch als er sie anschaute, spürte sie, wie sie auf Xia reagierte.
»Du hast doch selbst gesagt, dass es nur ein Stein mit einer Gravur ist, also zieh den Talisman für mich aus, Baby!«
Ein heftiger Widerwille erfüllte sie, heiß und brennend. Das verdammte Ding war nicht magisch, war es wahrscheinlich niemals gewesen. Und trotzdem konnte sie ihre Hände nicht dazu bringen, nach der Schnur zu greifen, an der das Amulett hing. In diesem Moment, in ebendieser Minute war sie felsenfest davon überzeugt, dass sie sterben würde, wenn sie den Talisman ablegte. Das war verrückt, völlig verrückt, denn noch dreißig Sekunden zuvor hätte sie so etwas nie gedacht.
Alexandrine stand auf, musste sich aber an der Rückenlehne abstützen, weil ihre Beine plötzlich so wackelig waren. »Woher kommt das?«, flüsterte sie. »Warum kann ich den Talisman nicht ablegen?«
»Weil du eine Hexe bist«, erwiderte Xia. »Die Magie des Talismans sickert seit Monaten in dich hinein. Was dich verändert hat. Jedoch so langsam, dass es dir selbst nicht aufgefallen ist.«
»Nein.« Eine Mischung aus Zorn und Entsetzen erfüllte Alexandrine, gab ihr den Mut der Verzweiflung. Sie zerrte an der Schnur. Das Leder biss in ihren Hals, schnitt in die Haut. Der scharfe Schmerz zerrte sie aus ihrer Panik. Die Lederschnur riss. Alexandrine warf Xia den Talisman mit aller Entschlossenheit zu.
Sie beobachtete, wie der Stein in einem Bogen durch die Luft flog. Sah, wie Xia die Schnur fing. Der Talisman schwang hin und her, dunkel und hell, dunkel und hell.
Alexandrine hatte auf einmal das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ihre Haut prickelte. Feuer flackerte in ihrem Kopf auf, und die Hitze wurde so groß, dass Alexandrine sicher war, sie würde gleich in Flammen aufgehen. Ihr gesamter Körper brannte. Ein Schauder durchlief sie, ihm folgte eine noch gewaltigere Hitze.
Und dann war der Talisman plötzlich wieder in ihrer Hand.
Vom Bett her meinte Xia: »Sag mir bloß nie wieder, dass du keine verdammte Hexe bist.«
»Ich habe das nicht getan.« Doch der Talisman lag in ihrer Hand, die beiden Enden der Schnur baumelten herunter.
»Leg ihn wieder um«, riet Xia.
»Ich will nicht.« Alexandrines Stimme zitterte. »Ich will dieses Ding nicht in meiner Nähe haben. Es ist grässlich.« Ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf, ließ sich nicht unterdrücken. Was für ein pathetischer Laut das war. »Ich kann so nicht leben. Mit dem Wissen, was dieses Ding in Wirklichkeit ist. Ich will es auch nicht.«
Xia rutschte auf die Bettkante und streckte eine Hand aus. »Komm her.«
»Wozu?«
Er verzog das Gesicht. »Tu es einfach, ja?«
Sie legte ihre Hand auf seine, und er zog sie auf das Bett. Alexandrine kniete auf der Matratze, den Talisman in ihrer Hand, während Xia die gerissene Schnur zusammenknotete. Dann hängte er ihr den Talisman wieder um.
»Ich will ihn nicht.« Doch sie umklammerte den Talisman immer noch so fest, als hinge ihr Leben davon ab, dass sie ihn nicht losließ.
»Es wird eine Weile dauern, diese Abhängigkeit zu lösen, ohne dir Schaden zuzufügen«, sagte Xia. Seine Hand lag immer noch an ihrem Hals. »Hier kann ich nicht damit beginnen. Und auch nicht jetzt und sofort. Für diese Art von Magie muss man Vorbereitungen treffen. Verstehst du das?«
»Aber du wirst mich von diesem Ding befreien, ja?«
»Ja«, versprach Xia. »Das werde ich tun.« Vorsichtig löste er ihre Finger. »Ich möchte ihn mir nur noch einmal ansehen, ja?«
»Okay.« Dabei fühlte sie sich, als würde sie in zwei Hälften gerissen. Die eine wollte ihn nicht einmal das Amulett anschauen lassen, die andere, offensichtlich die schwächere Hälfte, wünschte sich, dass er den Talisman an sich nahm, weil sie selbst niemals die Kraft haben würde, sich von ihm zu trennen. Nicht noch einmal.
Schließlich legte sie ihm die Hände auf die Schultern, um sich abzustützen. Xia bewegte sich nicht mehr. Wurde so still wie eine Statue. Dann, nach einer Weile, lehnte er sich zurück und zog Alexandrine mit sich. Das Amulett schwang auf ihn zu, und er fasste es mit zwei Fingern.
Im selben Moment, als er den Talisman berührte, fiel Alexandrine in Xias Geist. Himmel, es war völlig verrückt. So etwas passierte nicht wirklich. Konnte nicht passieren. Leute verließen nicht einfach ihre Körper, um mal eben dem Kopf eines anderen einen Besuch abzustatten. Sie berührte Xias Geist, und was sie dort vorfand, ließ einen Schrei in ihrer Kehle aufsteigen.