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Hexe oder nicht, sie ist genau mein Typ, dachte Xia, während er beobachtete, wie Alexandrine und ihr Bruder sich ein Blickduell lieferten. Groß. Lange Beine. Hübscher Vorbau. Scheute sich nicht, Kleidung zu tragen, die ihre Figur betonte. Jeans, die auf den Hüften saßen – er mochte diese Mode. Er mochte auch Blondinen, und sie war ziemlich blond. Fast schon weißblond.
Nur ihre Frisur gefiel ihm nicht – so kurzes Haar löste immer noch Unbehagen in ihm aus –, auch wenn er fairerweise zugeben musste, dass der Schnitt auf vorteilhafte Weise ihre Wangenknochen betonte.
Ihr Shirt saß schön eng. Der Busen hätte größer sein können, obwohl sie ganz gut bestückt war. Alles in allem steckte Alexandrine Marit in einer hübschen Verpackung. In einer verlockenden Verpackung. Wenn sie keine Hexe wäre, hätte er sich längst an sie herangemacht.
»Er bleibt nicht«, erklärte Alexandrine ihrem Bruder.
»Doch, er bleibt.«
Xia streckte genüsslich die Beine aus. Es machte Spaß zuzuschauen, wie sie ihre Kräfte maßen. Eins musste man der Hexe lassen: Sie hatte keine Angst vor Harsh.
Alexandrine stemmte erneut die Hände in die Hüften. Ihr Shirt rutschte hoch, gerade so weit, dass Xia einen schmalen Streifen blasser Haut sehen konnte.
Ob sie einen Tanga trug? Jedenfalls zeichnete sich nirgendwo ein Slip ab.
»Nein, tut er nicht!«
»Du selbst hast Magellan wissen lassen, dass es dich gibt, Alexandrine. Sie kennen dich jetzt.«
»Sie? Wer zum Teufel sind ›sie‹, Harsh?«
»Was glaubst du denn? Die Magier natürlich. Richtige Magier«, erwiderte Harsh. »Leute, neben denen du eine Null bist.«
»Danke.« Sie steckte das ziemlich gut weg. Zu schlucken hatte sie lediglich daran – das konnte man deutlich merken –, dass Harsh über das Magiergeschlecht Bescheid wusste.
»Dein gottverdammter leiblicher Vater hat dich jetzt ins Visier genommen«, fuhr Harsh fort. »Glaub mir, von dem Moment an, als du Magellan die Mail geschickt hast, warst du nicht mehr sicher. Du kleine Idiotin. Sie wissen jetzt, dass du einen Talisman besitzt, und sie werden alles daransetzen, ihn dir wegzunehmen.«
Harsh war kurz davor, seine Gelassenheit zu verlieren. War sicher interessant, das zu sehen.
»Falls du auch nur eine Sekunde lang glauben solltest, Rasmus Kessler würde dich verschonen, dann bist du eine Närrin. Und eine noch größere, wenn du denkst, es würde ihn in irgendeiner Weise interessieren, dass er dein Vater ist.«
Xia schoss hoch, doch Harsh ignorierte ihn. Alexandrine sah kurz zu ihm hin, doch als sie merkte, dass ihr Bruder noch nicht fertig war, konzentrierte sie sich wieder ganz auf ihn.
»Bist du völlig durchgeknallt?«, fragte Xia.
»Halt die Klappe, Xia. Das geht allein Alexandrine und mich etwas an.«
»Hättest du mir jemals verraten, wer ihr Vater ist? Verdammt, Harsh. Wie kannst du es bloß ertragen, auch nur in ihrer Nähe zu sein, wenn du weißt, wer sie ist?«
Harsh ignorierte ihn. »Alexandrine, Kessler hat dich weggegeben«, fuhr er fort. »Du hast den Test, ob du jemals beachtliches magisches Potenzial entwickeln würdest, nicht bestanden. Deshalb hat er dich weggegeben, damit du unter uns aufwächst, den Normalen.« Das letzte Wort spuckte er beinah aus. Dabei war Harsh selbst alles andere als normal. »Du warst erst drei Jahre alt, doch er wollte dich nicht mehr. Er wollte dich damals nicht, und heute will er dich erst recht nicht. Das Einzige, was er von dir will, ist dein Talisman.«
»Ich weiß.« Das klang kalt und ruhig.
Xia hatte das Gefühl, dass sein Kopf gleich explodieren würde. Er stand nun direkt vor Alexandrine, und er zog so viel Magie, dass die Luft um ihn herum Funken sprühte.
»Du bist Rasmus Kesslers Tochter?«
»Na und?«
Er hätte es wissen müssen. Er hätte es in dem Moment wissen müssen, als er ihr gottverdammtes Haar sah. Genau wie das von ihrem Vater, diesem Bastard.
»Xia!« Harsh versuchte, zwischen sie beide zu gelangen, aber Xia war so sauer, dass er reagierte, ohne nachzudenken. Er sammelte seine Kraft und warf einen Block reiner Energie gegen Harsh, der prompt auf seinem Hinterteil landete.
Er war so abgelenkt, dass ihm gar nicht auffiel, dass Alexandrine überhaupt keine Magie einsetzte, um zurückzuschlagen. Obwohl er selbst genug Energie gezogen hatte, um die Hexe geradewegs zur Hölle zu schicken.
»Scher dich zum Teufel!«, sagte Alexandrine.
Harsh stand wieder, und nun brüllte er. Xia blendete ihn aus. Bla, bla, bla. Böser Xia. Bla, bla, bla. War ja nun echt nichts Neues.
Und dann hielt er plötzlich sein Messer in der Hand, richtete es auf Alexandrine und stellte sich vor, wie das Blut, das sie mit Kessler verband, riechen mochte und wie es hell aus ihrem Körper sprudelte. Sein Arm zitterte.
Alexandrines Augen wurden groß und weit, und er konnte spüren, wie er sich darin verlor.
»Verdammte Hexe!«, stieß er hervor.
Harsh berührte ihn, und es gelang ihm tatsächlich, mit seiner Kraft Xias Magie zu bremsen, die dieser gerade gegen Alexandrine hatte schleudern wollen.
Und mittendrin spürte Xia, wie Alexandrine zog, doch ihre Fähigkeit dazu war nicht mehr als ein schlechter Witz.
»Hey, verdammt, Hexe, was hast du vor? Mich zu Tode zu kitzeln?« Er trat einen Schritt näher. So nahe, dass er fühlen konnte, wie der Talisman pulsierte. Ihre Magie, so erbärmlich sie auch war, zog ihn zusätzlich an. Erregte ihn. »Hexen wie dich verspeise ich zum Frühstück.«
Alexandrine hob ein Knie, zielte auf seine Körpermitte. Xia konnte gerade noch ausweichen. Ihre Magie erlosch. Die Hexe war machtlos.
»Lass sie in Ruhe, Xia. Sofort!« Harsh schob sich zwischen seine Schwester und ihn, seine Finger schlossen sich um die Hand, die das Messer hielt. »Sofort!«, wiederholte er. »Oder du bist tot.«
Er blickte Harsh an, und Alexandrines Bruder zuckte zusammen, als er den wilden Ausdruck in Xias Augen sah.
»Versuch’s doch«, sagte Xia. Sein Körper vibrierte von der Energie, die durch ihn wirbelte. »Versuch es, und wir werden schon sehen, wer dann tot ist und wer nicht.«
»Lass sie in Ruhe«, bat Harsh nun sanfter. Dieser Idiot gehörte zu den Leuten, deren Stimme immer sanfter wurde, je schlimmer sich die Dinge entwickelten.
»Falls ich dich nicht umbringe, wird es Nikodemus tun«, fügte Harsh hinzu.
Harshs Magie lief auf Hochtouren, doch es war der Gedanke an die Vergeltung, die ihm von Nikodemus drohte, die Xia zur Räson brachte. Er hatte Nikodemus Treue geschworen, und wenn er Harsh umbrachte, würde Nikodemus ihn töten. Auf eine ziemlich schmerzhafte Weise, dessen konnte er sicher sein.
Harsh zog seine Schwester weg.
Xia schloss die Augen, atmete tief durch. Und noch einmal. Entspann dich, befahl er sich. Himmel, sie war so unbedeutend. Und ihm war sie völlig gleichgültig. Sie interessierte ihn nicht. Kein bisschen. Als er die Augen öffnete, hatte er sich wieder unter Kontrolle. Fast.
»Du hättest mir sagen sollen, wer sie ist«, warf er Harsh vor.
»Bis vor fünf Minuten wusste ich es doch selbst nicht.«
»Hey, was für ein Problem hast du?« Alexandrine war sauer, richtig sauer. Sie spie Feuer, sozusagen, doch Xia war es völlig egal, wie mies ihre Laune war. Nun trat sie dicht vor ihn und tippte mit einem Finger gegen seine Brust.
»Sorg dafür, dass sie mich nicht anpackt«, sagte er zu Harsh. Er spürte, wie ihm ein Prickeln über den Rücken lief.
»Du bist ja irre.« Ihre Magie flackerte erneut auf, nur um gleich wieder in sich zusammenzufallen.
Xia bleckte die Zähne. »Nein, ich bin das, was deinesgleichen aus mir gemacht hat. Wenn dir das Ergebnis nicht gefällt, dann ist das dein Problem.«
Harsh war so ruhig, dass es fast schon unheimlich war. »Xia, sie kennt ihren Vater nicht. Und vielleicht täuscht sie sich ja auch, was Kessler betrifft.«
Xias Hand schoss vor, und seine Finger fuhren durch Alexandrines Haar. Keine dunklen Wurzeln. Alles echt. Von Natur aus weißblond. »Das hat sie eindeutig von ihrem Daddy«, stieß er hervor, als er sie wieder losließ.
Die Hexe wirkte völlig schockiert. »O nein, da ist jeder Irrtum ausgeschlossen, großer Bruder«, sagte sie zu Harsh, doch ihr Blick blieb auf Xia gerichtet. »Er ist mein Vater, ohne jeden Zweifel.«
»Verdammter Mist, Harsh.« Wie zum Teufel sollte er damit klarkommen? Die Tochter von Rasmus Kessler! »Muss ich das wirklich tun?«
Sie stellte sich so vor ihn, dass sie Harsh die Sicht verdeckte, und zeigte Xia den Stinkefinger. »Verpiss dich, klar?«
»Ja, du musst«, erwiderte Harsh auf Xias Frage. Er hatte erneut sein iPhone hervorgeholt. »Oder willst du, dass ich Nikodemus anrufe, damit er es dir selbst sagen kann?«
»Du kannst mich mal.«
»Wenn meiner Schwester auch nur ein Härchen gekrümmt wird, wird Nikodemus dich persönlich dafür verantwortlich machen. Genau wie ich, darauf kannst du wetten.« Er ging zur Tür, das Handy immer noch in der Hand. »Ich muss los. Wir haben morgen früh eine Verabredung in Paris.«
»Die anderen können mich auch«, rief Xia ihm hinterher. Harsh sollte Nikodemus und Carson bei ihren Verhandlungen mit den anderen Warlords unterstützen. Er selbst glaubte nicht daran, dass die Warlords jemals eng genug zusammenarbeiten würden, um seine Art gegen das Magiergeschlecht zu verteidigen, aber es war nicht an ihm, Nikodemus Blauäugigkeit vorzuhalten.
Die Hexe schaute ihren Bruder aus schmalen Augen an. »Paris in Frankreich oder Paris in Texas?«, wollte sie wissen.
Harsh lächelte, und plötzlich wirkte er wieder ganz wie der menschliche Arzt, der er einmal gewesen war, bevor sein Leben auf den Kopf gestellt wurde. Irgendwie kam es Xia auf einmal gar nicht mehr so unwahrscheinlich vor, dass Harshs Schwester sich als Tochter von Rasmus Kessler entpuppt hatte. Durchgeknalltheit schien eine typische Familieneigenschaft zu sein.
»In Frankreich«, sagte Harsh.
»Dort wäre ich doch bestimmt sicher, meinst du nicht auch?« Xia konnte die Panik aus ihren Worten heraushören. »Ich habe einen Reisepass. Und genug Geld für ein Flugticket. Ich brauche keine zehn Minuten, um meine Tasche zu packen. Echt. Und ich spreche français muy bien.«
»Du kannst nicht mit mir kommen.«
»Aber ich will nicht hier mit ihm bleiben.«
»Er wird dir nichts tun. Oder, Xia?«
Xia zog eine Grimasse. Nein, das würde er nicht. Aber er hatte Lust darauf. Würde Spaß machen, ein bisschen Hexenblut zu vergießen. Oder auch ein bisschen mehr.
»Wie wär’s denn, wenn du einfach das Amulett mitnähmst?«, probierte es Alexandrine erneut. Sie klang wirklich verzweifelt.
O ja, das sollte sie auch sein. Sie sollte Angst vor ihm haben.
»Wenn das Ding so wichtig ist, dann nimm es doch mit«, fuhr sie fort.
Xia verdrehte die Augen. »Klar«, sagte er. »Das will ich sehen. Gib es ihm.«
Sie wandte sich ihm zu. »Hat jemand mit dir geredet?«
»Du bist gar nicht in der Lage dazu«, fuhr Xia fort und starrte absichtlich auf ihren Busen. »Nicht in einer Million Jahre, Schätzchen.«
Alexandrine packte die Schnur, die um ihren Hals hing. Sie packte sie, mehr nicht. Streifte sie nicht über ihren Kopf. Vermochte es auch gar nicht, dessen war Xia sicher. Nicht wenn dieses Ding seine Magie in sie sickern ließ …
»Eine alte Türkin hat es mir geschenkt«, erzählte sie. »Ich bin per Anhalter zu ihrem Dorf gefahren; drei Stunden hat mich das gekostet. Sie kannte meinen Vater.« Sie legte eine Hand an ihre Wange. »Und sie fand, ich sähe ihm ähnlich.«
»Abgesehen vom Haar nicht allzu sehr«, meinte Xia.
Sie warf ihm einen Blick zu. »Würdest du dich bitte raushalten?«
Harsh seufzte. »Lass sie, Xia. Bitte.«
»Hey, entspann dich. Ich will ihr doch gar nichts. Ich will nur sehen, ob sie den Talisman abnehmen kann.«
»Warum sollte ich das nicht können?«
»Weil du eine Hexe bist, Lady. Und Magier trennen sich nicht von einem Objekt, das eine solche Macht besitzt.« Er zog die Augenbrauen hoch, dann hielt er ihr eine Hand hin. »Mach schon, gib ihn mir.«
»Gleich.«
Er und Harsh beobachteten, wie sich ihre Finger fester um die Schnur schlossen.
»Meinst du, du schaffst es bis zum nächsten Jahrhundert?«, sagte Xia.
Sie starrte ihren Bruder an. Ihre Augen weiteten sich, bis nur noch die Pupillen zu sehen waren. Sie vermochte nicht zu ziehen, weil sie dafür wenigstens ein Mindestmaß an Kontrolle über ihre Magie hätte haben müssen, und inzwischen wusste Xia, dass sie diese nicht besaß. Kein Wunder, dass ihr Vater sie weggegeben hatte. Ohne dass sie ihre Magie kontrollieren konnte, war sie mehr als nutzlos.
»Hab ich’s nicht gesagt?«, meinte Xia.
»Natürlich schaffe ich es.« Aber das flüsterte sie nur. Ihre Finger krallten sich in die Schnur.
»Klar doch. Aber dann tu’s endlich.«
»Sofort.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Und machte weiterhin keine Anstalten, den Talisman herzugeben.
»Alexandrine?« Harsh wechselte einen Blick mit Xia. Der nur mit den Schultern zuckte. Er hatte recht. Sie konnte es nicht.
»Doch. Wirklich. Eine Sekunde noch.« Alexandrines Finger zitterten.
»Wie lange trägst du das Ding schon?«, wollte Xia wissen.
Sie schien geradezu erleichtert über seine Frage zu sein. Weil diese davon ablenkte, dass sie den Talisman nicht abnehmen konnte. »Seit ein paar Wochen.«
»Du lügst.«
Alexandrine legte die Hände vor den Mund und atmete tief durch. In ihren großen Augen lag Furcht.
Die Hexe hätte sich mal lieber fürchten sollen, als sie das Amulett anfasste.
Sie nahm die Hände wieder weg, ihre Arme sanken herab. »Seit ich aus der Türkei zurückgekommen bin«, antwortete sie, an Harsh gerichtet. »Vielleicht neun Monate. Oder ein bisschen weniger. Aber warum ist das so wichtig?«
»Zeig uns doch einfach, dass du den Talisman abnehmen kannst«, sagte Harsh sanft.
Es wurde still im Raum. Schweiß stand auf Alexandrines Stirn, ihr Haar wurde feucht. »Was ist los mit mir?«, wollte sie wissen.
Harsh sah Xia an und schüttelte den Kopf, und Xia behielt tatsächlich seine Meinung für sich. »Versuch es noch einmal, Alexandrine«, bat ihr Bruder.
Sie hob den Saum ihres Shirts. Die Schnur war so lang, dass ihr der Talisman fast bis zum Nabel hing.
Xia war beeindruckt, dass es ihr zumindest gelang, den Talisman zu zeigen.
Harsh machte eine auffordernde Handbewegung. »Sieh ihn dir an, Xia, bitte.«
Xia trat zu Alexandrine und kniete sich vor sie, damit er den Talisman besser betrachten konnte. Er lehnte sich so weit vor, dass sein Atem über ihre Haut strich. Aber er brauchte gar nicht so genau hinzuschauen, um zu wissen, dass der runde Anhänger an beiden Seiten eine Gravur zeigte: Auf der Vorderseite war ein fauchender Panther mit ausgefahrenen Krallen zu sehen; auf der Rückseite war die Katze von hinten dargestellt, den Schwanz erhoben, bereit zu peitschen.
»Und?«, sagte Harsh.
»Ich weiß es nicht«, behauptete Xia, denn er sah nicht ein, warum er es Alexandrine leicht machen sollte. Er wusste sehr wohl, worauf er schaute. »Ich kann nicht wirklich etwas erkennen«, fügte er hinzu und blinzelte. Dann hob er den Kopf und zwinkerte Alexandrine zu, bevor er seinen Blick auf ihre Brust heftete. »Vielleicht sollte sie das Shirt ausziehen.«
»Spanner.« Heftig zog sie das Oberteil herunter, doch Xias Hand schoss vor, und seine Finger schlossen sich um ihr Handgelenk.
Alexandrine schrie auf.
Harsh machte einen Satz nach vorn.
»Krieg dich ein«, meinte Xia. »Ich will mir das Ding doch nur genauer ansehen. Mehr nicht.«
»Aber denk gefälligst dran, dass es nicht um den Nabel meiner Schwester geht, sondern darum, in welchem Zustand sich der Talisman befindet.«
»Ich glaube nicht, dass er bereits aufgebrochen ist.« Noch nicht.
»Du glaubst es nicht?«, wiederholte Harsh, und er klang nicht sehr glücklich, wie Xia fand. Harsh wusste nur allzu genau, was passieren konnte, wenn ein Talisman aufbrach. Wenn man nicht darauf vorbereitet war oder nicht genug Magie besaß, um diesen Vorgang zu kontrollieren, dann starb man, und in der Regel war es kein angenehmer Tod. Ein instabiler Talisman war gefährlich. Höllisch gefährlich.
Xia griff nach dem runden Stein. Hätte er Alexandrine nicht festgehalten, wäre sie zurückgewichen. Sie wollte nicht, dass er den Talisman berührte. Seine Finger schlossen sich fester um ihr Handgelenk. Und er spürte ihre Reaktion, den Drang, ihm zu entkommen. Shit, das hatte er nicht erwartet. Sofort blockierte er den mentalen Kontakt zu ihr.
Ihr »Nein!« schrie sie geradezu heraus.
Xia konnte nicht anders: Er genoss ihre Furcht. War doch nichts Schlimmes dabei, einer Hexe ein bisschen Angst einzujagen.
»Was ist?«, wollte Harsh wissen.
»Irgendwas stimmt da nicht«, sagte Alexandrine. »Weil es bloß ein simpler Stein mit einer Gravur ist. Und er nicht so funktioniert, wie er es sollte.« Ihre Stimme klang angespannt und atemlos. »Wenn er wirklich Macht hätte, auch nur das kleinste bisschen, dann müsste ich doch in der Lage sein, meine Magie einzusetzen. Irgendwie. Aber es geht nicht. Warum kann ich ihn dann dennoch nicht abnehmen?«
Xia störte sich nicht an ihrer Panik, denn warum sollte ihn interessieren, was mit einer Hexe los war? Und ganz bestimmt wollte er nicht, dass er ein weiteres Mal unabsichtlich mit ihr verbunden würde.
Mit dem Heft seines Messers schob er den Talisman ein Stück zur Seite.
»Was ist das denn?«, sagte Harsh.
»Was?« Sie blickte an sich herab. »Ach, das.« Dort, wo der Talisman ihre Haut berührt hatte, zeichnete sich das graublaue Abbild des Panthers ab. Sein perfektes Ebenbild. »Das ist mir auch schon aufgefallen. Komisch, nicht? Meine Haut scheint auf etwas in dem Stein zu reagieren. Ich meine, so, wie Schmuck aus billigem Metall abfärbt. Nix Schlimmes. Es wird wieder verblassen, sobald ich den Anhänger abnehme.«
Die beiden Männer sahen sie an. Es war offensichtlich, dass sie nicht begriff, wie unwahrscheinlich das war, was sie sagte.
»Was?«, fuhr Alexandrine fort. »Ich denke, dass eine Menge Eisenoxid in diesem Stein steckt.«
»Das ist das Mal der Bestie, Schätzchen«, sagte Xia. Immer noch hielt er den Talisman mit dem Messer beiseite; nun berührte er die verfärbte Haut an ihrem Bauch.
In ebendiesem Moment musste Alexandrine zu ihm herabgeblickt haben.
Es war, als durchführe ihn erneut ein Schlag, und für einen Augenblick nahm er nichts als gleißende Helle wahr. Als seine Sicht sich wieder klärte, schaute er genau in Alexandrines Augen. Und in dem Zeitraum zwischen dem Verschmelzen ihrer Blicke und Alexandrines Zwinkern konnte er in sie hineinsehen, in reiner, unendlicher Klarheit. Hätte er gewollt, hätte er ihre Magie berühren können. Doch dann blinzelte sie, und alles war wieder wie zuvor. Beinahe.
Xia hockte sich auf seine Fersen und spürte, wie sein Geist sich wieder verschloss. »Verdammt«, sagte er und schüttelte den Kopf, als täte er ihm weh. Doch es war nicht sein Schmerz, sondern der Widerhall jenes Schmerzes, den Alexandrine verspürt hatte, als sie das Amulett zum ersten Mal umlegte.
»Alles okay?«, fragte Harsh seine Schwester.
Er fragte sie, nicht ihn, Xia, obwohl es um ihn ging.
»Klar«, erwiderte sie. »Warum auch nicht?«
Xia hob den Kopf, und wieder trafen sich ihre Blicke. Alexandrine schaute nicht weg. Sie wusste, was zwischen ihnen geschehen war. Sie wusste es, und sie behielt es für sich.
»Leck mich, Hexe!«
»Du mich auch.«
»Wann warst du zum letzten Mal ohne?«, wollte Xia wissen. Er ließ die Frage absichtlich anzüglich klingen, und prompt reagierte Alexandrine.
»Für dich werde ich nie ohne irgendetwas sein!«
Er lächelte sie an. »Wetten?«
»Was bist du für ein Arschloch.« Sie wollte ihre Hand aus seinem Griff befreien, doch Xia ließ sie nicht los. Kam ja gar nicht infrage. Er ließ niemanden los, wenn er es nicht selbst wollte.
»Antworte ihm, Alexandrine«, mischte Harsh sich ein. »Wann hast du den Talisman zum letzten Mal abgelegt?«
»Keine Ahnung.« Sie schaute zu ihrem Bruder hin.
Das milderte ein wenig die Anspannung, die Xia so reizbar machte. Seine Finger prickelten auf eine fast schon schmerzhafte Weise, und allmählich breitete sich dieses Gefühl über seinen ganzen Arm aus. Nervöse Energie erfüllte ihn, gespeist durch den körperlichen Kontakt mit der Hexe.
»Einen Monat vielleicht?«, fügte Alexandrine hinzu.
Xia machte ein verächtliches Geräusch.
Sie wandte sich ihm wieder zu. »Was?«
»Du lügst.«
»Okay.« Erneut versuchte sie, ihre Hand wegzuziehen. Ohne Erfolg. Es machte ihm Spaß, sie zu ärgern. »Vor sechs Monaten.«
Xia verdrehte die Augen. Doch zuvor hatten sich ihre Blicke getroffen, und wieder spürte er dieses Kribbeln in seinem Kopf. Alexandrines Augen weiteten sich, und durch sein Gehirn schoss glühende Hitze. Ein Funken Magie flackerte in ihr auf, nicht genug jedoch, um irgendetwas von Bedeutung zu unternehmen. Was die Macht betraf, war sie ein absoluter Loser.
Xias Finger schlossen sich noch fester um ihr Handgelenk, und in seiner Brust stieg ein Grollen auf.
»Also gut: vielleicht sieben oder acht Monate. Na und?«
Harsh starrte sie an, als hätte sie gerade zugegeben, dass sie süße Hundebabys zum Frühstück verspeiste.
»O Mann, Harsh, ich mag es, dieses Ding zu tragen. Obwohl es nicht mal funktioniert. Jedenfalls nicht bei mir.«
Xia ließ sie los, und Alexandrine trat einen Schritt zurück. Seine Unruhe ließ fast augenblicklich nach. »Jetzt kommt es wirklich nicht mehr drauf an«, sagte er zu Harsh. »Weil es eh schon zu spät ist. Selbst wenn sie den Talisman abnehmen könnte, hätte sie nichts mehr davon – wenn du verstehst, was ich meine …«
Seine feste Überzeugung, dass sie nicht in der Lage wäre, den Talisman abzulegen, ärgerte sie höllisch, was Xia wiederum sehr komisch fand.
»Natürlich kann ich die Kette ausziehen; es ist ein Anhänger, sonst nichts.« Sie griff nach der Schnur und streifte sie über ihren Kopf, schnell und entschlossen. Sie zog weiter, bis das Amulett sichtbar wurde. Mit einem Lächeln, das ebenso falsch wie gezwungen war, hielt sie Harsh den Talisman hin. »Siehst du!«
Xia streckte eine Hand aus. »Ich bin beeindruckt«, meinte er.
»Und du wolltest mir nicht glauben!«
Er wäre noch tiefer beeindruckt gewesen, hätten ihre Finger die Schnur nicht so fest umklammert.
»Okay, dann kannst du mir das Amulett auch geben. Oder Harsh, falls du nicht möchtest, dass ich dir so nahe komme«, erwiderte Xia. »Er wird gut darauf aufpassen.«
Diesmal hatte er Alexandrine nicht einmal berührt. Schmerz durchschoss ihn, seine Knie gaben nach unter der Wucht der Macht, die durch Harshs Schwester floss. Aber es war keine Hexenmagie, ihr Ursprung lag in dem Talisman.
Xias Sicht verschwamm. Shit. Ihm wurde übel.
Alexandrine schrak vor ihm zurück, und diese seltsamen Empfindungen wurden schwächer und verschwanden dann ganz.
»Ich kann es nicht«, flüsterte sie. »O Gott, wieso bin ich unfähig dazu?«