15
Der Morgen dämmerte bereits herauf, als ein Reiter durch die Straßen von Belen jagte. Als sei der Teufel persönlich hinter ihm her, trieb er sein Pferd an und nahm es dann vor dem Saloon fast schon brutal auf. Der Braune wieherte laut und bäumte sich auf, und nachdem er mit allen vier Hufen wieder auf dem Boden stand, sprang der Mann aus dem Sattel.
Die Saloontür war wie immer offen, weil man hier auch Gäste beherbergte, doch der Schankraum war leer. Das war dem Mann auch ganz recht so. Er wollte ohnehin nicht, dass ihn jemand sah, und den Weg weisen musste man ihm auch nicht. Er stürmte die Treppe hinauf und ging dann durch den Korridor.
In welchem Zimmer genau sich derjenige befand, den er suchen sollte, wusste er nicht. Aber er kannte dessen Angewohnheit, mit einem offenen Auge zu schlafen, und so würde er es sicher merken, wenn er an die richtige Adresse geraten war.
Nacheinander öffnete er jede einzelne Tür, die unverschlossen war. Aus den meisten Zimmern tönte nur leises Schnarchen, in einem schlug ein Bett rhythmisch gegen die Wand, begleitet von leisem Stöhnen – und schließlich war er am Ziel.
Bei der nächsten Tür, die er öffnete, erhielt er das metallische Klicken eines Revolverhahns als Antwort.
»Mario?«, fragte er leise in die Dunkelheit hinein. »Ich bin es, Rico.«
Daraufhin ertönte das leise Knarzen von Bettfedern. Der Mann, der auf der Schlafstätte gelegen hatte, erhob sich und kam dann zur Tür. Noch sagte er nichts, aber das änderte sich, nachdem er ein Streichholz angerissen und die Lampe neben der Tür entzündet hatte.
Er hielt sie dem Besucher entgegen, während er mit der anderen Hand den Revolver auf ihn richtete. Doch als er sah, dass es sich tatsächlich um denjenigen handelte, für den er sich ausgab, ließ er die Waffe wieder sinken.
»Und, hast du unser Geld gefunden?«, fragte er und stellte die Lampe dann auf die Kommode neben der Tür.
Allein schon das Gesicht, das Rico zog, sagte ihm, dass das nicht der Fall war.
»Nein, aber das Mädchen, das zu dem Kerl gehört. Leider ist so ein Kerl dazwischen gekommen, und ich musste sehen, dass ich wegkomme, bevor er mich umlegt.« Das war maßlos übertrieben, aber Mario hatte sicher kein Verständnis dafür, dass er sich einfach so aus dem Staub gemacht hatte.
»Und das Geld?«
Rico schüttelte wortlos den Kopf, und anscheinend wusste er nicht so recht, ob er seinem Anführer erzählen sollte, was er in Erfahrung gebracht hatte.
»Und warum bist du dann schon zurückgekommen?« Marios Gesichtszüge ballten sich zur Faust. »Ich hatte dir doch gesagt, dass du dich erst blicken lassen sollst, wenn du den Koffer hast!«
»Es ist etwas schief gegangen«, gab Rico schließlich zu. »Nicht nur, dass das Mädchen auf mich gefeuert hat und ich aus dem Fenster springen musste. Der Junge, mit dem ich zusammengestoßen bin ...«
»Was ist mit ihm? Ist er mit dem Geld durchgebrannt?«
»Der Marshal hat ihn verhaftet und ihm den Koffer abgenommen. Das Mädchen hat das Geld also nicht.«
»Was?!« Dieses Wort rief der Anführer so laut, dass auch die anderen, wach wurden.
»He, was ist los?«, fragte Raoul und rieb sich verschlafen über das Gesicht, während er sich in seinem Stuhl aufsetzte.
»Rico ist zurück«, antwortete Mario grimmig. »Und er hat sich das Geld durch die Lappen gehen lassen.«
»Nein, es ist mir nicht durch die Lappen gegangen!«, verteidigte der sich Cortez gegenüber. »Sie haben den Jungen, kurz nachdem wir aus der Stadt waren, geschnappt. Vielleicht auch noch eher. Deshalb war der Sternträger nicht hinter uns her, er musste den Burschen erst einmal ins Jail bringen.«
Das änderte aber nichts daran, dass das Geld futsch war, und das erfreute Mario überhaupt nicht. Aber er ahnte noch nicht, welche Nachricht Rico noch für sie hatte ...
»Und dann gibt es noch was«, begann er zögerlich, bevor Mario zu einer neuerlichen Schimpftirade ansetzen konnte.
»Und was?«, fragte Mario und konnte sich nicht vorstellen, dass es noch schlimmer kommen konnte.
»Das Mädchen hat dem Richter von Santa Fe versprochen, dass sie uns finden und die Unschuld ihres Bruders beweisen will. Jedenfalls haben sich das die Leute in der Stadt erzählt.«
Bei diesen Worten lachte der Anführer auf. »Ist wohl verrückt geworden, die Kleine, was?«
»Sie hat einen Sternträger bei sich. einen von denen, die mit den Gefängniswagen durch die Gegend reisen.«
Da erstarb das Lachen des Anführers augenblicklich. Mario wusste genau, dass diese Sorte Marshal die härteste in ganz New Mexico war. Auch der Mann, der ihn in den Gefängniswagen stecken wollte, war ein verdammt harter Hund gewesen. Nur eine Unachtsamkeit hatte ihn damals vor seinem Schicksal bewahrt ...
»Wie ist der Name dieses Kerls?«, fragte er, und Rico antwortete: »Jonathan Davis, soweit ich gehört habe. Als ich sie an mir vorbeireiten sah, habe ich mich gleich an ihre Fersen geheftet. Sie haben unterwegs die Gitarre des Jungen gefunden und sind dann nach Los Lunas geritten.«
Diese Nachricht schlug Mario Cortez fast die Füße weg. Belen war nicht weit von Los Lunas entfernt, es war nicht mal ein Tagesritt. Vielleicht waren der Kerl und die Kleine ja schon auf dem Weg hierher ...
»Verdammte Scheiße!«, raunte er und wischte sich dann mit der Hand über seinen von Bartstoppeln umrahmten Mund.
»Und was machen wir jetzt?«, erkundigte sich Tomaso, der nun ebenfalls wieder wach war, und Raoul schlug vor: »Wir müssen von hier verschwinden!«
Mario ließ sich noch einen Augenblick Zeit, bis er einen Entschluss fasste. Sie waren zwar in der Überzahl, aber mit einem Gefängniswagen-Marshal war nicht gut Kirschen essen. Diese Männer waren Jäger und hatten selbst vor großen Banden keinen Respekt. Außerdem waren sie verdammt gute Schützen. Ihnen im Duell gegenüberzustehen, bedeutete, dass man seinen Platz auf dem Stiefelhügel bereits sicher hatte.
Wenn er diesen Kerl aus dem Weg haben wollte, musste er sehen, dass er ihn von hinten erwischte ...
»Weißt du, ob dieser Davis und das Mädchen in Los Lunas geblieben sind?«, wandte er sich schließlich an Rico. »Oder sind sie gleich weitergeritten?«
»Ich habe sie in den Saloon gehen sehen, dann bin ich aber gleich weitergeritten. Ich bin mir sicher, dass sie dort übernachtet haben.«
»Gut, dann wirst du zusammen mit Tomaso losreiten und dir diesen Kerl schnappen«, entschied der Anführer und schaute zu seinem noch immer verschlafen dreinblickenden Kumpan. »Vielleicht könnt ihr ihn mit einem Schuss in den Rücken erledigen.«
»Und was ist mit dem Mädchen? Sollen wir sie etwa auch erschießen?«, fragte Rico, und Mario nickte nach kurzem Nachdenken.
»Ja, erledigt auch die Kleine. Wenn sie dem Richter versprochen hat, uns zu finden, wird sie sicher weitermachen, auch wenn der Marshal tot ist. Und so, wie sie aussieht, findet sie bestimmt jemanden, der mit ihr auf die Jagd geht. Da braucht sie nur die Beine breit zu machen.«
Weder Rico noch Tomaso war wohl dabei, eine Frau zu erschießen, doch sie sahen ein, dass ihnen nichts anderes übrig bleiben würde. Sie nickten also, und Mario meinte daraufhin: »Gut, dann reitet sofort los. Wenn ihr sie vor dem Saloon nicht erwischt, dann heftet euch an ihre Fersen. Ich bin mir sicher, dass sie als Nächstes hierher kommen werden.«
»Aber Mario, meinst du nicht, dass wir besser von hier verschwinden sollten?«, meinte Raoul. »Was ist, wenn der Kerl Rico und Tomaso erschießt?«
»Wir werden uns schon nicht von ihm erschießen lassen«, entgegnete Letzterer und zog demonstrativ den Revolver aus seinem Gürtel. Dann bedeutete er seinem Kumpan, mitzukommen. Die beiden verließen den Raum und waren wenig später auf dem Weg nach Los Lunas.