Zweiundzwanzig

»Wo wollen Sie hin?«, fragte Bartlett, als Jane die Treppe heruntergerannt kam. »Alles in Ordnung?«

»Ja, alles klar. Sagen Sie Trevor, ich bin bald wieder zurück. Ich muss mit MacDuff reden …« Im nächsten Augenblick war sie schon aus der Tür und sprang die Stufen hinunter. Nein, nicht zu MacDuff. Noch nicht. Sie überquerte den Burghof und schlüpfte in den Stall. Sie riss die Falltür auf, schnappte sich eine Taschenlampe und ging die Treppe zum Meer hinunter.

Kalt. Nass. Glitschig.

Angus’ Zimmer hatte Jock es genannt. Das war ihr seltsam vorgekommen, weil es doch da unten gar keine Zimmer gab. Jedenfalls nicht dort, wo sie war.

Sie erreichte den schmalen Tunnel, der zurück in die Hügel führte, und bog von der Treppe ab.

Dunkelheit. Erstickende Enge. Schlüpfrig nasser Steinboden.

Nach knapp hundert Metern stand sie vor einer Eichentür.

War sie verriegelt?

Nein, die Scharniere waren gut geölt, sie ließ sich leicht öffnen.

Sie blieb in der Tür stehen und leuchtete mit ihrer Taschenlampe in die Dunkelheit.

»Warum zögern Sie?«, fragte MacDuff hinter ihr. »Was hält Sie davon ab, noch weiter in meine Privatsphäre einzudringen?«

Sie zuckte zusammen und drehte sich zu ihm um. »Sie werden mir kein schlechtes Gewissen einreden. Verdammt noch mal, vielleicht habe ich das Recht zu wissen, warum Sie so viel Zeit hier unten verbringen, wie Jock mir erzählt hat.«

MacDuffs Gesicht blieb ausdruckslos. »Diesen Teil des Anwesens hat Trevor nicht gemietet. Sie haben kein Recht, hier zu sein.«

»Trevor hat eine Menge investiert, um Ciras Gold zu finden.«

»Ach, Sie glauben, es befindet sich hier?«

»Ich halte es für möglich.«

Er hob die Brauen. »Sie meinen also, ich hätte auf einer meiner Reisen nach Herkulaneum Ciras Gold gefunden und es hierher geschafft?«

»Warum nicht?« Sie schüttelte den Kopf. »Aber das glaube ich nicht.«

Er deutete ein Lächeln an. »Ich bin neugierig zu erfahren, zu welcher Theorie Sie sich verstiegen haben.« Er machte eine einladende Geste. »Gehen wir in Angus’ Zimmer, dann können Sie mir alles in Ruhe erzählen.« Sein Lächeln wurde breiter, als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte. »Fürchten Sie etwa, ich würde Sie in eine Falle locken? Ich könnte in Versuchung geraten. Ciras Gold kann einen zu allem Möglichen anstiften.«

»Sie sind kein Narr. Trevor würde Ihre Burg komplett auseinander nehmen, wenn ich plötzlich verschwände.« Sie drehte sich um und betrat den Raum. »Ich bin hergekommen, um nachzusehen, was sich in diesem Zimmer befindet, und nun habe ich sogar eine Einladung.«

MacDuff lachte. »Eine Einladung, zu der Sie mich mehr oder weniger genötigt haben. Ich werde die Laternen anzünden, damit Sie sich alles genau ansehen können.« Er trat an einen Tisch an der hinteren Wand und zündete zwei Laternen an. Die Einrichtung des kleinen Raums bestand aus einem Sekretär, auf dem ein aufgeklappter Laptop stand, einem Stuhl, einer Pritsche und mehreren mit Tüchern verhängten Gegenständen. »Keine Truhe, die vor Gold überquillt.« MacDuff lehnte sich lässig gegen die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber das Gold interessiert Sie eigentlich gar nicht, stimmt’s?«

»Mich interessiert alles, was mit Cira zu tun hat.«

»Und Sie glauben, ich kann Ihnen helfen?«

»Sie waren sehr erpicht auf Reillys Herkulaneum-Akten. Und es hat Ihnen überhaupt nicht gefallen, dass ich sie Ihnen nicht überlassen wollte.«

»Stimmt. Ich habe natürlich vermutet, dass sie einen Hinweis darauf enthalten, wo das Gold versteckt ist.«

Sie schüttelte den Kopf. »Sie haben vermutet, dass sich unter den Dokumenten das Logbuch eines Kapitäns namens Demonidas befindet.«

Seine Augen wurden schmal. »Ach, tatsächlich? Wie kommen Sie denn darauf?«

Sie antwortete nicht auf seine Frage. »Mir war selbst nicht klar, welche Bedeutung dieses Logbuch hat – bis ich Marios Übersetzung von Ciras Brief gelesen habe.«

»Sie haben sie also gefunden?«

Sie nickte und zog sie aus der Hosentasche. »Möchten Sie sie lesen?«

»Aber gern.« Er löste sich von der Wand und streckte seine Hand aus. »Das wissen Sie doch.«

Sie sah ihm zu, wie er das Blatt auseinander faltete und die Worte las, die sich ihr unauslöschlich ins Gedächtnis eingeprägt hatten.

Ich muss mit dir über das Leben sprechen. Über unser Leben. Ich kann dir nicht versprechen, dass es leicht sein wird und dass wir in Sicherheit sein werden, doch wir werden frei und niemandem Rechenschaft schuldig sein. Das zumindest kann ich dir versprechen. Kein Mann wird uns mehr mit Füßen treten. Achavid ist ein wildes Land, doch das Gold wird es zähmen. Gold kann trösten und beruhigen.

Demonidas hat immer noch nicht zugesagt, dass er uns nach Gallien mitnehmen wird, doch ich werde ihn schon noch überreden. Ich möchte keine Zeit vergeuden mit der Suche nach einem anderen Schiff, das uns noch weiter wegbringen könnte. Julius wird uns verfolgen, und er wird niemals aufgeben.

Soll er uns ruhig suchen. Soll er sich in die rauen Hügel wagen und sich mit den kriegerischen Männern anlegen, die der Kaiser als Wilde bezeichnet. Ohne seine guten Weine und seinen Luxus hält er es ohnehin nicht aus. Er ist nicht wie wir. Wir werden leben, und es wird uns gut gehen, wir werden über Julius triumphieren.

Und wenn ich nicht da bin und dir helfen kann, dann musst du es allein schaffen. Lass dich von Demonidas nicht einschüchtern. Er ist geldgierig, er darf nicht erfahren, dass wir das Gold in die Truhen verteilt haben, die wir mitnehmen.

Ich sage dir, wie du mit Demonidas umgehen sollst, doch, bei den Göttern, ich hoffe von ganzem Herzen, dass ich das für dich übernehmen kann.

Wenn nicht, weiß ich, dass du es auch allein schaffen wirst. In unseren Adern fließt dasselbe Blut. Alles, was ich kann, kannst du auch. Ich vertraue dir, meine Schwester.

 

In Liebe, Cira

 

MacDuff faltete den Brief wieder zusammen und gab ihn Jane zurück. »Dann ist es Cira also gelungen, das Gold aus dem Tunnel zu schaffen.«

»Und es auf ein Schiff von Demonidas zu bringen, der nach Gallien segeln wollte.«

»Vielleicht. Allerdings können selbst die besten Pläne fehlschlagen, und sie war sich ja nicht mal sicher, ob sie die Nacht überleben wurde.«

»Ich glaube, sie hat überlebt. Ich glaube, sie hat den Brief an dem Abend geschrieben, als der Vulkan ausgebrochen ist.«

»Und womit wollen Sie das beweisen?«

»Ich kann es nicht beweisen.« Sie zog ein weiteres Blatt aus der Tasche. »Aber ich habe Reillys Übersetzung von Demonidas’ Logbuch. Er erwähnt eine Frau namens Pia, die ihn reich entlohnt hat, damit er sie, ihren Sohn Leo und ihre Diener nach Gallien und dann weiter nach Südostbritannien bringt. Am Abend des Vulkanausbruchs sind sie in See gestochen, und er prahlt mit seinem Mut im Angesicht der Katastrophe. Sie wollten nach Kaledonien, das heute Schottland heißt, aber er hat sich geweigert, dorthin zu segeln. Die Römer bekriegten sich damals mit den kaledonischen Stämmen, und Agricola, der römische Statthalter in Britannien, ließ die nördliche Küste mit Schiffen angreifen. Demonidas hatte keine Lust, dazwischenzugeraten. Er hat Pia und ihre Begleiter in Kent abgesetzt und ist nach Herkulaneum zurückgekehrt. Oder zu dem, was von Herkulaneum übrig geblieben war.«

»Sehr interessant. Aber offenbar erwähnt er nur eine Pia und keine Cira.«

»Wie Sie selbst gelesen haben, muss Pia Ciras Schwester gewesen sein. Wahrscheinlich wurden die beiden als Kinder getrennt, und Cira musste zu sehr ums nackte Überleben kämpfen, um nach ihrer Schwester zu suchen. Als sie Pia schließlich fand, wollte sie sie nicht in ihre Streitereien mit Julius hineinziehen und dadurch womöglich in Gefahr bringen.«

»Und dann ist Cira gestorben und Pia ist mit dem Gold davongesegelt.«

»Oder Pia war in der Stadt und ist bei dem Vulkanausbruch ums Leben gekommen, woraufhin Cira ihren Namen und ihre Identität angenommen hat, um Julius zu entkommen. Das hätte jedenfalls zu ihr gepasst.«

»Werden irgendwo die Namen der Diener erwähnt, die sie begleitet haben?«

»Dominic … und Antonio. Cira hatte einen Diener namens Dominic und einen Geliebten namens Antonio. Und einen Adoptivsohn namens Leo.«

»Aber hätte ihre Schwester, wenn sie diejenige war, die überlebt hat, sich nicht um Ciras Angehörige gekümmert?«

»Sicher. Aber Cira ist nicht gestorben, verdammt.«

MacDuff lächelte. »Weil Sie nicht wollen, dass es so gewesen ist.«

»Antonio war Ciras Geliebter. Er hätte sie nicht im Stich gelassen und wäre ohne sie davongesegelt.«

»Erstaunlich, wie überzeugt Sie sind. Männer verlassen Frauen. Frauen verlassen Männer. So ist das Leben.« Er seufzte. »Und warum sind Sie, nachdem Sie diese Dokumente gelesen haben, hierher gerannt und in Angus’ Zimmer eingebrochen?«

»Ich bin nicht einge… Na ja, nicht im eigentlichen Sinn. Aber zugegeben, ich hatte es vor.«

Er lachte in sich hinein. »Ihre Ehrlichkeit ist entzückend. In dem Augenblick, als ich Sie kennen gelernt habe, wusste ich…«

»Dann seien Sie auch mir gegenüber ehrlich, und hören Sie auf, mich zum Narren zu halten.« Sie holte tief Luft, dann sprach sie es aus. »Sie wussten, was in Demonidas’ Logbuch steht.«

»Woher sollte ich das gewusst haben?«

»Das weiß ich nicht. Aber Reilly hat mir gesagt, Sie hätten ihm ein bestimmtes Dokument beinahe vor der Nase weggeschnappt. Es kann sich nur um das Logbuch handeln. Denn Reilly hat Jock nicht ohne Grund in seine Gewalt gebracht. Sie meinten, Reilly vermute wahrscheinlich, dass Sic auf einer Ihrer Reisen nach Herkulaneum einen Hinweis auf den Verbleib des Goldes gefunden hätten. Er nehme an, Jock könnte etwas darüber wissen, weil er als Kind in Ihrer Burg ein und aus gegangen ist.«

»Klingt das nicht logisch?«

»Doch, natürlich. Deswegen habe ich es auch nicht hinterfragt. Bis ich Ciras Brief und Demonidas’ Logbuch gelesen habe. Bis Reilly mir erzählt hat, dass er Cira und das Gold in einem ganz neuen Licht sah, nachdem er das Logbuch gelesen hatte.«

MacDuff sah sie fragend an.

»Verkaufen Sie mich nicht für dumm. Sie wussten, dass Reilly das Logbuch hatte.«

»Woher hätte ich das wissen sollen?«

»Sie waren zur gleichen Zeit wie Reilly hinter dem Logbuch her. Aber Reilly ist Ihnen zuvorgekommen. Und nachdem Reilly es hat übersetzen lassen, ist ihm wieder eingefallen, dass Sie das Dokument ebenfalls haben wollten. Und zwar unter allen Umständen. Das hat ihn neugierig gemacht. Aber Jock konnte ihm nichts erzählen, also hat er vorübergehend das Interesse an Ihnen verloren, während er versuchte, die Schriftrollen in die Finger zu kriegen und Grozak zu manipulieren.«

»So ganz hat er das Interesse an mir nicht verloren«, erwiderte MacDuff. »Er hat mich beobachten lassen, und einmal hat er einen von seinen Zombies geschickt, der mir eins überbraten und mich entführen sollte.«

Sie erstarrte. »Sie geben es also zu?«

»Ihnen gegenüber. Aber nicht gegenüber Trevor oder Venable oder sonst jemandem.«

»Warum nicht?«

»Weil das eine Sache zwischen Ihnen und mir ist. Ich werde das Gold in meinen Besitz bringen, und ich will nicht, dass mir jemand in die Quere kommt.«

»Sie haben es noch nicht?«

Er schüttelte den Kopf. »Aber es existiert und ich werde es finden.«

»Woher wissen Sie, dass es existiert?«

Er lächelte. »Sagen Sie es mir. Ich sehe Ihnen an, dass Sie drauf und dran sind.«

Sie schwieg einen Augenblick lang. »Cira und Antonio sind von Kent aus hierher nach Schottland gekommen. Es war ein wildes, von Kriegen geschütteltes Land, und Cira war immer noch auf der Flucht vor Julius. Sie haben beschlossen, ins Inland zu gehen, tief in die Highlands hinein. Dort würden sie sich verstecken und abwarten können, bis die Luft rein war und sie sich ein Leben in dem Stil einrichten konnten, den Cira sich immer gewünscht hatte.«

»Und? Haben sie es geschafft?«

»Davon bin ich überzeugt. Aber sie musste vorsichtig sein, und von ein paar Goldmünzen konnte man in so einem primitiven Land lange leben. Sie werden nicht viel von ihrem Goldschatz gebraucht haben, um sich ein angenehmes, im Vergleich zu den wilden Schotten sogar luxuriöses Leben leisten zu können. Hab ich Recht, MacDuff?«

Er hob die Brauen. »Klingt plausibel. Ich würde sagen, Sie liegen ganz richtig.«

»Wissen Sie es denn nicht?«

Eine ganze Weile sah er sie schweigend an, dann nickte er lächelnd. »Sie hätten nur einen Bruchteil von ihrem Schatz gebraucht, und Cira war eine äußerst kluge Frau.«

»Ja, das war sie.« Jane erwiderte sein Lächeln. »Und sie ist hier geblieben und hat es sich gut gehen lassen. Die beiden haben ihre Namen geändert und eine Familie gegründet. Ihren Nachkommen muss es hier gefallen haben, denn sie sind nie an die Küste gezogen, selbst als es nicht mehr gefährlich war. Bis Angus im Jahre 1350 beschloss, diese Festung bauen zu lassen. Warum hat er das wohl getan, MacDuff?«

»Er war schon immer ein abenteuerlustiger Mann gewesen. Er wollte sein eigener Herr sein und sich einen Namen machen. Ich kann das verstehen. Sie nicht?«

»Doch. Wann haben Sie von Ciras Geschichte erfahren? War das auch ein altes Familiengeheimnis?«

»Nein. Cira muss Herkulaneum endgültig den Rücken gekehrt haben, als sie sich in den Highlands niedergelassen hat. Es gibt keine Berichte über römische Gelage. Keine Geschichten aus Italien, die vom Vater an den Sohn weitergegeben wurden. Es war, als wären sie hier aus dem Boden gewachsen und hätten ihn sich zu Eigen gemacht. Angus und Torra waren frei und abenteuerlustig und manchmal genauso wild wie die Einheimischen.«

»Torra?«

»Es bedeutet von der Burg. Ein passender Name, den Cira für sich gewählt hat, und er spiegelt ihre Absichten wider.«

»Und Angus?«

»Er war der erste Angus. Der Name ist nicht allzu weit weg von Antonio.«

»Wenn dies keine Geschichten sind, die in Ihrer Familie erzählt werden, woher wissen Sie dann das alles über Cira?«

»Sie haben es mir erzählt.«

»Wie bitte?«

»Sie, Eve Duncan und Trevor. Ich habe die Geschichte in den Zeitungen gelesen.«

Sie starrte ihn ungläubig an.

Er lachte. »Sie glauben mir nicht? Es ist die Wahrheit. Soll ich es Ihnen beweisen?« Er nahm eine der beiden Laternen und ging zu einem der mit Tüchern bedeckten Gegenstände hinüber. »Das Leben geht manchmal seltsame Wege. Doch das war ein bisschen zu seltsam.« Er zog das Tuch weg und zum Vorschein kam ein Gemälde. Als er es umdrehte, so dass sie es betrachten konnte, sah sie, dass es sich um ein Porträt handelte. »Fiona.«

»Mein Gott.«

Er nickte. »Ihr Ebenbild.«

Er trat einen Schritt zurück und hielt die Laterne etwas höher.

Die Frau auf dem Bild war jung, etwa Anfang zwanzig, und mit einem tief ausgeschnittenen roten Gewand bekleidet. Sie lächelte nicht, sondern blickte beinahe ungeduldig in die Welt. Ihre Vitalität und Schönheit waren jedoch unverkennbar. »Cira.«

»Und Sie.« Er zog die Tücher von den anderen Gemälden. »Auf keinem anderen Bild ist die Ähnlichkeit so frappierend wie auf dem Porträt von Fiona, dennoch verraten die Gesichtszüge die Verwandtschaft.« Er zeigte auf einen Mann, der im Tudorstil gekleidet war. »Sein Mund hat die gleiche Form wie Ciras.« Er zeigte auf eine ältere Frau mit einem Nackenknoten und einer Lorgnette in der Hand. »Und die Wangenknochen wurden von Generation zu Generation weitervererbt. Cira hat ihren Nachfahren eindeutig ihren Stempel aufgedrückt.« Er verzog das Gesicht. »Nachdem ich den Mietvertrag mit Trevor abgeschlossen hatte, musste ich sämtliche Porträts abhängen.«

»Deswegen hängen all die Gobelins an den Wänden«, murmelte Jane. »Aber Sie haben überhaupt keine Ähnlichkeit mit ihr.«

»Vielleicht komme ich ja nach Antonio.«

»Vielleicht.« Sie ließ ihren Blick von Porträt zu Porträt wandern. »Unglaublich …«

»Das fand ich auch. Anfangs war ich nur neugierig. Dann habe ich angefangen, Nachforschungen anzustellen und mich intensiv mit der Familiengeschichte zu beschäftigen.«

»Und was haben Sie herausgefunden?«

»Nichts Konkretes. Cira und Antonio haben ihre Spuren gründlich verwischt. Bis auf einen alten, halb zerfledderten Brief, den ich zwischen Papieren entdeckt habe, die Angus aus den Highlands mitgebracht hat. Eigentlich war es eine Schriftrolle in einem bronzenen Behälter.«

»Von Cira?«

»Nein, von Demonidas.«

»Unmöglich.«

»Es war ein sehr interessanter Brief. Sie werden sich freuen zu hören, dass er nicht an Pia, sondern an Cira adressiert war. Der Inhalt war in blumige Worte gefasst, doch im Prinzip handelt es sich um einen Erpresserbrief. Als Demonidas nach Herkulaneum zurückkehrte, hat er offenbar Wind davon bekommen, dass Julius nach Cira suchen ließ, und da hat er wohl beschlossen auszutesten, ob er von Cira mehr Geld bekommen konnte als von Julius, wenn er dem verriet, wo sie steckte. Für die Geldübergabe hat er Cira und Antonio einen Treffpunkt vorgeschlagen. Ein großer Fehler. Man hat nie wieder etwas von Demonidas gehört.«

»Außer dass sein Logbuch aufgetaucht ist.«

»Das stammt aus einer früheren Zeit, genauer gesagt, drei Jahre, bevor er auf die Idee kam, sich an Cira und Antonio gesundzustoßen. Er muss es in seinem Haus in Neapel zurückgelassen haben. Doch als ich von seiner Existenz erfuhr, wusste ich sofort, dass ich versuchen musste, es an mich zu bringen. Ich wusste nicht, was es enthielt, aber ich wollte nicht riskieren, dass irgendjemand Cira mit meiner Familie in Verbindung bringt.«

»Warum nicht?«

»Das Gold. Es gehört mir, und daran wird sich auch nichts ändern. Niemand sollte erfahren, dass es nicht in Herkulaneum zu finden ist. Wenn die anderen auch nur die geringste Chance wittern, dass es hier ist, werden sie die ganze Burg auseinander nehmen.«

»Und würden sie es finden?«

»Das weiß ich nicht. Ich habe es noch nicht gefunden.«

»Woher wissen Sie, dass nicht einer von Ciras Nachkommen es längst gefunden und verjubelt hat?«

»Das kann ich natürlich nicht mit Sicherheit sagen. Aber in unserer Familie hat es schon immer Geschichten von verlorenen Schätzen gegeben. Sie sind ziemlich vage, eher Märchen als etwas anderes, und ich habe mich nie besonders dafür interessiert. Ich war zu sehr mit dem realen Leben beschäftigt.«

»Im Gegensatz zu Grozak und Reilly.« Sie betrachtete das Porträt von Fiona. MacDuffs Ahnfrau mochte eine Menge Strapazen und Trübsal erlebt haben, aber Jane bezweifelte, dass sie sich mit Monstern hatte herumplagen müssen, die keine Achtung vor dem Leben und der Würde eines Menschen hatten.

»Sie zittern ja«, sagte MacDuff barsch. »Es ist kalt hier. Wenn Sie schon vorhatten, in Angus’ Festung einzudringen, warum haben Sie sich dann keine Jacke übergezogen, Herrgott noch mal?«

»Ich hab nicht drüber nachgedacht. Ich bin einem spontanen Impuls gefolgt.«

»Wie immer.« Er trat an den Sekretär und öffnete eine Schublade. »Aber diesmal kann ich Ihnen helfen.« Er nahm eine Flasche Brandy aus der Schublade und füllte zwei Gläser. »Ich brauche auch hin und wieder ein Tröpfchen davon, wenn ich die Nacht über arbeite.«

»Es überrascht mich, dass Sie das zugeben.«

»Meine Fehler gebe ich immer zu.« Grinsend reichte er ihr ein Glas. »Auf diese Weise kann ich jeden mit dem Ausmaß an Talent und Erfolg beeindrucken.«

»Und mit Ihrer unglaublichen Bescheidenheit.« Sie trank den Brandy und verzog das Gesicht, als der Alkohol ihr in der Kehle brannte. Aber einen Augenblick später wurde ihr wärmer und sie fühlte sich besser. »Danke.«

»Noch einen Schluck?«

Sie schüttelte den Kopf. Eigentlich wusste sie gar nicht, warum sie überhaupt das erste Glas getrunken hatte. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihm trauen konnte, immerhin hatte er ihr von vornherein erklärt, dass niemand von der Verbindung seiner Familie zu Cira erfahren durfte. Er war ein zäher, skrupelloser Mistkerl, und sie musste damit rechnen, dass er Gewalt anwendete. Trotzdem trank sie Brandy mit ihm und fühlte sich sogar wohl dabei. »Eigentlich hatte es nichts mit der Kälte zu tun.«

»Ich weiß.« Er leerte sein Glas mit einem Schluck. »Sie haben harte Zeiten durchgemacht. Doch Brandy hilft nicht nur gegen Kälte.« Er nahm ihr Glas und stellte es auf dem Sekretär ab. »Und er wird Sie mir gegenüber gnädiger stimmen.«

»Von wegen.«

»Ein kleiner Scherz.« Seine Augen funkelten. »Ich würde Sie nie als gnädig beschreiben.« Er räumte die Gläser und den Brandy weg. »Sie werden Trevor also erzählen, dass ich auf seinem Goldschatz hocke?«

»Sie betrachten es doch als Ihren Goldschatz.«

»Aber Trevor ist der Meinung, dass ein Schatz dem gehört, der ihn findet. Und so werden es die meisten Leute sehen, wenn man die Katze einmal aus dem Sack lässt.«

»Sie brauchen keinem Fremden Zutritt zu Ihrer Burg zu gewähren.«

»Und wenn das Gold nicht im Schloss versteckt ist? Das glaube ich nämlich nicht. Ich suche schon lange nach einer Spur oder einem Hinweis auf das Gold, und ich kenne die Burg wie meine Westentasche. Natürlich könnte es irgendwo auf meinen Ländereien vergraben sein oder in den Highlands, wo Angus gelebt hat, bevor er hierher kam.«

»Es könnte auch sein, dass es überhaupt nicht existiert.«

Er nickte. »Doch dagegen sträube ich mich. Cira würde nicht wollen, dass ich aufgebe.«

»Cira ist vor zweitausend Jahren gestorben.«

Er schüttelte den Kopf. »Sie ist hier. Spüren Sie es nicht? Solange ihre Familie existiert, solange die Burg steht, wird sie weiterleben.« Ihre Blicke begegneten sich. »Und ich glaube, das wissen Sie.«

Sie wandte sich ab. »Ich muss zurück in die Burg. Trevor wird sich schon fragen, wo ich stecke. Ich habe ihm nicht gesagt, wohin ich wollte.«

»Und wahrscheinlich hat er Sie auch nicht gefragt, weil er Ihre Unabhängigkeit respektiert. Er ist sich Ihrer immer noch nicht sicher. Obwohl er es gern wäre.«

»Ich habe nicht die Absicht, mit Ihnen über Trevor zu sprechen.«

»Weil Sie sich seiner auch nicht sicher sind. Sex ist nicht alles.« Er lachte. »Auch wenn es schon eine ganze Menge ist. Ist die Verbundenheit da, Jane? Gibt er Ihnen das, was Cira Pia gewünscht hat? Wie hat sie sich ausgedrückt? Samtene Nächte und silberne Morgenstunden? Haben Sie das Gefühl, dass Sie der wichtigste Mensch in seinem Leben sind? Das brauchen Sie nämlich.«

»Sie haben doch keine Ahnung, was ich brauche.«

»Warum kommt es mir dann so vor, als wüsste ich es?«

»Vielleicht pure Anmaßung?« Sie ging zur Tür. »Halten Sie sich aus meinen Angelegenheiten raus, MacDuff.«

»Das kann ich nicht.« Er ließ einen Augenblick verstreichen. »Fragen Sie mich, warum, Jane.«

»Das interessiert mich nicht.«

»Doch. Aber Sie fürchten sich vor dem, was ich sagen werde. Ich sage es trotzdem. Ich kann mich nicht aus Ihren Angelegenheiten heraushalten, weil es gegen meine Natur ist und weil es gegen meine Erziehung verstößt.«

»Inwiefern?«

»Ist Ihnen das immer noch nicht klar?«, fragte er. »Sie sind eine von meinen Leuten.«

Sie blieb wie angewurzelt stehen. »Wie bitte?«

»Sehen Sie sich Fiona noch einmal genauer an.«

Langsam drehte sie sich um und schaute nicht das Porträt, sondern ihn an. »Fiona?«

»Fiona hat Ewan MacGuire geheiratet, als sie fünfundzwanzig Jahre alt war, und ist mit ihm in die Lowlands gezogen. Sie hat ihm fünf Kinder geboren, die Familie hat bis Ende des achtzehnten Jahrhunderts in Wohlstand gelebt. Danach brachen für Fionas Nachkommen harte Zeiten an. Zwei junge Männer verließen ihre Heimat, um ihr Glück zu suchen, und einer von ihnen, Colin MacGuire, ging im Jahr 1876 an Bord eines Schiffes, das ihn nach Amerika brachte. Man hat nie wieder von ihm gehört.«

Sie starrte ihn benommen an. »Zufall.«

»Sehen Sie sich das Porträt an, Jane.«

»Ich brauche mir das Porträt nicht anzusehen. Sie sind verrückt. Es gibt Tausende von MacGuires in den Vereinigten Staaten. Ich weiß noch nicht mal, wer mein Vater war. Und ich bin mir verdammt sicher, dass er keiner von Ihren Leuten war.«

»Sie sind es, solange Sie mir nicht das Gegenteil beweisen.« Seine Mundwinkel zuckten. »Ich glaube fast, Sie denken abfällig über das Haus MacDuff. Sie wollen lieber ein Bastard sein als ein Mitglied unserer Familie.«

»Haben Sie erwartet, ich würde mich geehrt fühlen?«

»Nein, aber ich habe mit mehr Großmut gerechnet. Wir sind kein so übles Völkchen und wir halten immer zusammen.«

»Ich brauche niemanden, der zu mir hält.« Sie drehte sich auf dem Absatz um. »Sie können mich mal, MacDuff.«

Sie hörte ihn laut lachen, als sie durch den engen Gang auf die Stufen zurannte, die hinauf in den Stall führten. Sie war verwirrt und schockiert und … wütend. Die Wut hatte sie überraschend überfallen, sie wusste gar nicht, warum – Doch, sie wusste, warum sie wütend war. Sie war ihr Leben lang allein gewesen, stolz auf ihre Unabhängigkeit, die aus der Einsamkeit geboren war. Das, was MacDuff ihr nun eröffnet hatte, führte nicht dazu, dass sie sich geborgen und aufgehoben fühlte. Nein, es war, als nähme man ihr etwas weg.

Zur Hölle mit ihm. Wahrscheinlich hatte er sich diese Geschichte mit der Verwandtschaft bloß ausgedacht, um das verdammte Gold in der Familie zu halten, um zu verhindern, dass sie Trevor davon erzählte.

Und was würde sie tun? Wie viel würde sie Trevor offenbaren?

Warum zog sie überhaupt in Erwägung, ihm nicht die ganze Wahrheit zu sagen?

Natürlich würde sie ihm alles erzählen. Bis auf den Schwachsinn von ihrer angeblichen Verwandtschaft mit MacDuff. Was Trevor unternahm, um Ciras Gold zu finden, war seine Sache, sie würde ihm keine Steine in den Weg legen, weil er sich an ihrem Familienschatz vergreifen könnte.

Sie hatte keine Familie außer Eve und Joe. Und sie hatte es nicht nötig, einen anmaßenden, herablassenden MacDuff in ihr Leben zu lassen.

Herablassend war nicht ganz das richtige Wort. MacDuff war nicht – Sie hatte keine Lust, sich über MacDuff den Kopf zu zerbrechen. Das irritierte sie nur, und im Moment hatte sie mit ihrem emotionalen Chaos schon genug zu tun.

Sie hatte den Burghof erreicht und sah Trevor auf den Stufen vor dem Eingang stehen.

Samtene Nächte und silberne Morgenstunden.

MacDuff konnte ihr den Buckel runterrutschen. Der Sex mit Trevor war wunderbar, und er war ein Mann, der sie sowohl intellektuell als auch körperlich stimulierte. Das war alles, was sie brauchte und wollte.

Sie ging schneller. »Ich muss dir was erzählen. Ich hab Ciras Brief gefunden. Kein Wunder, dass Mario uns nicht erzählen wollte, was darin stand …«

 

»Was soll ich deiner Meinung nach tun?«, fragte Trevor ruhig, nachdem sie geendet hatte.

»Wegen des Goldes? Was immer du für richtig hältst«, sagte Jane. »Du suchst schon so lange danach. Dein Freund Pietro ist in dem Tunnel ums Leben gekommen, als ihr gemeinsam versucht habt, es zu finden.«

»Manch einer würde behaupten, MacDuff hätte verdient, es zu finden, weil es praktisch seiner Familie gehört.«

»Ja. Und wie siehst du das?«

»Er hat es verdient, wenn er es findet und in seinen Besitz bringen kann.«

»Er meinte, dass du so was Ähnliches sagen würdest.«

»Er ist ein einfühlsamer Mann.« Trevor überlegte. »Wenn du nicht willst, werde ich nicht weiter danach suchen. Schließlich ist es nichts weiter als Geld.«

»Red nicht solchen Quatsch. Es ist ein Vermögen.« Sie ging die Treppe hinauf. »Und du wirst dich schon selbst entscheiden müssen. Ich will mich nicht dafür verantwortlich fühlen, dich in die eine oder andere Richtung beeinflusst zu haben. Es hängt mir zum Hals raus, mich verantwortlich zu fühlen.«

»Und ich bin es leid, unverantwortlich zu handeln. Meinst du nicht, wir würden uns gut ergänzen?«

Ein seltsames Glücksgefühl überkam sie, gefolgt von Argwohn. »Was willst du damit sagen?«

»Du weißt genau, was ich damit sagen will. Du traust dich bloß nicht, es zuzugeben. Also, ich bin über diesen Punkt hinaus. Du wirst mich einfach einholen müssen. Wie hast du dich gefühlt, als du dachtest, ich wäre von der Landmine in Stücke gerissen worden?«

»Schrecklich. Verängstigt. Leer«, sagte sie langsam.

»Gut. Immerhin ein Fortschritt.« Er nahm ihre Hand und küsste ihre Handfläche. »Ich weiß, dass ich dich dränge. Ich kann nicht anders. Ich habe dir Jahre an Erfahrung voraus, und ich weiß, was ich will. Du wirst dich damit auseinander setzen müssen. Du weißt nicht, ob du dem, was zwischen uns ist, trauen kannst.« Er lächelte. »Und es ist meine Aufgabe, dir zu zeigen, dass dieses Gefühl nie wieder aufhören wird. Bei mir nicht, und, wie ich hoffe, bei dir auch nicht. Ich werde dir auf den Fersen bleiben und dich bei jeder Gelegenheit verführen, bis du einsiehst, dass wir ohne einander nicht mehr leben können.« Er küsste noch einmal ihre Handfläche. »Was hast du vor, wenn du von hier weggehst?«

»Ich fahre nach Hause, um bei Eve und Joe zu sein. Ich werde zeichnen und mich ausruhen und alles vergessen, was mit MacDuff’s Run zu tun hat.«

»Und darf ich dich begleiten?«

Sie schaute ihn an, und wieder überkam sie dieses seltsame Glücksgefühl. Sie küsste ihn kurz und leidenschaftlich, dann sagte sie: »Gib mir eine Woche Zeit. Dann darfst du nachkommen.«

 

MacDuff erwartete sie im Burghof, als der Hubschrauber zwei Stunden später landete.

»Sie reisen ab? Ich nehme an, Sie kündigen Ihren Mietvertrag, Trevor?«

»Ich habe mich noch nicht entschieden. Freuen Sie sich nicht zu früh. Es könnte sein, dass ich eine Basisstation brauche, falls ich mich dazu entschließe, weiter nach dem Gold zu suchen. Und MacDuff’s Run würde mir da sehr gelegen kommen.«

»Oder auch nicht.« MacDuff deutete ein Lächeln an. »Meine Burg, meine Leute, und beim nächsten Mal werde ich nicht den roten Teppich ausrollen. Es könnte sehr ungemütlich für Sie werden.« Er wandte sich an Jane. »Passen Sie auf sich auf. Ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen.«

»Machen Sie sich keine Hoffnung. Ich fahre nach Hause zu Eve und Joe.«

»Schön. Das wird Ihnen gut tun. Ich reise ebenfalls ab. Ich muss zurück nach Idaho, um Jock zu suchen.«

»Venable könnte Ihnen zuvorkommen«, sagte Trevor, während er in den Hubschrauber stieg.

MacDuff schüttelte den Kopf. »Ich brauche nur in Hörweite zu gelangen, dann wird Jock zu mir kommen. Ich bin nur zurückgekommen, um Robert Cameron zu holen. Er hat in der Armee unter mir gedient, und er ist der beste Spurenleser, den ich kenne.«

»Noch einer von Ihren Leuten?«, fragte Jane trocken.

»Ja. Seine Leute zu haben ist manchmal ganz praktisch.« Er wandte sich zum Gehen. »Das werden Sie auch noch feststellen.«

»Das bezweifle ich. Aber viel Glück mit Jock.« Sie folgte Trevor in den Hubschrauber.

»Ich gebe Ihnen Bescheid, wenn ich ihn gefunden habe«, rief MacDuff ihr nach.

»Woher wollen Sie wissen, ob ich nicht als Erstes bei Venable anrufe? Sie machen mich zur Komplizin.«

Er lächelte. »Sie werden ihn nicht anrufen. Blut ist dicker als Wasser. Jock ist ein Verwandter von Ihnen.«

»Von wegen. Und ich bin auch nicht mit Ihnen verwandt.«

»Doch, das sind Sie – wenn auch sehr entfernt. Ich würde meine DNA darauf verwetten.« Er zwinkerte ihr zu und salutierte. »Gott sei Dank.«

Empört und frustriert schaute sie ihm nach, als er auf den Stall zuging. Er wirkte selbstsicher, von sich eingenommen und absolut zu Hause in seiner alten Burg. Der alte Angus hatte bestimmt genau dieselbe überhebliche Art gehabt.

»Jane?« Trevor war zurück an die Tür des Hubschraubers gekommen.

Sie riss ihren Blick von dem verdammten alten Schotten los und stieg die letzten Stufen hinauf. »Ich komme.«

 

»Du Bastard«, sagte Cira mit zusammengebissenen Zähnen. »Das hast du mir eingebrockt.«

»Ja.« Antonio küsste ihre Hand. »Verzeihst du mir?«

»Nein. Ja. Vielleicht.« Sie schrie, als die nächste Wehe kam. »Nein!«

»Die Frau aus dem Dorf sagt, das Kind kommt in ein paar Minuten. Es ist nichts Ungewöhnliches, dass es bei der ersten Geburt so lange dauert. Sei tapfer.«

»Ich hin tapfer. Seit sechsunddreißig Stunden versuche ich, dieses Kind zu gebären, und du wagst es, mir zu sagen, ich soll tapfer sein? Während du so selbstgefällig und bequem dasitzt? Du hast keine Ahnung, was Schmerzen sind. Mach, dass du rauskommst, sonst dreh ich dir den Hals um.«

»Nein, ich bleibe bei dir, bis das Kind da ist.« Antonio drückte ihr die Hand. »Ich habe dir versprochen, dich nie wieder zu verlassen.«

»Ich wünschte, du hättest dein Versprechen gebrochen, bevor dieses Kind gezeugt wurde.«

»Meinst du das ernst?«

»Nein, natürlich nicht.« Cira biss sich auf die Lippe, als die nächste Wehe sich ankündigte. »Bist du verrückt? Ich will dieses Kind. Ich will nur die Schmerzen nicht. Es muss eine bessere Methode für Frauen geben, Kinder auf die Welt zu bringen.«

»Du wirst dir bestimmt etwas einfallen lassen.« Seine Stimme zitterte. »Aber ich wäre dankbar, wenn du erst einmal diese Geburt hinter dich bringen würdest.«

Er hatte Angst, dachte sie dumpf. Antonio, der niemals zugeben würde, dass er sich vor etwas fürchtete, hatte jetzt Angst. »Du glaubst, dass ich sterben werde.«

»Nein, auf keinen Fall.«

»Da hast du Recht, auf keinen Fall. Ich beklage mich, weil ich ein Recht dazu habe, und es ist nicht fair, dass Frauen immer die Kinder kriegen müssen. Ihr könntet auch euren Teil dazu beitragen.«

»Das würde ich, wenn ich könnte.«

Seine Stimme klang schon wieder ein wenig fester.

»Aber wenn ich’s mir recht überlege – ich glaube, ich könnte nie wieder mit dir schlafen, wenn du plötzlich einen dicken Bauch hättest. Es würde einfach lächerlich aussehen. Und du selbst würdest den Anblick auch nicht ertragen.«

»Du warst wunderschön als Schwangere. Du bist immer wunderschön.«

»Du lügst.« Sie bäumte sich unter der nächsten Wehe auf. »Dieses Land ist hart und kalt und es macht Frauen das Leben schwer. Aber es wird mich nicht unterkriegen. Ich werde es mir aneignen. Genauso wie dieses Kind. Ich werde es gebären und ihm alles geben, was ich nicht hatte.« Sie streichelte zärtlich Antonios Wange.»Ich bin froh, dass ich dich habe, Antonio. Samtene Nächte und silberne Morgenstunden. Ich habe Pia gesagt, sie soll danach streben, doch es gibt so viel mehr.« Sie schloss die Augen. »Die andere Hälfte des Kreises …«

»Cira!«

»Bei den Göttern, Antonio.« Sie öffnete die Augen. »Ich habe dir versprochen, nicht zu sterben. Ich bin nur müde. Ich habe keine Zeit mehr, dich zu trösten. Sei jetzt still und geh weg, damit ich dieses Kind auf die Welt bringen kann.«

»Ich werde still sein.«

»Gut. Ich bin froh, dass du bei mir bist …«

 

MacDuff meldete sich nach dem fünften Läuten. Er wirkte verschlafen.

»Wie viele Kinder hatte Cira?«, fragte Jane.

»Wie bitte?«

»Hatte sie nur ein Kind? Ist sie bei der Geburt gestorben?«

»Warum wollen Sie das wissen?«

»Sagen Sie’s mir.«

»Nach der Familienlegende hatte sie vier Kinder. Ich weiß nicht, wie sie gestorben ist, aber sie ist sehr alt geworden.«

Jane atmete erleichtert auf. »Danke.« Dann kam ihr plötzlich ein Gedanke. »Wo sind Sie?«

»In Kanada.«

»Haben Sie Jock schon gefunden?«

»Noch nicht. Aber ich werde ihn finden.«

»Tut mir Leid, dass ich Sie geweckt habe. Gute Nacht.«

MacDuff lachte in sich hinein. »War mir ein Vergnügen. Freut mich zu hören, dass Sie an uns denken.« Er legte auf.

»Alles in Ordnung?« Eve stand in der Tür zu Janes Zimmer.

»Ja, alles in Ordnung. Ich musste nur kurz etwas überprüfen.«

»Um diese Zeit?«

»Es erschien mir dringend.« Sie stand auf und zog ihren Morgenmantel über. »Komm. Wo wir schon beide wach sind, können wir uns auch eine Tasse Kakao machen. Du arbeitest so viel, dass ich kaum dazu gekommen bin, mich mit dir zu unterhalten, seit ich wieder hier bin.« Sie verzog das Gesicht. »Daran bin ich natürlich zum Teil selbst schuld. Ich gehe früh ins Bett und schlafe morgens lange. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Ich komme mir vor, als hätte mir jemand ein Schlafmittel verabreicht.«

»Das ist die Erschöpfung. Die Nachwirkungen von Mikes Tod, ganz zu schweigen von dem, was du in Idaho erlebt hast.« Sie folgte Jane in die Küche. »Ich bin froh, dass du dich zur Abwechslung mal richtig ausruhst. Wann willst du wieder zurück an die Uni?«

»Bald. Ich habe viel zu viel gefehlt in diesem Semester. Ich muss eine Menge nachholen.«

»Und dann?«

»Weiß noch nicht.« Sie lächelte. »Vielleicht bleibe ich einfach hier, bis ihr mich rauswerft.«

»Damit kannst du mich nicht schrecken. Joe und ich haben dich gern hier.« Sie löffelte Kakaopulver in zwei Tassen. »Aber ich glaube kaum, dass wir das Vergnügen haben werden.« Sie füllte die Tassen mit heißem Wasser. »Hast du wieder geträumt, Jane?«

Sie nickte. »Aber diesmal war es kein Albtraum.« Sie zog die Nase kraus. »Es sei denn, du würdest eine Geburt als Albtraum bezeichnen.«

Eve schüttelte den Kopf. »Nein, es ist ein Wunder.«

»Ich dachte, die Träume würden aufhören, wenn Cira aus dem Tunnel raus ist. Aber anscheinend muss ich damit leben, dass sie immer da ist.«

Eve reichte Jane eine Tasse.»Und das beunruhigt dich?«

»Nein, eigentlich nicht. Sie ist mir über die Jahre eine gute Freundin geworden.« Sie ging zur Veranda. »Manchmal lässt sie mich allerdings hängen.«

»Zumindest verstören die Träume dich nicht mehr.« Eve setzte sich auf das Verandageländer. »Früher wolltest du nie darüber reden.«

»Weil ich einfach nicht verstehen konnte, warum ich diese verflixten Träume hatte. Ich hatte einfach keine logische Erklärung dafür.«

»Und jetzt hast du eine?«

»Diesen Demonidas hat es nachweislich gegeben. Vielleicht ist er nicht nur in den Dokumenten erwähnt, die wir gefunden haben. Vielleicht habe ich irgendwo im Zusammenhang mit ihm etwas über Cira gelesen.«

»Oder auch nicht.«

»Du bist ja eine große Hilfe.«

»Wenn es stimmt, was MacDuff dir erzählt hat, wenn du tatsächlich eine Nachfahrin von Cira bist, dann liegt da vielleicht die Antwort.« Eve schaute auf den See hinaus. »Ich habe mal gelesen, dass es so was wie ein Familiengedächtnis gibt.«

»Und das schlägt sich in Träumen nieder? Das ist aber ziemlich weit hergeholt, Eve.«

»Etwas Besseres fällt mir nicht ein.« Sie holte tief Luft. »Du hast mir mal erzählt, du würdest dich fragen, ob Cira versucht, Kontakt mit dir aufzunehmen, um zu verhindern, dass ihr Gold für ein Verbrechen benutzt wird.«

»Da hab ich gesponnen.« Sie setzte sich auf die oberste Verandastufe und tätschelte Toby, der auf der Stufe unter ihr lag. »Seit Cira angefangen hat, mir ihre nächtlichen Besuche abzustatten, hab ich viel rumgesponnen. Aber das macht nichts, ich habe mich an sie gewöhnt. Als sie eine Zeit lang nicht gekommen ist, hat sie mir sogar gefehlt.«

»Das kann ich verstehen«, sagte Eve.

»Ich weiß.« Jane schaute sie an. »Du verstehst alles, was ich durchmache. Deswegen bist du auch die Einzige, mit der ich über alles reden kann.«

Eve schwieg einen Moment lang. »Und Trevor?«

Jane schüttelte den Kopf. »Das ist alles noch zu neu, zu frisch. Bei ihm wird mir immer ganz schwindlig vor Glück, und das ist keine gute Voraussetzung, um eine Beziehung zu analysieren.« Sie zögerte, dann sagte sie nachdenklich: »Cira hat von samtenen Nächten und silbernen Morgenstunden geschrieben. Damit meinte sie natürlich Sex, aber die silbernen Morgenstunden haben ihr mehr bedeutet als das. Ich versuche die ganze Zeit, dahinter zu kommen. Eine Beziehung, die die Art, wie man die Welt sieht, verändert?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich bin zu eigensinnig. Es würde wahrscheinlich sehr lange dauern, bis ich mir solche Gefühle gestatte.«

»Sehr lange.«

Jane wusste nicht, ob Eve damit sie oder ihre eigenen Erfahrungen meinte. »Vielleicht werde ich nie so weit kommen. Aber Cira war auch ziemlich eigensinnig, trotzdem war sie diejenige, die Pia gesagt hat, wonach sie streben soll.«

»Silberne Morgenstunden …« Eve stellte ihre Tasse auf dem Geländer ab und setzte sich neben Jane auf die Stufe. »Klingt schön, nicht?« Sie legte Jane einen Arm um die Schultern. »Frisch und sauber und hell in einer dunklen Welt. Ich wünsche dir, dass du sie eines Tages findest, Jane.«

»Ich habe sie schon gefunden.« Sie lächelte Eve an. »Du gibst mir jeden Morgen eine. Wenn es mir schlecht geht, munterst du mich auf, wenn ich verwirrt bin, hilfst du mir, klar zu denken, wenn ich glaube, dass es auf der Welt keine Liebe gibt, dann denke ich an die Jahre, die du mir geschenkt hast.«

Eve lachte in sich hinein. »Irgendwie habe ich nicht das Gefühl, dass Cira das gemeint hat.«

»Vielleicht nicht. Sie hatte ja auch keine Eve Duncan, deswegen wusste sie vielleicht nicht, dass nicht nur ein Geliebter einer Frau silberne Morgenstunden schenken kann, sondern auch eine Mutter, ein Vater, eine Schwester, ein Bruder, eine gute Freundin …« Sie lehnte ihren Kopf an Eves Schulter. Die nächtliche Brise war kühl, doch sie brachte den Duft von Fichten mit und die Erinnerung an all die Jahre, in denen sie so oft mit Eve hier auf der Veranda gesessen hatte. »Ja, vor allem eine gute Freundin. Auch eine gute Freundin kann einem helfen, die Welt mit anderen Augen zu sehen.«

»Das stimmt.«

Eine ganze Weile saßen sie schweigend da und schauten auf den See hinaus. Schließlich seufzte Eve und sagte: »Es ist schon spät. Wir sollten lieber reingehen.«

Jane schüttelte den Kopf. »Das ist viel zu vernünftig. Ich habe es satt, immer vernünftig zu sein. Mein Leben lang habe ich mich gezwungen, praktisch und rational zu sein, aber allmählich frage ich mich, ob ich nicht eine Menge verpasst habe. Pat, meine Mitbewohnerin im Studentenheim, sagt mir immer, wenn man zu fest mit beiden Füßen auf dem Boden steht, wird man nie tanzen können.« Sie lächelte Eve an. »Lass uns noch nicht ins Bett gehen. Lass uns warten, bis die Dämmerung kommt. Ich möchte sehen, ob sie silbern ist.«